European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:010OBS00053.16S.0719.000
Spruch:
Der Revision der beklagten Partei wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie zu lauten haben:
„Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der Klägerin ab 10. März 2011 eine Ausgleichszulage zu ihrer Pension zu gewähren, wird abgewiesen.“
Entscheidungsgründe:
Die am ***** 1959 geborene Klägerin, eine rumänische Staatsbürgerin, ist im Jänner 2011 – hauptsächlich wegen ihrer gesundheitlichen Probleme – auf Dauer von Rumänien zu ihrem Stiefsohn und dessen Familie nach Wien gezogen. Sie ist Eigentümerin eines nicht bewohnten und auch nicht vermietbaren Hauses (mit einer Nutzfläche von etwa 25 m²) in Rumänien. In Rumänien hat sie als Angehörige eine Stieftochter.
Vom rumänischen Versicherungsträger bezieht die Klägerin eine monatliche Rente in folgender monatlicher Euro-Höhe (umgerechnet nach dem Referenzkurs der EZB):
von 1. Februar 2011 bis 31. Dezember 2011 75,83 EUR, von 1. Jänner 2012 bis 31. Dezember 2012 74,40 EUR, von 1. Jänner 2013 bis 31. Dezember 2013 75,07 EUR, von 1. Jänner 2014 bis 31. Dezember 2014 78,90 EUR und ab 1. Jänner 2015 82,78 EUR.
Anderes Einkommen oder Vermögen hat die Klägerin nicht.
Die Klägerin erhielt am 23. September 2011 in Wien von der MA 35 eine Anmeldebescheinigung ausgestellt.
Mit Bescheid vom 28. November 2013 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin vom 10. März 2011 auf Gewährung einer Ausgleichszulage ab.
Das Erstgericht sprach der Klägerin mit Urteil vom 24. Juni 2015 (= gleichzeitig Zeitpunkt des Schlusses der Verhandlung in erster Instanz) eine Ausgleichszulage in einer monatlichen Höhe von 464,06 EUR für den Zeitraum von 10. März 2011 bis 31. Dezember 2011, in einer monatlichen Höhe von 480,07 EUR für den Zeitraum von 1. Jänner 2012 bis 31. Dezember 2012, in einer monatlichen Höhe von 494,92 EUR für den Zeitraum von 1. Jänner 2013 bis 31. Dezember 2013, in einer monatlichen Höhe von 504,77 EUR für den Zeitraum von 1. Jänner 2014 bis 31. Dezember 2014 und in einer monatlichen Höhe von 510,81 EUR ab 1. Jänner 2015 zu.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Da sich die Klägerin im Hinblick auf die aufrechte Anmeldebescheinigung rechtmäßig in Österreich aufhalte und dieser rechtmäßige Aufenthalt vom zuständigen Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl bis zum Schluss der Verhandlung in erster Instanz nicht beendet worden sei, habe sie in Österreich Anspruch auf Ausgleichszulage. Der Pensionsversicherungsträger und in der Folge das Gericht im sozialgerichtlichen Verfahren seien an das Nichtvorliegen einer aufenthaltsbeendigenden Entscheidung gebunden.
Die Revision sei zulässig, weil der Oberste Gerichtshof nach seiner Entscheidung vom 17. Dezember 2013 in der Rechtssache Brey (10 ObS 152/13w) noch keine Gelegenheit gehabt habe, zu den unterschiedlichen Meinungen in der Literatur und zu den Ausführungen des EuGH in den Rechtssachen Dano und Alimanovic Stellung zu nehmen. Die Frage der Verfahrenszuständigkeit zur Beurteilung des rechtmäßigen Aufenthalts als Anspruchsvoraussetzung für eine Ausgleichszulage sei eine Rechtsfrage von über den Einzelfall hinausgehender Bedeutung.
Rechtliche Beurteilung
Die von der Klägerin nicht beantwortete Revision der beklagten Partei ist zulässig, weil die Entscheidung des Berufungsgerichts von der jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (10 ObS 15/16b) abweicht; sie ist auch berechtigt.
In ihrer auf Abänderung im klageabweisenden Sinn gerichteten Revision macht die beklagte Partei (kurz zusammengefasst) geltend, dass eine von der Verwaltungsbehörde ausgestellte Anmeldebescheinigung keine die Gerichte bei der Prüfung des Erfordernisses des „rechtmäßigen Aufenthalts“ gemäß § 292 ASVG bindende Wirkung entfalte. Das Bestehen eines unionsrechtlichen Aufenthalts‑ und Niederlassungsrechts richte sich im Speziellen nach der Unionsbürger-Richtlinie 2004/38/EG. Da sich das Aufenthaltsrecht der Klägerin direkt aus dem Unionsrecht ergebe, würden keine Aufenthaltstitel rechtsbegründend erteilt, sondern vielmehr Dokumentationen ausgestellt. Bei der „Anmeldebescheinigung“ nach § 9 NAG handle es sich um eine rein deklaratorische Bestätigung bereits bestehender unionsrechtlicher Aufenthalts‑ und Niederlassungsrechte, weshalb das Gericht zur selbständigen Prüfung befugt sei, ob ein rechtmäßiger gewöhnlicher Aufenthalt der Klägerin im Sinne des § 292 ASVG vorliege.
Im Fall eines Aufenthalts für einen Zeitraum von über drei Monaten bis zu fünf Jahren (Art 7 Abs 1 lit b Unionsbürger‑RL) müsse der zuwandernde Unionsbürger nachweisen, dass er (im neuen Aufenthaltsstaat) über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfüge. Nach der Entscheidung des EuGH in der Rs Dano (anders als noch in der Rs Brey) sei eine konkrete Prüfung der wirtschaftlichen Situation des einzelnen Betroffenen vorzunehmen, ob er die von der Unionsbürger‑RL aufgestellten Voraussetzungen erfülle. Die Klägerin, der auch keine Eigenschaft als Erwerbstätige oder Arbeitssuchende zukomme, erfülle die von der Unionsbürger‑RL normierten Voraussetzungen nicht, weil sie seit dem Beginn ihres Aufenthalts in Österreich nicht über ausreichende Existenzmittel verfüge, um ein Aufenthaltsrecht nach Art 7 Abs 1 lit b der Richtlinie 2004/38/EG in Anspruch nehmen zu können.
Diesen Ausführungen kommt Berechtigung zu.
1. Der Oberste Gerichtshof hat sich in seiner Entscheidung vom 10. Mai 2016, 10 ObS 15/16b, unter Bezugnahme auf die jüngste EuGH-Rechtsprechung und die dazu veröffentlichte Literatur ausführlich mit den auch im vorliegenden Fall relevanten Rechtsfragen auseinandergesetzt.
Die Aussagen können folgendermaßen zusammengefassst werden:
1.1. Der EuGH hat in den Entscheidungen vom 19. September 2013, C‑140/12, Brey (ECLI:EU:C:2013:565), vom 11. November 2014, C‑333/13, Dano (ECLI:EU:C:2014:2358), vom 15. September 2015, C‑67/14, Alimanovic (ECLI:EU:C:2015:597), und vom 25. Februar 2016, C‑299/14, García-Nieto ua (ECLI:EU:C:2016:114), ausgesprochen, dass die Einstufung einer Leistung (wie der österreichischen Ausgleichszulage) als „beitragsunabhängige Sonderleistung“ im Sinne des Art 70 Abs 2 lit c der VO (EG) 883/2004 nicht ausschließt, dass die Leistung gleichzeitig auch unter den Begriff der Sozialleistungen im Sinn der Unionsbürger-richtlinie 2004/38/EG fallen kann und deshalb auch Art 24 der Unionsbürger‑RL zur Anwendung kommt.
1.2. Die Unionsbürger‑RL erlaubt es dem Aufnahmemitgliedstaat, wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürgern Beschränkungen in Bezug auf die Gewährung von Sozialleistungen aufzuerlegen, damit diese die Sozialhilfeleistungen dieses Staats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Diese Möglichkeit zur Einschränkung gilt auch für die österreichische Ausgleichszulage (EuGH C‑140/12, Brey [Rz 62]).
1.3. Eine Gleichbehandlung mit Inländern steht nur jenen wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürgern zu, deren Aufenthalt die Voraussetzungen der Unionsbürger‑RL erfüllt. Für wirtschaftlich nicht aktive Personen, die sich – wie die Klägerin im überwiegenden Anspruchszeitraum – länger als drei Monate, aber nicht mehr als fünf Jahre im Aufenthaltsmitgliedstaat aufhalten, hat dies zur Folge, dass sie die Voraussetzungen des Art 7 Abs 1 lit b der Unionsbürger‑RL erfüllen müssen.
Diese Bestimmung, die das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel und eines umfassenden Krankenversicherungsschutzes im Aufnahmemitgliedstaat verlangt, schlägt auch auf die Gleichbehandlungspflicht des Art 4 der VO (EG) 883/2004 durch.
1.4. Beginnend mit der Entscheidung in der Rs Dano (Rs C‑333/13, Rz 76 f) räumt der EuGH dem Aufnahmemitgliedstaat die Möglichkeit ein, im Rahmen der Prüfung des Sozialleistungsanspruchs die Erfüllung der Voraussetzungen der Unionsbürger‑RL zu prüfen und auf ihrer Grundlage den Sozialleistungsanspruch zu versagen, ohne dass es einer vorherigen Beendigung des Aufenthalts bedürfte (RIS‑Justiz RS0129251 [T2] – insofern anders noch OGH 10 ObS 152/13w). Unter Bezugnahme auf Erwägungsgrund 10 der Unionsbürger‑RL fordert der EuGH vom wandernden Unionsbürger, die Sozialsysteme des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen zu belasten (EuGH C‑333/13, Dano, Rz 71), wobei die wirtschaftliche Situation des einzelnen Betroffenen konkret zu prüfen ist.
1.5. In der darauffolgenden Entscheidung in der Rs C‑67/14, Alimanovic, ging der EuGH noch einen Schritt weiter und sah eine individuelle Prüfung gar nicht als erforderlich an, weil das in der Unionsbürger‑RL vorgesehene abgestufte System selbst verschiedene Faktoren berücksichtigt, die ihrerseits die persönlichen Umstände der antragstellenden Person widerspiegeln (EuGH C‑67/14, Alimanovic, Rz 59 ff).
Diese Linie wird im Urteil in der Rs C‑299/14, García‑Nieto ua, explizit bestätigt. Die noch in der Entscheidung in der Rs Brey geforderte Rücksichtnahme auf die Belastung der Sozialsysteme insgesamt wird ausdrücklich abgelehnt.
2. Im Ergebnis können EU‑Bürger, die – so wie die Klägerin – nicht erwerbstätig sind und nur zum Zweck eines Sozialleistungsbezugs (hier zumindest aus der Krankenversicherung) mobil sind, auf der Grundlage von Unionsrecht keine Ansprüche auf Sozialleistungen wie die Ausgleichszulage geltend machen.
3. Selbst eine Prüfung der besonderen Situation der Klägerin würde zu keinem anderen Schluss führen: Anders als etwa der Kläger Brey, der immerhin über mehr als 800 EUR monatlich an Eigenmitteln verfügte, fällt die Klägerin mit einem Rentenbezug in Höhe von rund 80 EUR monatlich eindeutig in die Kategorie der Armutszuwanderung; ein Aufenthalt in Österreich ist nur denkbar, wenn sie aus öffentlichen Kassen unterstützt wird. Ein Bezug zu einer Erwerbstätigkeit in Österreich fehlt.
4. Da sich eine Anmeldebescheinigung nur auf das Aufenthaltsrecht bezieht, hat ihre (im Übrigen nur deklarativ wirkende) Ausstellung keine Auswirkung auf den Sozialleistungsanspruch.
5. Ein Anspruch der Klägerin auf Ausgleichszulage ist daher auch für den Zeitraum ihres Aufenthalts in Österreich in einer Dauer von mehr als drei Monaten zu verneinen. Erst recht gilt dies nach Art 24 Abs 2 der Unionsbürger‑RL für den Zeitraum der ersten drei Monate des Aufenthalts (EuGH C‑299/14, García‑Nieto ua, Rz 44).
In diesem Sinn sind die Entscheidungen der Vorinstanzen abzuändern.
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