European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0080OB00078.15A.1029.000
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts zur Gänze wiederhergestellt wird.
Begründung:
Der Antragsteller ist der Vater des am ***** geborenen Antragsgegners. Mit Vereinbarung vom 22. Mai 2013 verpflichtete er sich zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 630 EUR für den Antragsgegner. Er ist neben dem Antragsgegner für zwei weitere minderjährige Kinder sorgepflichtig.
Der Vater beantragte am 20. März 2014 die Herabsetzung seiner Unterhaltsleistung für den Sohn auf näher konkretisierte Beträge und brachte zusammengefasst vor, dass er seit Februar 2014 weniger verdiene.
Am 4. August 2014 wurde der Antragsteller wegen des Verdachts des versuchten Mordes an seiner früheren Frau und seinen Kindern festgenommen. Anschließend befand er sich in Untersuchungshaft. Am 3. März 2015 wurde er wegen des Verbrechens des versuchten Mordes an seiner früheren Frau ‑ vom Vorwurf des versuchten Mordes an seinen Kindern wurde er freigesprochen ‑ zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt. Seither ist er in Strafhaft.
Am 19. August 2014 beantragte der Antragsteller, ihn wegen seiner Haft ab August 2014 von seiner Unterhaltspflicht zu befreien.
Der Sohn sprach sich gegen die beantragte Herabsetzung aus. Zum hier allein interessierenden Antrag des Vaters, ihn ab August 2014 von seiner Unterhaltspflicht zu befreien, brachte er vor, dass der Vater wegen Mordversuchs an der Mutter des Unterhaltsberechtigten in Haft gekommen sei und eine solche Tat nicht zur Folge haben dürfe, dass er von seiner Unterhaltspflicht befreit werde.
Das Erstgericht verpflichtete den Vater zu Unterhaltsleistungen in unterschiedlicher Höhe für Zeiträume in der Vergangenheit und befreite den Antragsteller ab 1. September 2014 von seiner Unterhaltspflicht für den Antragsgegner. Der Unterhaltsanspruch ruhe wegen der Haft des Vaters; die Gründe der Haft seien dafür nicht maßgeblich.
Das Rekursgericht gab dem ‑ allein gegen die Unterhaltsbefreiung ab September 2014 (Punkt 2.) gerichteten ‑ Rekurs des Sohnes Folge, hob den angefochtenen Beschluss in diesem Punkt auf und verwies die Rechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurück. Es verwies auf eine im Strafverfahren erfolgte Einvernahme des Vaters als Beschuldigter, in deren Verlauf er angegeben habe, er habe sich durch die Ermordung sämtlicher Unterhaltsberechtigter von seiner Unterhaltspflicht befreien wollen. Dieses Motiv ‑ Feststellungen darüber fehlten bislang allerdings ‑ sei hier beachtlich, weil in diesem Fall der Unterhaltsschuldner gerade die Vereitelung seiner Unterhaltspflicht durch den versuchten Mord habe erreichen wollen. In Fällen der absichtlichen Unterhaltsvereitelung bzw einer Vorgangsweise in Schädigungsabsicht ziehe die Rechtsprechung unter bestimmten Umständen rein fiktive Einkommens- und Vermögensverhältnisse heran; dabei gehe es in Wahrheit nicht um Anspannung, sondern um eine adaptierte Anwendung des Rechtsmissbrauchsverbots des § 1295 Abs 2 ABGB. Es bedürfe daher Feststellungen darüber, ob der Vater tatsächlich die Straftat mit dem Motiv begangen habe, sich seiner Unterhaltsverpflichtung zu entziehen.
Den Revisionsrekurs erklärte das Rekursgericht für zulässig, weil sich hier die ‑ in der Rechtsprechung bisher nicht geklärte ‑ Frage der Anwendbarkeit des Anspannungsgrundsatzes bei Haft des Unterhaltsschuldners wegen einer Straftat mit dem Motiv der Unterhaltsvereitelung stelle.
Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Vaters wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, den Beschluss des Erstgerichts wiederherzustellen, hilfsweise, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Rechtssache an das Rekursgericht zurückzuverweisen.
Der Sohn beantragt, dem Revisionsrekurs des Vaters keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist aus den vom Rekursgericht genannten Gründen zulässig und im Sinn einer Wiederherstellung der Entscheidung des Erstgerichts berechtigt .
Mit der Anspannung der Leistungskraft des Unterhaltspflichtigen kann der Unterhalt auf der Grundlage eines zwar tatsächlich nicht erzielten, aber wohl erzielbaren Einkommens bemessen werden (RIS‑Justiz RS0047511; „Anspannungstheorie“). Die Anspannung darf aber nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht zu einer bloßen Fiktion führen, sondern muss immer auf der hypothetischen Feststellung beruhen, welches reale Einkommen der Unterhaltspflichtige in den Zeiträumen, für die die Unterhaltsbemessung erfolgt, unter Berücksichtigung seiner konkreten Fähigkeiten und Möglichkeiten bei der gegebenen Arbeitsmarktlage zu erzielen in der Lage wäre (RIS‑Justiz RS0047579).
Wer daher zu einer Erwerbstätigkeit aus triftigen Gründen (Krankheit, Haft, Schwangerschaft, Alter etc) nicht in der Lage ist, dem kann wegen der fehlenden Leistungsfähigkeit kein potientielles Einkommen unterstellt werden (RIS‑Justiz RS0047686 [T9]). Auch bei Verbüßung einer längeren Haft findet daher der Anspannungsgrundsatz keine Anwendung (RIS‑Justiz RS0047622; RS0095108; RS0111945). Dies gilt jedenfalls bei der Verbüßung einer längeren Freiheitsstrafe ( Neuhauser in Schwimann / Kodek , ABGB 4 § 140 Rz 334 mwN; Schwimann / Kolmasch , Unterhaltsrecht 7 78), sofern ein Einkommenserwerb wegen der Haft unmöglich und kein Vermögen des Unterhaltsschuldners vorhanden ist, das zur Deckung des angemessenen Unterhalts anzugreifen wäre (RIS‑Justiz RS0113786; 3 Ob 65/15b). Minderjährigen Kindern sind unter den Voraussetzungen des § 4 Z 3 UVG Unterhaltsvorschüsse zu gewähren.
Dabei macht es im Übrigen nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs keinen Unterschied, ob der Unterhaltsschuldner wegen des Delikts der Verletzung der Unterhaltspflicht (§ 198 StGB) oder aus anderen Gründen in Haft ist, weil die Art des jeweils begangenen Delikts nichts daran ändert, dass ihm die Teilnahme am Arbeitsmarkt und die Erzielung eines entsprechenden Einkommens während dieser Zeit ‑ es sei denn, er hätte ausnahmsweise weiterlaufende Einkünfte oder entsprechendes Vermögen ‑ jedenfalls unmöglich ist (RIS‑Justiz RS0047622).
Das Berufungsgericht begründet seine von diesen Grundsätzen abweichende Ansicht mit der Meinung von Schwimann/Kolmasch (Unterhaltsrecht 7 67), die aus einzelnen älteren Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs (7 Ob 552/95; 6 Ob 654/90) den allgemeinen Grundsatz ableiten, dass bei absichtlicher Unterhaltsvereitelung bzw bei Handeln in Schädigungsabsicht die vor diesem Verhalten bestehenden Verhältnisse weiterhin zur Unterhaltsbemessung herangezogen werden können. Dabei handle es sich im Grunde nicht um Anspannung, sondern um die für das Unterhaltsrecht adaptierte Anwendung des Rechtsmissbrauchsverbots des § 1295 Abs 2 ABGB. Die dazu zitierten Entscheidungen sind aber mit dem hier zu beurteilenden Fall nicht vergleichbar, zumal sie Fälle betrafen, in denen der Unterhaltspflichtige durchaus zur Erzielung eines Einkommens in der Lage war und die Frage der Anspannung ‑ in unterschiedlichen Zusammenhängen ‑ nur die Höhe der anzusetzenden Bemessungsgrundlage betraf. Hier ist es aber dem Unterhaltsberechtigten wegen seiner Haft auf Jahre hinaus unmöglich, ein Einkommen zu erzielen, sodass die Unterhaltsfestsetzung aufgrund des vor der Haft bezogenen Einkommens auf Dauer absolut losgelöst von den realen Verhältnissen und völlig fiktiv wäre. Der Unterhaltsfestsetzung käme daher ein rein pönaler Charakter zu, der sich aber aus dem Unterhaltsrecht nicht ableiten lässt.
Die vom Rekursgericht als notwendig erachtete Verfahrensergänzung ist daher nicht erforderlich. Vielmehr ist in Stattgebung des Rekurses der erstgerichtliche Beschluss zur Gänze wiederherzustellen.
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