OGH 14Ns57/15s

OGH14Ns57/15s4.8.2015

Der Oberste Gerichtshof hat am 4. August 2015 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Zonsics als Schriftführer in der Strafsache gegen ***** und andere Beschuldigte wegen des Vergehens des geheimen Nachrichtendienstes zum Nachteil Österreichs nach § 256 StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 6 St 60/15t der Staatsanwaltschaft Linz, in dem zu AZ 19 HR 217/15g des Landesgerichts Linz und zu AZ 352 HR 242/13t des Landesgerichts für Strafsachen Wien geführten Kompetenzkonflikt nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0140NS00057.15S.0804.000

 

Spruch:

Das Landesgericht Linz ist zur Entscheidung über offene Anträge, Einsprüche und Beschwerden im zu AZ 6 St 60/15t der Staatsanwaltschaft Linz geführten Ermittlungsverfahren zuständig.

 

Gründe:

Die Staatsanwaltschaft Wien führte zu AZ 502 St 100/12f ein Ermittlungsverfahren gegen ***** und andere Beschuldigte wegen des Verdachts des geheimen Nachrichtendienstes zum Nachteil Österreichs nach § 256 StGB und weiterer strafbarer Handlungen. Dieses Verfahren wurde in der Folge gemäß § 26 Abs 1 und 2 StPO an die Staatsanwaltschaft St. Pölten zur Verbindung mit dem dortigen Verfahren, AZ 5 St 60/15x (vormals AZ 75 UT 122/12 z), abgetreten. Zur Entscheidung über die im Zeitpunkt der Abtretung offenen Anträge, Einsprüche und Beschwerden blieb das Landesgericht für Strafsachen Wien gemäß § 36 Abs 2 StPO zuständig.

Am 28. April 2015 nahm die Generalprokuratur (zu AZ Gw 145/15d) dieses Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft St. Pölten ab und übertrug es der Staatsanwaltschaft Linz. Sie stützte diese Entscheidung auf das Vorliegen wichtiger Gründe im Sinn des § 28 zweiter Satz StPO, weil nachträglich auch ein Anfangsverdacht (§ 1 Abs 3 StPO) eines (unter anderem) § 302 Abs 1 StGB oder § 310 Abs 1 StGB subsumierbaren Verhaltens von (aktiven und ehemaligen) Angehörigen des Innen- und des Justizressorts (unter anderem einer aktiven Oberstaatsanwältin der Zentralen Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption) mit beruflichem und teilweise auch persönlichem Naheverhältnis zu Mitarbeitern der Oberstaatsanwaltschaft Wien und dieser unterstellter Staatsanwaltschaften bekannt geworden sei.

Am 23. Juni 2015 übermittelte das Landesgericht für Strafsachen Wien dem Landesgericht Linz Aktenkopien „zuständigkeitshalber zur Entscheidung über die (laut Verfügung der Staatsanwaltschaft Wien vom 8. 5. 2015 auf dem AB‑Bogen) noch offenen Rechtsbehelfe“. Begründend führte es ‑ gestützt auf eine Kommentarstelle ( Nordmeyer , WK-StPO §§ 28, 28a Rz 21) aus, dass § 36 Abs 2 StPO in Fällen der Übertragung eines Verfahrens aus wichtigem Grund gemäß § 28 zweiter Satz StPO nicht analog anzuwenden sei, weil „der Anschein der Voreingenommenheit auch gegen eine weitere Tätigkeit des bisher befassten Gerichts spricht“.

Das Landesgericht Linz legte den Akt gemäß § 38 StPO dem Obersten Gerichtshof zur Entscheidung über den (negativen) Kompetenzkonflikt vor. Es vertritt die Ansicht analoger Anwendbarkeit des § 36 Abs 2 StPO. Zudem müssten „Befangenheiten, oder deren bloßer Anschein, bei einer Staatsanwaltschaft nicht unbedingt auf das dort ansässige Landesgericht durchschlagen“. Im Übrigen „gibt es für das Gericht eigene Möglichkeiten, auf solche Befangenheiten zu reagieren und kann diese Entscheidungskompetenz wohl kaum in die Hände von Oberstaatsanwaltschaften beziehungsweise der Generalprokuratur gelegt werden“.

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:

Im Ermittlungsverfahren obliegen gerichtliche Entscheidungen und Beweisaufnahmen dem Landesgericht, an dessen Sitz sich die Staatsanwaltschaft befindet, die das Verfahren führt (§ 36 Abs 1). Die Zuständigkeit des Gerichts folgt in diesem Verfahrensstadium also jener der Staatsanwaltschaft; diese unterliegt keiner amtswegigen Überprüfung durch das Gericht, entfaltet insoweit also Tatbestandswirkung ( Oshidari , WK‑StPO § 36 Rz 1).

Perpetuatio fori gilt im Strafverfahren keineswegs generell, sondern nur dort, wo es das Gesetz (vgl § 36 Abs 2, 4 und 5, § 213 Abs 5 StPO) ausdrücklich vorsieht. Selbst dort gibt es eine Durchbrechung dieses Grundsatzes durch Delegierung (vgl 13 Ns 44/09p, EvBl 2009/161, 1072; Ratz , WK‑StPO § 281a Rz 1 und § 468 Rz 5 ff; Oshidari , WK‑StPO § 38 Rz 7; Birklbauer/Mayrhofer , WK‑StPO § 213 Rz 45 und 50).

§ 36 Abs 2 StPO knüpft an eine Abtretung des Verfahrens an; in diesem Fall kommt dem bis dahin zuständigen Gericht die Entscheidung über offene Anträge, Einsprüche und Beschwerden weiterhin zu. Dem Wortlaut nach ist diese Bestimmung auf die Entscheidung von Zuständigkeitskonflikten oder die Übertragung von Verfahren nach § 28 StPO nicht anwendbar, weil bei diesen der Zuständigkeitswechsel bei der Staatsanwaltschaft nicht aus Abtretung, sondern (unmittelbar) aus der Entscheidung von Oberstaatsanwaltschaft oder Generalprokuratur resultiert. Gleichwohl ist kein Grund ersichtlich, weshalb der § 36 Abs 2 StPO innewohnende Gedanke der Prozessökonomie im Fall der Entscheidung eines Zuständigkeitskonflikts (§ 28 vierter Satz StPO) nicht zum Tragen kommen sollte, unterscheidet sich ein solcher von der gesetzlich (in § 36 Abs 2 StPO) ausdrücklich geregelten Konstellation lediglich darin, dass die Staatsanwaltschaft, welche das Verfahren in weiterer Folge führt, ihre (sich unmittelbar aus dem Gesetz ergebende) Zuständigkeit (zunächst) nicht akzeptiert, sondern diese von einer der in § 28 genannten Behörden festgelegt wird. Insoweit ist daher eine durch analoge Anwendung zu schließende planwidrige Lücke des § 36 Abs 2 StPO auszumachen.

Anders hingegen im Fall einer Übertragung der Zuständigkeit aus wichtigem Grund gemäß § 28 zweiter (und dritter) Satz StPO, bei dem es nicht um die Feststellung einer gesetzlichen Zuständigkeit, sondern um deren Änderung durch Behördenakt geht. Ein vergleichbarer Delegierungstatbestand wurde bereits durch die Strafprozessnovelle 1999 geschaffen (§ 62 zweiter Satz idF BGBl I 1999/55). Den Gesetzesmaterialien ist zu entnehmen, dass die Sicherstellung grundrechtlicher Garantien (vgl Art 6 Abs 1 MRK: „von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht“) im Weg der Vorschriften über die Befangenheit (nunmehr bei Richtern: Ausgeschlossenheit [näher dazu Lässig , WK‑StPO § 45 Rz 10 f und § 47 Rz 6 ff]) in den dort genannten Konstellationen als nicht ausreichend erachtet wurde (AB 1615 BlgNR 20. GP , 3; Nordmeyer , WK‑StPO §§ 28, 28a Rz 10).

Delegierungsmöglichkeiten sind mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter vereinbar. Aus Art 83 Abs 2 B‑VG folgt für den Gesetzgeber (lediglich), dass die Voraussetzungen für die Delegierung im Gesetz präzise festzulegen sind ( Mayer/Muzak , B‑VG 5 Art 83 Anm II.2.; Holzinger in Korinek/Holoubek , B‑VG Art 83/2 Rz 68 [der auch das dem Staatsanwalt nach § 52 StPO idF vor BGBl I 2004/19 eingeräumte Wahlrecht als verfassungsrechtlich unbedenklich bezeichnet]; vgl auch Ratz , WK‑StPO § 288 Rz 11 [der die Bedeutung der Delegierung für den Grundrechtsschutz hervorhebt]).

Die Einhaltung der genannten grundrechtlichen Garantien ist (nunmehr) im Ermittlungsverfahren von staatsanwaltschaftlichen Behörden sicherzustellen; nur diese haben das Vorliegen eines ‑ in struktureller Befangenheit bestehenden ‑ wichtigen Grundes zu beurteilen (zur Unbedenklichkeit dieser Systematik auch unter dem Aspekt des Art 94 B‑VG vgl im Übrigen Wiederin , WK‑StPO § 4 Rz 33; Khakzadeh-Leiler in Kneihs/Lienbacher [Hrsg] Rill‑Schäffer‑Kommentar Bundesverfassungsrecht Art 94 Rz 20 und 71). Eine gerichtliche Delegierungskompetenz gibt es in diesem Verfahrensstadium nicht (vgl § 39 Abs 1 StPO: „Im Haupt- und Rechtsmittelverfahren“; EBRV 25 BlgNR 22. GP , 50 und 58). Soll der in § 28 zweiter Satz StPO zum Ausdruck gebrachte Schutzzweck nicht unterlaufen werden, muss daher die aus einem solchen Grund erfolgte Übertragung des Verfahrens durch Oberstaatsanwaltschaft oder Generalprokuratur ‑ von unaufschiebbaren Verfahrenshandlungen abgesehen (vgl §§ 38 zweiter Satz, 44 Abs 1 zweiter Satz StPO; Nordmeyer , WK‑StPO § 25 Rz 14) ‑ auf die gerichtliche Zuständigkeit durchschlagen. Einer weiteren Befassung des bisher zuständigen Gerichts stünden (für die Zuständigkeitsübertragung maßgebliche) grundrechtliche Bedenken entgegen (im Ergebnis aA die vereinzelte Entscheidung 11 Ns 64/12v). Für eine vom Landesgericht Linz vertretene unterschiedliche Bewertung eines Sachverhalts als wichtiger Grund in Bezug auf die Staatsanwaltschaft einerseits und das Gericht andererseits (je nachdem, ob das Verfahren gegen einen Staatsanwalt oder einen Richter geführt wird) bleibt schon mit Blick auf die im Wesentlichen inhaltsgleichen Bestimmungen der § 28 zweiter Satz und § 39 Abs 1 zweiter Satz StPO kein Raum.

§ 36 Abs 2 StPO ist in der vorliegenden Konstellation daher nicht analog anzuwenden ( Nordmeyer , WK‑StPO §§ 28, 28a Rz 21), weshalb das Landesgericht Linz über sämtliche offene Anträge, Einsprüche und Beschwerden im nunmehr bei der Staatsanwaltschaft Linz zu AZ 6 St 60/15t geführten Ermittlungsverfahren zu entscheiden hat.

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