OGH 10ObS111/15v

OGH10ObS111/15v15.12.2015

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden, die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und Mag. Korn sowie die fachkundigen Laienrichter ADir. Brigitte Augustin (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Harald Kohlruss (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*****, vertreten durch Dr. Heinz‑Dietmar Schimanko, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich-Hillegeist‑Straße 1, 1021 Wien, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm, Dr. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 27. August 2015, GZ 7 Rs 66/15z‑16, mit dem über Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 2. März 2015, GZ 22 Cgs 201/14d-13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:010OBS00111.15V.1215.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Begründung

Die beklagte Pensionsversicherungsanstalt lehnte mit Bescheid vom 5. 6. 2014 den Antrag des 1966 geborenen Klägers vom 24. 3. 2014 auf Weitergewährung der mit 30. 6. 2014 befristeten Berufsunfähigkeitspension ab. Zugleich wurde ausgesprochen, dass ab 1. 7. 2014 weiterhin vorübergehende Berufsunfähigkeit vorliege. Als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation bleibe der weitere Krankheitsverlauf abzuwarten. Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation seien nicht zweckmäßig. Ab 1. 7. 2014 bestehe für die weitere Dauer der vorübergehenden Berufsunfähigkeit Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung.

Der Kläger leidet an einer schweren depressiven Erkrankung, aufgrund derer er derzeit nicht in der Lage ist, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Es besteht aber die Möglichkeit, dass durch medizinische Rehabilitationsmaßnahmen die Arbeitsfähigkeit des Klägers wiederhergestellt wird. Die Besserbarkeit des Leistungskalküls des Klägers kann durch eine nervenfachärztliche Behandlung in ein- bis dreimonatigen Intervallen und durch eine regelmäßige Psychotherapie, die zumindest in 14‑tägigen Intervallen durchgeführt wird, erzielt werden. Für eine Besserung des Leistungskalküls ist von einem Zeitraum von zwei Jahren auszugehen. Welches Leistungskalkül der Kläger im Fall einer Besserung seines Gesundheitszustands erreichen kann, kann nicht festgestellt werden.

Das Erstgericht wies das auf (Weiter‑)Gewährung der Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 7. 2014 gerichtete Klagebegehren ab. Es traf im Wesentlichen die eingangs wiedergegebenen Feststellungen. Rechtlich führte es aus, dass der Kläger nicht dauerhaft berufsunfähig sei, weshalb kein Anspruch auf Berufsunfähigkeitspension bestehe. Ein darüber hinausgehendes Klagebegehren habe er trotz Aufforderung nicht gestellt.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge und bestätigte das Ersturteil mit der Maßgabe, dass es zusätzlich aussprach, dass ab 1. 7. 2014 weiterhin vorübergehende Berufsunfähigkeit vorliege. Aus den Feststellungen lasse sich eine dauernde Berufsunfähigkeit nicht ableiten. Soweit der Kläger daher davon ausgehe, dass keine hohe Wahrscheinlichkeit für eine Besserung des Gesundheitszustands und keine konkrete Möglichkeit der Besserung des Leistungskalküls feststünden, weshalb ein Anspruch auf unbefristete Berufsunfähigkeitspension bestehe, gehe er nicht vom festgestellten Sachverhalt aus.

Im Bescheid der beklagten Partei sei nicht nur über den Antrag auf Weitergewährung der Berufsunfähigkeitspension abgesprochen worden. Durch die Klage sei der gesamte Bescheid außer Kraft getreten. Nach § 71 Abs 2 ASGG sei der beklagten Partei die Bestreitung von im Bescheid zuerkannten Leistungen im Gerichtsverfahren verwehrt, diese seien in den Urteilsspruch aufzunehmen. Da der Kläger jedoch trotz Aufforderung durch das Erstgericht ausdrücklich nur die Gewährung einer unbefristeten Berufsunfähigkeitspension beantragt habe, stehe einem Zuspruch von Rehabilitationsgeld sowie der im Bescheid ohnehin nicht näher konkretisierten Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation § 405 ZPO entgegen.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei, weil erhebliche Rechtsfragen iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zu lösen seien.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers mit dem Antrag, dem Klagebegehren auf (Weiter‑)Gewährung der Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 7. 2014 stattzugeben. In eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragte in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig und im Sinn des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Der Kläger macht geltend, dass nach der auf ihn anzuwendenden Rechtslage nach dem SRÄG 2012 Voraussetzung einer unbefristeten Berufsunfähigkeitspension sei, dass Berufsunfähigkeit voraussichtlich dauerhaft vorliege, also eine Besserung seines Zustands nicht sehr wahrscheinlich sei. Das sei bei ihm der Fall, da das Erstgericht lediglich die bloße Möglichkeit einer Besserung festgestellt habe. Offen sei auch, ob überhaupt eine Besserung des Leistungskalküls eintreten werde. Damit sei nicht absehbar, ob er bei einer allfälligen Besserung seines Gesundheitszustands auch seine Berufsfähigkeit wiedererlange.

Dazu ist auszuführen:

1. Nicht strittig ist, dass der Anspruch des 1966 geborenen Klägers auf (Weiter‑)Gewährung der mit 30. 6. 2014 befristeten Berufsunfähigkeitspension nach der Bestimmung des § 271 Abs 1 Z 1 ASVG idF SRÄG 2012 (BGBl I 2013/3) zu beurteilen ist (vgl § 669 Abs 2 und Abs 6 ASVG).

2. Der Anspruch auf Berufsunfähigkeits-pension/Invaliditätspension setzt voraus, dass die Berufsunfähigkeit (§ 273 ASVG)/die Invalidität (§ 255 ASVG) aufgrund des körperlichen oder geistigen Zustands voraussichtlich dauerhaft vorliegt (§ 271 Abs 1 Z 1; § 254 Abs 1 Z 1 ASVG idF SRÄG 2012).

Der erkennende Senat hat bereits in den Entscheidungen 10 ObS 40/15b vom 30. 7. 2015 und 10 ObS 89/15h vom 2. 9. 2015 mit ausführlicher Begründung ausgesprochen, dass der Versicherte nicht beweisen muss, dass eine Besserung des Gesundheitszustands (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) ausgeschlossen ist (eine Besserung unmöglich oder an Gewissheit grenzend unwahrscheinlich ist), sondern nur, dass sie nicht sehr wahrscheinlich ist, damit feststeht, dass Berufsunfähigkeit (Invalidität) „voraussichtlich dauerhaft“ vorliegt.

Es reicht demnach nicht aus, dass irgendeine Besserungsmöglichkeit des Gesundheitszustands des Versicherten besteht, sondern entscheidend ist eine kalkülsrelevante, die Berufsunfähigkeit/Invalidität beseitigende Besserung (Panhölzl in DRdA 2011/18, 153 [156 f]). Bei Versicherten mit Berufsschutz muss sich daher das medizinische Leistungskalkül soweit bessern können, dass der (die) Versicherte eine berufsschutzerhaltende Tätigkeit verrichten kann.

3. Im Sinn der Entscheidungen 10 ObS 40/15b und 10 ObS 89/15h liegt Berufsunfähigkeit/Invalidität voraussichtlich dauerhaft dann vor, wenn eine die Berufsunfähigkeit/Invalidität beseitigende Besserung des Gesundheitszustands der versicherten Person mit hoher Wahrscheinlichkeit (im Sinn des Regelbeweismaßes der ZPO) nicht zu erwarten ist. Diesen Beweis einer anspruchsbegründenden Tatsache hat die versicherte Person zu erbringen (in diesem Sinn auch bereits 10 ObS 100/15a und 10 ObS 102/15w).

4. Das bedeutet aber, dass die zu § 256 Abs 2 ASVG ergangene Rechtsprechung, von der die Vorinstanzen offenkundig ausgegangen sind, nicht zur Auslegung des § 271 Abs 1 Z 1 ASVG (und der Parallelbestimmung des § 254 Abs 1 Z 1 ASVG) heranzuziehen ist.

Die bloß mögliche Besserung des die geminderte Arbeitsfähigkeit verursachenden Zustands genügt nicht mehr, um das Vorliegen dauerhaft geminderter Arbeitsfähigkeit verneinen zu können. Was nur möglich ist, ist noch nicht wahrscheinlich (10 ObS 40/15b).

5. Nach dem festgestellten Sachverhalt besteht die Möglichkeit, dass die Arbeitsfähigkeit des Klägers durch Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation in einem Zeitraum von zwei Jahren wiederhergestellt wird. Da jedoch zur Wahrscheinlichkeit einer solchen Besserung keine Feststellungen getroffen wurden, ist eine abschließende Beurteilung noch nicht möglich und waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Rechtssache an das Erstgericht zurückzuverweisen.

6. Dabei ist bereits jetzt zusätzlich auf Folgendes hinzuweisen:

Nach § 71 Abs 2 erster Halbsatz ASGG idF BGBl 1994/624 ist nach der Einbringung der Klage unter anderem nach § 65 Abs 1 Z 1 ASGG die Leistungsverpflichtung, die dem außer Kraft getretenen Bescheid entspricht, als vom Versicherungsträger unwiderruflich anerkannt anzusehen. Mit dieser Vorschrift sollte nach dem Willen des Gesetzgebers verhindert werden, dass ein gerichtliches Urteil für den Kläger weniger günstig ausfällt, als der durch die Klage außer Kraft getretene Bescheid (Verschlechterungsverbot). Der Versicherte darf darauf vertrauen, jedenfalls die im Bescheid zuerkannte Leistung ohne Rücksicht auf den Ausgang des Prozesses zu erhalten. Er soll die Möglichkeit haben, im Instanzenzug seinen Rechtsstandpunkt geltend zu machen, ohne dadurch das Risiko einzugehen, im Fall seines Unterliegens nicht einmal das zu erhalten, was ihm mit dem außer Kraft getretenen Bescheid zuerkannt worden ist. Das Gericht hat dem Kläger daher „zumindest“ die im Bescheid zuerkannte Leistung zuzusprechen (10 ObS 209/98b, SSV‑NF 12/93; RIS‑Justiz RS0089217; ErläutRV 1654 BlgNR 18. GP 25). Vergleichbares gilt bezüglich der Feststellung eines Unfallversicherungsträgers, wonach ein Arbeits-(Dienst‑)unfall oder eine Berufskrankheit vorliegt. Dem Versicherungsträger ist insbesondere aus Gründen der Rechtssicherheit die rechtswirksame Bestreitung des von ihm im Bescheid zuerkannten Anspruchs im Prozess verwehrt (Kuderna, ASGG² 461 f).

Dabei geht der Gesetzgeber nicht von einem vom Versicherungsträger tatsächlich abgegebenen Anerkenntnis im Rechtssinn aus. Die dem außer Kraft getretenen Bescheid zugrunde liegende Leistungsverpflichtung ist vielmehr als vom Versicherungsträger unwiderrufliches Anerkenntnis anzusehen. Der Gesetzgeber bedient sich somit der Fiktion eines konstitutiven Anerkenntnisses. Der Bescheid hat lediglich die ihm vom Gesetzgeber zugeschriebene Wirkung wie ein Anerkenntnis. Der bescheidmäßige Leistungsanspruch ist so zu behandeln als wäre er vom Versicherungsträger anerkannt worden. Diese gesetzliche Rechtsfolge ist zwingend. Sie kann daher vom Versicherungsträger nicht ausgeschlossen und vom Versicherten nicht abgelehnt werden (Kuderna, ASGG² 462).

Insgesamt betrachtet darf der urteilsmäßige Zuspruch im gerichtlichen Verfahren nicht schlechter sein als der im Bescheid des Versicherungsträgers festgelegte. Die als unwiderruflich anerkannt anzusehende Leistungsverpflichtung ist von Amts wegen in den Urteilsspruch aufzunehmen (Neumayr in Zellkomm² § 71 Rz 4). Diese Verpflichtung trifft bei ordnungsgemäß ausgeführter Rechtsrüge unabhängig von einer ausdrücklichen Rüge durch den Kläger auch die Rechtsmittelgerichte (vgl 10 ObS 74/93, SSV‑NF 7/46; Fink, Die sukzessive Zuständigkeit im Verfahren in Sozialrechtssachen 510 mwN).

Insoweit ist es weder notwendig, dass der Kläger einen diesbezüglichen Antrag stellt, noch für ihn schädlich, dass er eine Antragstellung unterlässt.

Diese Zweckrichtung des § 71 Abs 2 Satz 1 ASGG trifft auch zu, wenn dem Versicherten im Bescheid des Versicherungsträgers Rehabilitationsgeld zuerkannt wurde. Geschützt wird der Versicherte vor einer Schlechterstellung gegenüber dem bekämpften Bescheid aufgrund der Ergebnisse des Prozesses (10 ObS 50/15y).

Da die von der beklagten Partei in den Bescheid aufgenommenen Aussprüche über das (Nicht‑)Bestehen eines Anspruchs auf Berufsunfähigkeitspension und Zuerkennung eines Rehabilitationsgeldes als Einheit anzusehen sind, ist der Bescheid durch die Klage insgesamt außer Kraft getreten und sind die zugrundeliegenden Ansprüche in ihrer Gesamtheit Gegenstand des Gerichtsverfahrens, daher auch der Anspruch des Klägers auf Rehabilitationsgeld. Auf diesen Umstand hat der Kläger in seiner Berufung mit Recht hingewiesen. Sollte sich daher im fortgesetzten Verfahren ergeben, dass keine voraussichtlich dauerhafte Berufsunfähigkeit beim Kläger vorliegt, wird der Ausspruch über das Vorliegen einer vorübergehenden Berufsunfähigkeit des Klägers ab 1. 7. 2014 und sein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung ab dem 1. 7. 2014 für die weitere Dauer der vorübergehenden Berufsunfähigkeit in das Urteil aufzunehmen sein.

7. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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