OGH 3Ob74/15a

OGH3Ob74/15a20.5.2015

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Hoch als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin Dr. Lovrek, die Hofräte Dr. Jensik und Dr. Roch und die Hofrätin Dr. A. Kodek als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen T*****, geboren am *****, und der minderjährigen A*****, geboren am ***** 2010, beide *****, beide vertreten durch ihre Mutter K*****, ebenda, diese vertreten durch Divitschek Sieder Sauer Peter Rechtsanwälte GesbR in Deutschlandsberg, wegen Übertragung der Zuständigkeit gemäß § 111 Abs 1 JN, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom 4. März 2015, GZ 23 R 65/15d‑62, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0030OB00074.15A.0520.000

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

 

Begründung:

Die Eltern der Minderjährigen waren nie verheiratet und leben seit 25. 12. 2012 getrennt. Die alleinige Obsorge kommt der Mutter zu. Der in Wien lebende Vater beantragte am 30. 7. 2013 die gemeinsame Obsorge und die Bestimmung des hauptsächlichen Aufenthalts der Kinder in seinem Haushalt. Im August 2013 übersiedelte die Mutter mit den Kindern von Purkersdorf in die Steiermark. Über den Obsorgeantrag des Vaters wurde bisher nicht entschieden. Mit Beschluss vom 23. 2. 2015 beauftragte das Erstgericht zwei in Graz ansässige Sachverständige für Familien-, Kinder- und Jugendpsychologie mit der Erstattung von Befund und Gutachten darüber, ob die Obsorge beider Eltern mit hauptsächlicher Betreuung der Minderjährigen beim Vater in Wien oder bei der Mutter in der Steiermark dem Kindeswohl eher entspricht als die alleinige Obsorge der Mutter oder des Vaters.

Mit Beschluss vom 19. 1. 2015 wies das Erstgericht den Antrag der Minderjährigen, vertreten durch die Mutter, auf Übertragung der Zuständigkeit zur Besorgung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Graz‑Ost ab, weil der hauptsächliche Aufenthalt der Kinder aufgrund des Antrags des Vaters noch nicht geklärt und eine Zuständigkeitsübertragung daher abzulehnen sei.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Kinder gegen diesen Beschluss nicht Folge. Die Fortführung des Verfahrens vor dem Erstgericht sei trotz des derzeitigen Lebensschwerpunkts der Kinder in der Steiermark zweckmäßig, weil dem Erstgericht mittlerweile besondere Sachkenntnis zukomme und aufgrund der offenen Anträge noch nicht abzusehen sei, in welchem Sprengel der Lebensmittelpunkt der Kinder künftig liegen werde. Den Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zu.

Rechtliche Beurteilung

Der außerordentliche Revisionsrekurs der Kinder zeigt keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG auf.

1. Das ausschlaggebende Kriterium für die Beurteilung, ob die Pflegschaftssache nach § 111 JN an ein anderes Gericht übertragen werden soll, ist das Kindeswohl (RIS‑Justiz RS0046908; RS0046929 [T21]; RS0047074 ua). Es kann deshalb nur einzelfallbezogen beurteilt werden, in welcher Form das Kindeswohl am besten gewahrt wird (RIS‑Justiz RS0046929 [T10], RS0047032 [T3, T7, T12, T29]).

2. Als Ausnahmebestimmung ist § 111 JN grundsätzlich eng auszulegen (RIS‑Justiz RS0046929 [T11, T20], RS0047300 [T16]). Eine Zuständigkeitsübertragung hat also nur zu erfolgen, wenn dies im Interesse des Kindes und zur Förderung der wirksamen Handhabung des pflegschaftsgerichtlichen Schutzes erforderlich erscheint (RIS‑Justiz RS0046984, RS0046929 ua).

3. In der Regel wird es zwar den Interessen des Kindes am besten entsprechen, wenn als Pflegschaftsgericht jenes Gericht tätig wird, in dessen Sprengel der Mittelpunkt der Lebensführung des Kindes liegt (RIS‑Justiz RS0047300 ua). Allerdings sprechen offene Anträge dann gegen eine Zuständigkeitsübertragung, wenn dem bisher zuständigen Gericht besondere Sachkenntnis zukommt. So kann im Einzelfall eine Entscheidung durch dieses Gericht zweckmäßiger sein, wenn es sich bereits eingehend mit dem offenen Antrag befasst und dazu Vernehmungen durchgeführt hat, weil die unmittelbar gewonnenen Eindrücke verwertet werden sollen (RIS‑Justiz RS0047074 [T10], RS0047032 [T4, T5a, T7, T12, T14, T16, T26]; vgl auch RS0047076 [T3, T4]). Die Beurteilung des Rekursgerichts, dass eine Übertragung der Pflegschaftssache aktuell insbesondere deshalb nicht zweckmäßig erscheint, weil das Erstgericht den Vater bereits ausführlich zu seinem Antrag auf Beteiligung an der Obsorge und Bestimmung des hauptsächlichen Aufenthalts der Kinder in seinem Haushalt einvernommen hat, ist somit durchaus vertretbar.

4. Daran können auch die im außerordentlichen Revisionsrekurs ins Treffen geführten weiteren Umstände, dass die Kinder vom Jugendamt Graz-Umgebung intensiv betreut werden und im Fall einer Gutachtenserörterung vor dem Erstgericht mit dem Auflaufen höherer (Anreise-)Kosten der Sachverständigen zu rechnen wäre, nichts ändern: Eine Belastung der Kinder mit Sachverständigengebühren scheidet nämlich von vornherein aus; mittlerweile wurde auch beiden Elternteilen (insbesondere) im Umfang des § 64 Abs 1 Z 1 lit c ZPO Verfahrenshilfe gewährt.

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