OGH 10ObS59/15x

OGH10ObS59/15x22.10.2015

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden, den Hofrat Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und die Hofrätin Mag. Korn sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Ernst Bassler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei H*****, vertreten durch Mag. Gerhard Eigner, Rechtsanwalt in Wels, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, 1021 Wien, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm, Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 13. April 2015, GZ 12 Rs 25/15f‑17, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Wels als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 17. Dezember 2014, GZ 10 Cgs 85/14y‑12, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:010OBS00059.15X.1022.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahingehend abgeändert, dass sie einschließlich des rechtskräftig gewordenen Teils zu lauten haben:

„1. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei ab 1. Oktober 2014 Pflegegeld der Stufe 2 im Ausmaß von 284,30 EUR monatlich zu gewähren, und zwar die bisher fällig gewordenen Beträge abzüglich allfällig bereits geleisteter Zahlungen binnen 14 Tagen und die künftig fällig werdenden jeweils am 1. des Folgemonats im Nachhinein.

2. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 525,98 EUR (darin enthalten 87,66 EUR USt) bestimmten Kosten des Verfahrens erster Instanz binnen 14 Tagen zu ersetzen.“

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 544,13 EUR (darin enthalten 90,69 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens sowie die mit 373,68 EUR (darin enthalten 62,28 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

Der am 13. 9. 1968 geborenen Klägerin wurde im Jahr 1991 Pflegegeld der Stufe 1 gewährt. Im Jahr 1993 wurde das Pflegegeld auf Stufe 2 erhöht. Mit Bescheid vom 1. 8. 2014 entzog die beklagte Pensionsversicherungsanstalt der Klägerin mit Ablauf des Monats September 2014 das Pflegegeld.

Die Klägerin benötigt derzeit Unterstützung beim Besteigen und Verlassen der Dusche oder Badewanne, bei der Zubereitung einer warmen Mahlzeit, bei der Beischaffung von Nahrungsmitteln, Medikamenten und sonstigen Bedarfsgütern des täglichen Lebens, bei der Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände und bei der Pflege der Leib‑ und Bettwäsche. Bei der Fortbewegung innerhalb der Wohnung benötigt sie teilweise Hilfe. Der Pflegebedarf besteht jedenfalls seit Antragstellung und wird zumindest die nächsten sechs Monate andauern. Verglichen mit dem Pflegebedarf 1991 ist es zu einer teilweisen Verbesserung gekommen. Die Veränderung zum Zustandsbild, das zur Gewährung der Pflegegeldstufe 2 geführt hat, konnte nicht festgestellt werden, weil das entsprechende Gewährungsgutachten nicht mehr vorhanden ist.

Mit der gegen den Bescheid vom 1. 8. 2014 gerichteten Klage begehrt die Klägerin Pflegegeld im gesetzlichen Ausmaß und bringt vor, dass ihr aufgrund diverser Beeinträchtigungen Pflegegeld der Stufe 2 gewährt worden sei. Ihr Gesundheitszustand habe sich seitdem nicht wesentlich geändert.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und wendete im Wesentlichen ein, dass die Voraussetzungen für die Gewährung eines Pflegegeldes wegen Veränderung des Pflegeaufwands weggefallen seien und bei der Klägerin nunmehr kein den Bezug von Pflegegeld rechtfertigender Pflegeaufwand mehr vorliege.

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin ab 1. 10. 2014 Pflegegeld der Stufe 1 „im gesetzlichen Ausmaß“ zu zahlen. Der durchschnittliche monatliche Pflegebedarf der Klägerin betrage insgesamt 74 Stunden (gemeint wohl 71,5 Stunden), weshalb ihr Pflegegeld der Stufe 1 zustehe. Da sich der Zustand der Klägerin im Verhältnis zu 1991 gebessert habe, könne daraus geschlossen werden, dass er sich auch im Verhältnis zum Jahr 1993 gebessert habe. Damit liege eine wesentliche Veränderung vor, die zu einer Neubemessung berechtige.

Der dagegen erhobenen Berufung der Klägerin gab das Berufungsgericht nicht Folge und bestätigte das Ersturteil mit der Maßgabe, dass das Pflegegeld der Höhe nach ziffernmäßig festgelegt wurde und die beklagte Partei verpflichtet wurde, die bisher fällig gewordenen Beträge binnen 14 Tagen, die künftig fällig werdenden jeweils am 1. des Folgemonats im Nachhinein zu zahlen. Zwar sei es richtig, dass die beklagte Partei beweispflichtig für eine Veränderung des Pflegebedarfs sei. Dieser Beweis sei jedoch kraft Größenschlusses gelungen. Da sich der Zustand der Klägerin gegenüber dem Gewährungszeitpunkt des Pflegegeldes der Stufe 1 verbessert habe, müsse dies umso mehr auf den Pflegebedarf im Zeitpunkt der Gewährung der Stufe 2 zutreffen. Das Pflegegeld sei im Spruch ziffernmäßig anzuführen.

Die ordentliche Revision erachtete das Berufungsgericht als nicht zulässig, da keine Rechtsfragen iSd § 502 Abs 1 ZPO zu beurteilen seien.

Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin mit dem Antrag, das Urteil dahingehend abzuändern, dass die Beklagte schuldig erkannt werde, ihr Pflegegeld der Stufe 2 zu zahlen. In eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei beantragte in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision als unzulässig zurückzuweisen bzw ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig und auch berechtigt.

Die Klägerin macht geltend, die Entziehung oder Neubemessung des Pflegegeldes setze eine wesentliche Veränderung des Zustandsbilds des Pflegebedürftigen und als dessen Folge eine Änderung des Pflegebedarfs voraus. Da die Tatsachengrundlagen für die Zuerkennung des Pflegegeldes der Stufe 2 im Jahr 1993 nicht festgestellt werden konnten, habe auch eine wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfs nicht festgestellt werden können. Der von den Vorinstanzen gezogene Größenschluss widerspreche der Judikatur.

Dazu ist auszuführen:

1. Ob ein rechtskräftig zuerkanntes Pflegegeld zu entziehen oder neu zu bemessen ist, richtet sich ausschließlich nach § 9 Abs 4 BPGG. Dieser bestimmt, dass das Pflegegeld zu entziehen ist, wenn eine Voraussetzung für die Gewährung von Pflegegeld wegfällt, und dass das Pflegegeld neu zu bemessen ist, wenn eine für die Höhe des Pflegegeldes wesentliche Veränderung eintritt. Demnach setzt ein Leistungsentzug eine wesentliche Veränderung des Zustandsbilds des Pflegebedürftigen und in dessen Folge eine Änderung im Umfang des Pflegebedarfs voraus, die die Gewährung einer anderen Pflegegeldstufe erforderlich macht. Neben einer wesentlichen Veränderung des Zustandsbilds des Pflegebedürftigen bzw des daraus resultierenden Pflegebedarfs kann auch die Anschaffung nicht einfacher Hilfsmittel eine Neubemessung des Pflegegeldbezugs rechtfertigen ( Greifeneder/Liebhart , Pflegegeld [2013] Rz 278). Ausgehend von den Tatsachengrundlagen ist zu beurteilen, ob sich die objektiven Grundlagen für die seinerzeitige Leistungszuerkennung so wesentlich geändert haben, dass sich eine Veränderung mit Anspruch auf eine andere Pflegegeldstufe ergeben hat. Es genügt dabei nicht nur, den körperlichen Zustand zum Zeitpunkt der Gewährung zu jenen im Zeitpunkt der Neubemessung des Pflegegeldes in Beziehung zu setzen. Es sind auch die Änderungen im Pflegebedarf, der für die Höhe der Pflegegeldstufe maßgeblich ist, zueinander in Beziehung zu setzen, um daraus ableiten zu können, ob eine wesentliche Änderung eingetreten ist (RIS‑Justiz RS0123144). Es bedarf daher im sozialgerichtlichen Verfahren neuerlich ‑ unabhängig von den im Zuerkennungsverfahren allenfalls getroffenen Feststellungen ‑ der Feststellung der im Zuerkennungszeitpunkt wesentlichen Tatsachen (10 ObS 150/07t, SSV-NF 21/88 ua; Greifeneder/Liebhart , Pflegegeld [2013] Rz 276).

Haben die objektiven Grundlagen für eine Leistungszuerkennung keine wesentliche Änderung erfahren, so steht die Rechtskraft der Gewährungsentscheidung der Entziehung entgegen. So ist ein Leistungsentzug etwa auch dann nicht gerechtfertigt, wenn nachträglich festgestellt wird, dass die Leistungsvoraussetzungen von Beginn an gefehlt haben (RIS‑Justiz RS0106704).

2. Die objektive Beweislast dafür, dass eine rechtlich relevante Besserung des bei Gewährung der Leistung bestandenen Zustands eingetreten ist, trifft den Versicherungsträger (RIS‑Justiz RS0083813).

3. Im vorliegenden Fall ist daher zur Prüfung, ob die Voraussetzungen für eine Neubemessung des Pflegegeldes erfüllt sind, der Zustand zum Zeitpunkt der Neubemessung mit dem Zustand zum Zeitpunkt der Gewährung des Pflegegeldes der Stufe 2 im Jahr 1993 in Beziehung zu setzen. Da der Gesundheitszustand und der damit verbundene Pflegebedarf der Klägerin im Jahr 1993 von den Vorinstanzen nicht festgestellt werden konnte, kann aber, wie die Revision richtig aufzeigt, auch keine Änderung des Pflegebedarfs angenommen werden. Allein der Umstand, dass sich der Zustand der Klägerin in Relation zu einem früheren Zeitpunkt gebessert hat, reicht dafür nicht aus. Dies betrifft insbesondere das Vorbringen der beklagten Partei in der Tagsatzung am 17. 12. 2014, es habe sich bei der Klägerin im Vergleich zur Untersuchung vom 22. 8. 1991 im Bereich der täglichen Körperpflege sowie des täglichen An- und Auskleidens eine Besserung sowie eine Veränderung des Pflegebedarfs hinsichtlich des bei der Klägerin nunmehr vorhandenen Fahrzeugs mit Automatikgetriebe ergeben. Ein ausdrückliches Vorbringen dahingehend, dass bei der maßgebenden Erhöhung des Pflegegeldes der Klägerin im Jahr 1993 ein Hilfsbedarf für Mobilitätshilfe im weiteren Sinn berücksichtigt worden sei, welcher später durch die Anschaffung eines Fahrzeugs mit Automatikgetriebe weggefallen sei, wurde von der für eine wesentliche Änderung im Ausmaß des Pflegebedarfs beweispflichtigen beklagten Partei nicht erstattet. Wie dargelegt könnte auch die nachträgliche Erkenntnis, dass die Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch zur Zeit der Zuerkennung nicht vorhanden waren, die Entziehung der Leistung nicht rechtfertigen (RIS‑Justiz RS0083941). Weder lässt sich ausschließen, dass die festgestellten Änderungen im Pflegebedarf bereits vor 1993 eingetreten sind, noch, dass die Erhöhung aufgrund der Annahme eines Pflegebedarfs in anderen Bereichen, in denen keine Änderung eingetreten ist, gewährt wurde. Die von den Vorinstanzen gezogene Schlussfolgerung, da sich der Zustand der Klägerin im Verhältnis zu 1991 (teilweise) gebessert habe, müsse dies auch im Verhältnis zu 1993 der Fall sein, ist daher zwar naheliegend, aber nicht zwingend und vor allem von den getroffenen Feststellungen, an die der Oberste Gerichtshof gebunden ist, nicht gedeckt.

Da somit der beklagten Partei der Nachweis einer wesentlichen Änderung des Zustandsbildes und des Pflegebedarfs der Klägerin gegenüber dem letzten Gewährungsgutachten aus dem Jahr 1993 nicht gelungen ist, besteht weiterhin ein Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Pflegegeld der Stufe 2. Der Revision war daher Folge zu geben.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a und Abs 2 ASGG.

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