OGH 14Os92/14g

OGH14Os92/14g3.3.2015

Der Oberste Gerichtshof hat am 3. März 2015 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Humer als Schriftführerin in der Strafsache gegen Julius M***** und andere Beschuldigte wegen des Verbrechens des schweren gewerbsmäßigen Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1, 148 zweiter Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 608 St 1/08w der Staatsanwaltschaft Wien, AZ 334 HR 436/08g des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über den Antrag der M***** AG auf Erneuerung des Strafverfahrens nach § 363a StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0140OS00092.14G.0303.000

 

Spruch:

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Gründe:

In dem von der Staatsanwaltschaft Wien seit August 2007 zu AZ 608 St 1/08w wegen der Verbrechen des schweren gewerbsmäßigen Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 und Abs 3, 148 zweiter Fall StGB und der Untreue nach §§ 153 Abs 1, Abs 2 zweiter Fall, 12 StGB sowie weiterer strafbarer Handlungen gegen Julius M***** und verschiedene Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder der in J***** domizilierten M*****, der M***** Ltd, der Julius M***** AG und anderer Unternehmen, seit 27. Oktober 2010 auch gegen die M***** AG wegen § 3 VbVG (iVm §§ 146, 147 Abs 1 und Abs 3, 153 Abs 1, Abs 2 zweiter Fall, 229, 293 StGB; „§ 255 AktG, § 15 Abs 1 KMG, § 48b BörseG“; ON 1 S 283) geführten Ermittlungsverfahrenbestellte die Anklagebehörde mit Anordnung vom 19. Oktober 2011 Mag. (FH) Martin G***** zum Sachverständigen (ON 2773) und ergänzte am 16. Dezember 2011 dessen Auftrag zu Befund- und Gutachtenserstattung um weitere Fragen (ON 3002; zur späteren Einschränkung des Auftrags vgl ON 4721).

Innerhalb der den Beschuldigten gemäß § 126 Abs 3 letzter Satz StPO idF BGBl I 2009/52 gesetzten Frist erhob nur MMag. Peter W***** Einwendungen gegen die ausgewählte Person des Sachverständigen (ON 2815).

Die M***** AG beantragte am 16. Dezember 2011 die Enthebung des Mag. (FH) Martin G***** mit den Behauptungen mangelnder fachlicher Qualifikation des Genannten, weil dieser nur über einen Fachhochschulabschluss verfüge, sowie des „Nichtvorliegens des Anscheins der Unvoreingenommenheit“ zufolge eines (erst nach Ablauf der Einwendungsfrist bekannt gewordenen) Naheverhältnisses zum Sachverständigen Mag. Thomas H*****, der dem Verfahren zuvor beigezogen und (wegen Befangenheit) seines Amtes enthoben worden war (ON 3009).

Diesem Antrag wurde von der Staatsanwaltschaft Wien am 12. Jänner 2012 ohne Begründung nicht entsprochen (ON 1 S 425).

Den dagegen am 28. August 2012 erhobenen Einspruch wegen Rechtsverletzung, mit dem die M***** AG ‑ neben dem Einwand möglicher „Unterversicherung“ des Experten und daraus abgeleiteten Verstößen gegen §§ 3 und 5 StPO ‑ dessen „offenkundige Befangenheit“ aufgrund seiner „vollkommenen wirtschaftlichen Abhängigkeit von Behördenaufträgen“ behauptete (ON 3632), legte die Staatsanwaltschaft Wien dem Landesgericht für Strafsachen Wien mit ablehnender Stellungnahme vom 6. September 2012 unter Hinweis auf ihre in § 3 Abs 2 StPO normierte Verpflichtung zur Objektivität vor (ON 1 S 567 ff).

„In Ergänzung zur Eingabe vom 28. August 2012“ erhob die M***** AG am 2. Oktober 2012 einen „weiteren Einspruch wegen Rechtsverletzung“, in dem sie eine Verletzung des Beschleunigungsgebots nach § 9 StPO geltend machte und weiters ausführte, dass die Staatsanwaltschaft auf Grund der unzureichenden fachlichen Qualifikation des Sachverständigen, der bestehenden Zweifel an der Zulässigkeit seiner Eintragung in die Liste der Gerichtssachverständigen und seiner fehlenden Seriosität und Vertrauenswürdigkeit (als Eintragungsvoraussetzungen im Sinn des § 2 Abs 2 Z 1 lit e SDG) ‑ insbesondere infolge massiven Plagiatsverdachts in Bezug auf dessen Diplomarbeit, seine fallweise Führung des Titels „Mag.“ ohne den Titelzusatz „FH“ und des Verdachts eines Pro‑forma Firmensitzes in Kufstein ‑ verpflichtet gewesen wäre, Mag. (FH) Martin G***** den Gutachtensauftrag zu entziehen (ON 3761).

In ihrer umfangreichen Äußerung vom 11. Jänner 2013 zu der ‑ ausschließlich auf bezughabende Aktenteile („ON 3797, ON 3887, ON 3979, ON 3980, ON 4004, ON 4010 und ON 4028“) verweisenden ‑ ablehnenden Stellungnahme der Staatsanwaltschaft vom 21. Dezember 2012 zum Einspruch ON 3761 (ON 1 S 659) brachte die Einspruchswerberin zusätzlich vor, die Anklagebehörde habe die angesprochenen Bedenken gegen den Sachverständigen nicht ausreichend und objektiv geprüft. Zweifel an dessen Vertrauenswürdigkeit lägen zudem auch auf Grund seines Antrags auf Kostenvorschuss im Namen der „B***** GmbH“ (statt im eigenen Namen) und „fehlerhafter Legung von Gebührennoten“ in anderen Verfahren vor. Überdies bestünden erhebliche Bedenken an der nötigen objektiven Distanz und der Anschein der Befangenheit des Experten auf Grund des bei der Hausdurchsuchung in den Geschäftsräumlichkeiten der M***** AG am 29. November 2012 offensichtlich gewordenen freundschaftlichen Verhältnisses zwischen ihm, den mit der Strafsache befassten Vertretern der Staatsanwaltschaft und den Polizeibeamten. Im Rahmen dieser Durchsuchung habe der Sachverständige nämlich nicht nur „rechtswidrig“ als „Teil der Ermittlungsbehörden“ agiert und Einblick in Dokumente erhalten, die von der Anordnung gar nicht gedeckt waren (wobei er auch längere Zeit danach ungestörten Zugang zu unversiegelten Unterlagen gehabt habe), sondern die Genannten zudem mit Vornamen angesprochen und sich mit diesen geduzt, worin sich eine „übermäßige Vertrautheit“ zeige (ON 4101).

Mit Beschluss vom 3. Dezember 2013 wies die Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien die oben angeführten Einsprüche der M***** AG wegen Rechtsverletzung (ON 3632 und ON 3761) unter ausführlicher Auseinandersetzung mit sämtlichen vorgebrachten Argumenten ab (ON 4836).

In ihrer dagegen fristgerecht erhobenen Beschwerde erachtete die M***** AG ‑ unter Wiederholung ihrer bisherigen Argumentation ‑ die Ausführungen des Erstgerichts als „argumentativ unschlüssig und teilweise grob aktenwidrig“, erblickte in der Entscheidung „gravierende Begründungsmängel“ und warf der Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien die Unterlassung sowohl der erforderlichen Gesamtbetrachtung der „gegen Mag. (FH) G***** vorliegenden Umstände“ bei der Beurteilung dessen Anscheinsbefangenheit als auch der Veranlassung geeigneter Erhebungen vor (ON 4860).

Mit Beschluss vom 25. Juni 2014, AZ 22 Bs 3/14y (ON 5071), gab das Oberlandesgericht Wien ‑ unter gleichzeitiger Zurückweisung eines weiteren Beschwerdepunkts ‑ der Beschwerde zu Punkt 1 und 2 (also jener gegen die Abweisung der Einsprüche wegen Rechtsverletzung ON 3632 und ON 3761) nicht Folge.

Zu den Argumenten der Beschwerdeführerin führte das Beschwerdegericht ‑ unter dem im Erneuerungsverfahren einzig thematisierten Aspekt der Befangenheit des Sachverständigen nach § 126 Abs 4 iVm § 47 Abs 1 Z 3 StPO ‑ zusammengefasst aus, dass eine (fallbezogen nicht anzunehmende) Mangelhaftigkeit der Diplomarbeit ‑ ebenso wie angeblich fehlerhafte Gutachtenserstattung in anderen Verfahren (welcher Einwand vom Erstgericht zudem überwiegend widerlegt worden sei) oder die angeblich unrichtige Legung von Gebührennoten ‑ keinen Ablehnungsgrund darstelle und daraus nicht auf Gründe geschlossen werden könne, die geeignet wären, die volle Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit des Experten im gegenständlichen Verfahren in Zweifel zu ziehen. Dieser sei zudem kraft Eides zur Erstattung eines vollständigen und objektiven Befundes und Gutachtens verpflichtet (BS 21 f). Unter Berufung auf zwei Entscheidungen des EGMR (EGMR 6. 5. 1985, Nr 8658/79, Bönisch gegen Österreich; EGMR 28. 8. 1991, Nr 11170/84, 12876/87, 13468/87, Brandstetter gegen Österreich) vertrat das Beschwerdegericht zum Einwand wirtschaftlicher Abhängigkeit des Experten von der Anklagebehörde die Ansicht, dass nur Zweifel an der Neutralität eines Sachverständigen, also Befürchtungen, dieser werde bei der Befundung und Gutachtenserstattung nicht in der Lage sein, mit der gebotenen Neutralität vorzugehen, Grund für die Hinterfragung dessen Bestellung sein könnten. Wenn selbst eine enge berufliche Verflechtung des vom Gericht bestellten Sachverständigen mit der anzeigenden Stelle vom EGMR nicht als für sich alleine ausreichend erachtet worden sei, um eine solche Befürchtung zu hegen, könne die vorliegend aus Gründen der Zweckmäßigkeit und Effizienz bei der Sammlung der erforderlichen Unterlagen gebotene Teilnahme des Sachverständigen an der Hausdurchsuchung oder das mutmaßlich freundschaftliche ‑ durch Verwendung des „Du‑Worts“ dokumentierte ‑ Verhältnis zwischen den Kriminalbeamten, den Staatsanwälten und dem Sachverständigen umso weniger geeignet sein, auch nur den Anschein der Befangenheit des Experten zu begründen. Selbst bei Annahme seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit von Aufträgen der Anklagebehörde oder des Gerichts wäre Befangenheit des Sachverständigen nur dann anzunehmen, wenn gleichzeitig unterstellt würde, dass allein der Umstand der Beauftragung durch die Staatsanwaltschaft oder das Gericht ein bestimmtes vorgegebenes oder gewünschtes Ergebnis bedinge.

Zudem stünde es der Beschwerdeführerin frei, für den Fall, dass Mag. (FH) G***** auch im Hauptverfahren zum Sachverständigen bestellt werde, in diesem Verfahrensstadium gegründete Einwände gegen dessen Person und Befangenheitsgründe aufzuzeigen, weil § 126 Abs 4 letzter Satz StPO nur auf das Tätigwerden des Sachverständigen im Vorverfahren abstelle und der Geltendmachung von Befangenheitsgründen, die sich etwa aus einem persönlichen oder dienstlichen Naheverhältnis zwischen dem bestellten Experten und dem bearbeitenden Staatsanwalt ergeben könnten, nicht entgegenstehe (BS 22 ff).

Die weiters behauptete Ermittlungstätigkeit des Sachverständigen anlässlich der Durchsuchung der Geschäftsräumlichkeiten der Beschwerdeführerin stelle aktuell ebenso wenig einen Enthebungsgrund dar, weil für das erkennende Gericht die Pflicht bestehe, ein allenfalls dadurch bewirktes vorprozessuales Ungleichgewicht durch die Bestellung eines neuen Sachverständigen für das Hauptverfahren auszutarieren und damit ein faires Verfahren zu sichern (RIS‑Justiz RS0129286; BS 26 f).

Sowohl gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 3. Dezember 2013, AZ 334 HR 436/08g (ON 4836) als auch gegen jenen des Oberlandesgerichts Wien vom 25. Juni 2014, AZ 22 Bs 3/14y (ON 5071), richtet sich der ‑ nicht auf ein Erkenntnis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gestützte ‑ Antrag der M***** AG auf Erneuerung des Strafverfahrens nach § 363a StPO, mit dem die Antragstellerin Verstöße gegen das verfassungsmäßig gewährleistete, aus dem Gleichheitsgrundsatz (Art 2 StGG, Art 7 B-VG) abgeleitete Willkürverbot sowie gegen Art 6 MRK zufolge rechtlich unrichtiger und logisch nicht nachvollziehbarer Beschlussbegründung ohne Befassung mit den materiellen Aspekten der monierten Befangenheitsgründe geltend macht und behauptet, dass „durch die dadurch bewirkte (rechtswidrige) Unterlassung einer materiellen Prüfung sämtlicher von der Antragstellerin monierter Befangenheitsaspekte betreffend den Sachverständigen Mag. (FH) G***** durch die befassten Gerichte … zentrale Grundsätze des StGG, des B‑VG, der EMRK und der Charta der Grundrechte der europäischen Union (GRC) negiert“ wurden, „wodurch gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art 2 StGG; Art 7 B‑VG)“ verstoßen sowie die Antragstellerin in ihrem durch Art 6 EMRK und Art 47 GRC gewährten Grundrecht auf ein faires Verfahren verletzt“ worden sei.

Rechtliche Beurteilung

Für einen ‑ wie hier vorliegenden ‑ nicht auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gestützten Erneuerungsantrag, bei dem es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf handelt, gelten alle gegenüber dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 Abs 1 und Abs 2 MRK sinngemäß (RIS-Justiz RS0122737). So kann der Oberste Gerichtshof unter anderem erst nach Rechtswegausschöpfung angerufen werden.

Da demnach Erneuerungsanträge gegen Entscheidungen, die der Erneuerungswerber mit Beschwerde anfechten kann, unzulässig sind (für viele: 13 Os 47/11b [13 Os 54/11g]), war der Antrag, soweit er sich gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 3. Dezember 2013, AZ 334 HR 436/08g (ON 4836), wendet, schon deshalb zurückzuweisen.

In Ansehung des gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien gerichteten Vorbringens ist er nicht berechtigt:

Eine Verletzung der Begründungspflicht liegt aus dem Blickwinkel des Art 6 Abs 1 MRK nur bei willkürlichen oder grob unvernünftigen („arbitrary or manifestly unreasonable“; vgl EGMR 20. 9. 2011 Oao Neftyanaya Kompaniya Yukos ggRussland, Nr 14902/04 Rz 589; EGMR 25. 7. 2013 Khodorkovskiy und Lebedev ggRussland; Nr 11082/06 und 13772/05 Rz 803; jeweils mwN) Urteils‑(hier: Beschluss‑)annahmen vor. Dies ist dann der Fall, wenn die Begründung eindeutig unzureichend, offensichtlich widersprüchlich ist oder eindeutig einen Irrtum erkennen lässt (Frowein/Peukert, EMRK3 Art 6 Rz 186; 17 Os 13/14m [17 Os 14/14h, 17 Os 32/14f, 17 Os 33/14b], EvBl‑LS 2014/64), nicht also, wenn die Rechtsansicht des Gerichts bloß nicht mit jener des Antragstellers übereinstimmt.

Indem der Antrag ‑ unter bloß partieller Wiederholung der zudem teilweise sinnentstellt interpretierten Begründung der bekämpften Entscheidung ‑ den umfangreichen, auf sämtliche Beschwerdeargumente ausführlich eingehenden und ‑ dem Antragsvorbringen zuwider ‑ sehr wohl alle vorgebrachten Einwände gegen den Sachverständigen einer Gesamtbetrachtung und ‑würdigung unterziehenden (vgl BS 19) Ausführungen des Oberlandesgerichts Wien bloß eigene Auffassungen und Erwägungen gegenüberstellt, wird ein im eben dargestellten Sinn qualifizierter Begründungsmangel demnach nicht angesprochen. Das prozessordnungswidrige Vorbringen entzieht sich solcherart einer inhaltlichen Erwiderung (RIS‑Justiz RS0124359).

Der Antrag war daher bereits bei der nichtöffentlichen Sitzung gemäß §

363b Abs 2 StPO (teilweise

analog; vgl dazu 17 Os 11/12i, EvBl 2013/41, 273) zurückzuweisen.

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