OGH 11Os91/16s

OGH11Os91/16s13.9.2016

Der Oberste Gerichtshof hat am 13. September 2016 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner‑Foregger, Mag. Michel und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Rathgeb als Schriftführerin im Verfahren zur Unterbringung des Johann W***** in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB über die Beschwerde des Verteidigers des Betroffenen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 8. Juli 2016, GZ 222 Hv 29/16a‑40, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0110OS00091.16S.0913.000

 

Spruch:

Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Beschluss ersatzlos aufgehoben.

Gründe:

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 30. Mai 2016, GZ 222 Hv 29/16a‑35, wurde die Unterbringung des Johann W***** in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB angeordnet.

Nach Verkündung des Urteils und Rechtsmittelbelehrung durch den Vorsitzenden erklärte der Betroffene nach Rücksprache mit seinem Verteidiger auf Rechtsmittel zu verzichten (ON 34 S 7). Am 1. Juni 2016 langte beim Landesgericht für Strafsachen Graz ein Schriftsatz des Verteidigers mit einer Anmeldung der Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung ein (ON 37).

Mit dem angefochtenen Beschluss wies der Vorsitzende des Schöffensenats diese gemäß § 285a Z 1 StPO (iVm § 285b Abs 1 StPO) zurück (ON 40).

Gegen diesen Beschluss richtet sich die durch den Verteidiger erhobene Beschwerde (§ 285b Abs 2 StPO), die damit argumentiert, der Betroffene sei „nach wie vor unzurechnungsfähig“ und ein Rechtsmittelverzicht eines „völlig Unzurechnungsfähigen“ habe „keinerlei Wirksamkeit“.

Rechtliche Beurteilung

Zwar verkennt der Verteidiger, dass der materiell‑rechtliche Begriff der Zurechnungsunfähigkeit des § 11 StGB von der (strafrechtlichen) Prozessfähigkeit, also jener Fähigkeit, Prozesshandlungen selbstständig vorzunehmen und rechtserhebliche prozessuale Willenserklärungen abzugeben (Achammer, WK‑StPO § 7 Rz 19, Schwaighofer WK‑StPO § 275 Rz 9 f), ebenso zu unterscheiden ist wie von der strafprozessualen Verhandlungsfähigkeit, also die mit Blick auf die körperliche und geistige Verfassung zu beurteilende Fähigkeit, dem Verlauf der Verhandlung zu folgen, sich verständlich zu äußern und seine Rechte sinnvoll wahrzunehmen (Schwaighofer, WK‑StPO § 275 Rz 4, auch Rz 12; RIS‑Justiz RS0117395, RS0098977). Dem Verteidiger stehen aber, weil der Betroffene zum Zeitpunkt der Verhandlung und Urteilsfällung keinen Sachwalter als gesetzlichen Vertreter (mehr) hatte, gemäß § 431 Abs 3 (erster Fall) StPO dessen Rechte zu, darunter auch jenes, entgegen dem erklärten Willen des Betroffenen Rechtsmittel zu ergreifen (vgl § 431 Abs 2 StPO; Murschetz, WK-StPO § 430 Rz 9).

Der Beschwerde war daher Folge zu geben und der angefochtene Beschluss ersatzlos aufzuheben.

Das Erstgericht wird die bereits eingebrachte Nichtigkeitsbeschwerde des Verteidigers (ON 42) der Staatsanwaltschaft zur allfälligen Gegenausführung zuzustellen (§ 285b Abs 5 StPO) und danach mit einem die Rechtsmittelausführungen betreffenden Vorlagebericht dem Obersten Gerichtshof zu übermitteln haben.

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