OGH 2Ob206/15f

OGH2Ob206/15f16.12.2015

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Danzl als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Veith und Dr. Musger, die Hofrätin Dr. E. Solé und den Hofrat Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei L* V*, vertreten durch Dr. Heinz‑Wilhelm Stenzel, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei U* AG, *, vertreten durch Dr. Peter Armstark, Rechtsanwalt in Wien, wegen 19.661,20 EUR sA und Feststellung (Streitwert 1.000 EUR), über die Revisionen der klagenden Partei (Revisionsinteresse 4.075,99 EUR sA und Feststellung [333,33 EUR]) und der beklagten Partei (Revisionsinteresse 2.038,33 EUR sA und Feststellung [166,67 EUR]) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 26. August 2014, GZ 11 R 133/15g‑77, womit infolge Berufungen beider Parteien das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 30. Juni 2015, GZ 26 Cg 12/14x‑69, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:E113338

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Beide Revisionen werden zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 447,98 EUR bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung (darin 74,66 EUR Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 373,68 EUR bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung (darin 62,28 EUR Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

Der Kläger wurde beim Überqueren der Straße von einem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Pkw angefahren und verletzt. Der Anprall ereignete sich auf einem in der Mitte der Fahrbahn liegenden Gleiskörper, der von den Fahrstreifen links und rechts (nur) durch Sperrlinien abgegrenzt war. Es handelte sich daher um keinen „selbständigen“ Gleiskörper iSv § 2 Abs 1 Z 14 StVO; die Vorinstanzen sprechen von einem „Gleistrog“.

Der Kläger, der wegen einer Behinderung langsamer ging als ein durchschnittlicher Fußgänger, überquerte die Straße etwa 20 m vom nächsten Schutzweg entfernt. Dieser Schutzweg lag an einer geregelten Kreuzung. Dort bog das Beklagtenfahrzeug nach rechts auf die vom Kläger überquerte Straße; dieser ging aus Sicht des Lenkers von rechts nach links. Der Lenker hatte seine Fahrlinie so gewählt, dass er mit der linken Seite seines Fahrzeugs die Sperrlinie überfuhr und dadurch den Gleiskörper in Anspruch nahm. Er hätte den Kläger bei entsprechender Aufmerksamkeit sehen und in diesem Fall die Kollision bei „prompter“ Reaktion durch Bremsen oder Ausweichen vermeiden können. Ob der Kläger (gemeint: vor Betreten der Fahrbahn) in Richtung Schutzweg geblickt und wo sich das Beklagtenfahrzeug zu diesem Zeitpunkt befunden hatte, konnte nicht festgestellt werden. Der Kläger sah das Fahrzeug jedenfalls erst, als es etwa 10 m von ihm entfernt war; hätte er vorher in diese Richtung geblickt, hätte er es „früher“ gesehen. Nachdem der Kläger das Fahrzeug wahrgenommen hatte, versuchte er seine Geschwindigkeit zu beschleunigen, war dazu aber wegen seiner Behinderung nicht in der Lage.

Die Vorinstanzen nahmen ein Mitverschulden des Klägers von einem Drittel an.

Das Berufungsgericht legte dem Lenker des Beklagtenfahrzeugs das Überfahren der Sperrlinie (§ 9 Abs 1 StVO) und eine Reaktionsverspätung zur Last, dem Kläger hingegen einen Verstoß gegen § 76 Abs 1, 5 und 6 StVO. Dies rechtfertige die vom Erstgericht vorgenommene Verschuldensteilung. Die Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil Rechtsprechung zur Frage fehle, ob das Verbot des Überfahrens einer Sperrlinie (§ 9 Abs 1 StVO) auch den Schutz von Fußgängern jenseits der Sperrlinie bezwecke.

Gegen diese Entscheidung richten sich Revisionen beider Parteien. Beide bekämpfen in erster Linie die Verschuldensteilung: Der Kläger strebt die volle Haftung der Beklagten an, die Beklagte ein Mitverschulden des Klägers von 50 %. Zur vom Berufungsgericht als erheblich bezeichneten Rechtsfrage bringt die Beklagte vor, dass der vom Berufungsgericht „weit gefasste Schutzzweck“ von § 9 Abs 1 StVO aufgrund der bisherigen Rechtsprechung „nicht zwingend anzunehmen“ sei.

Rechtliche Beurteilung

Beide Revisionen sind mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig; an den gegenteiligen Ausspruch des Berufungsgerichts ist der Oberste Gerichtshof nicht gebunden (§ 508a Abs 1 ZPO).

1. Zum Schutzzweck von § 9 Abs 1 StVO

1.1. Das Verbot des Überfahrens einer Sperrlinie (§ 9 Abs 1 StVO) dient nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich der Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer, die sich auf der Fahrbahn jenseits der Sperrlinie befinden (2 Ob 58/81, ZVR 1982/173; RIS‑Justiz RS0073408; zuletzt etwa 2 Ob 17/14k).

1.2. Weshalb dieser Schutzzweck nicht auch Fußgänger erfassen sollte, die einen jenseits einer Sperrlinie liegenden Teil der Fahrbahn erreicht haben, zeigt die Revision der Beklagten nicht auf. Zweifel bestehen insofern jedenfalls dann nicht, wenn Sperrlinien - wie hier - einen in der Mitte der Fahrbahn liegenden Gleisbereich abgrenzen, weswegen der Fußgänger dort im Normalfall nur mit Straßenbahnen, nicht aber mit anderen Fahrzeugen rechnen muss. Dieser Fall ist nicht anders zu beurteilen als das unzulässige Befahren von Gleisen, die an beiden Rändern einer Fahrbahn liegen. Auch insofern nahm der Oberste Gerichtshof an, dass das diesbezügliche Verbot (§ 7 Abs 1 Satz 2 StVO) auch einen Fußgänger schützt, der nach Überqueren der Fahrbahn in einen solchen Gleisbereich gelangt ist (2 Ob 210/69, ZVR 1970/190; 2 Ob 103/70; RIS‑Justiz RS0073563).

1.3. Die bisherige Rechtsprechung lässt somit im konkreten Fall eine sichere Beurteilung des Schutzzwecks von § 9 Abs 1 StVO zu. Eine erhebliche Rechtsfrage liegt daher entgegen der den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Auffassung des Berufungsgerichts nicht vor.

2. Zur Verschuldensteilung

2.1. Die Abwägung von Verschulden und Mitverschulden hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und begründet daher im Regelfall keine Rechtsfrage erheblicher Bedeutung (RIS‑Justiz RS0087606). Eine zur Wahrung der Rechtssicherheit aufzugreifende Fehlbeurteilung zeigen die Revisionen nicht auf.

2.2. Die Beklagte macht geltend, dass den „unvorsichtig die Straße überquerenden“ Fußgänger nach einzelnen Entscheidungen ein höheres Mitverschulden treffe. Sie übersieht dabei, dass eine Unachtsamkeit bei Betreten der Fahrbahn aufgrund der diesbezüglichen Negativfeststellung der Vorinstanzen ‑ ob der Kläger in Richtung Schutzweg geblickt und wo sich das Beklagtenfahrzeug zu diesem Zeitpunkt befunden hatte, konnte nicht festgestellt werden ‑ nicht erwiesen ist. Der festgestellte Beobachtungsfehler während des Überquerens der Fahrbahn wiegt auch zusammen mit dem Verstoß gegen § 76 Abs 6 StVO (Überqueren der Fahrbahn weniger als 25 m vom nächsten Schutzweg entfernt) nicht so schwer, dass zwingend ein höheres Mitverschulden angenommen werden müsste.

2.3. Der Kläger vertritt die Auffassung, dass sich derjenige, der unbefugt eine Sperrfläche befahre, nach 2 Ob 172/04i nicht auf seinen „Vorrang“ berufen könne. Daher treffe den Lenker des Beklagtenfahrzeugs das Alleinverschulden.

Die genannte Entscheidung beruhte allerdings ‑ wie zuletzt auch die Entscheidungen 2 Ob 197/13d und 2 Ob 56/15x ‑ darauf, dass der Geschädigte aufgrund der Umstände des Einzelfalls auf ein rechtmäßiges Verhalten des Unfallgegners vertrauen durfte (§ 3 StVO), weswegen ihm keine schuldhafte Vorrangverletzung zur Last fiel, wobei ihm zudem weder ein Beobachtungsfehler noch eine Reaktionsverspätung vorzuwerfen war. Hingegen hätte der Kläger im konkreten Fall das Beklagtenfahrzeug und damit dessen Fahrlinie schon früher (wenngleich erst während des Überquerens der Fahrbahn) erkennen können. Zudem war er wegen seiner eingeschränkten Gehfähigkeit zu besonderer Vorsicht verpflichtet, weswegen auch der Verstoß gegen § 76 Abs 6 StVO schwerer wiegt als sonst. Unter diesen Umständen ist die Annahme eines Mitverschuldens von einem Drittel vertretbar (vgl wiederum 2 Ob 103/70). Dass auch eine andere Beurteilung nicht ausgeschlossen wäre, kann die Zulässigkeit der Revision nicht begründen.

3. Aus diesen Gründen sind beide Revisionen mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage zurückzuweisen.

4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 50, 41 ZPO. Die Revisionsgegner haben jeweils auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen. Sie haben daher Anspruch auf Ersatz der Kosten der Revisionsbeantwortung.

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