OGH 10ObS1/15t

OGH10ObS1/15t24.2.2015

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden, die Hofräte Univ.-Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Wiesinger (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und ADir. Angelika Neuhauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei J*****, vertreten durch Mag. Bernhard Kispert, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, 1021 Wien, wegen Feststellung von Schwerarbeitszeiten, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 24. Juli 2014, GZ 10 Rs 82/14y‑25, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Krems an der Donau als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 20. März 2014, GZ 8 Cgs 181/13b‑22, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:010OBS00001.15T.0224.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie unter Einschluss der bereits in Rechtskraft erwachsenen, den Zeitraum von 1. Dezember 1994 bis 31. Dezember 2003 betreffenden Feststellung laut Punkt 1.) des Urteils des Erstgerichts insgesamt zu lauten haben:

„Es wird gegenüber der beklagten Partei festgestellt, dass die vom Kläger erworbenen Versicherungsmonate der Pflichtversicherung aufgrund Erwerbstätigkeit im Zeitraum von 1. Dezember 1994 bis 31. Dezember 2012 Schwerarbeitszeiten im Sinne des § 607 Abs 14 ASVG bzw § 4 Abs 4 APG in Verbindung mit der Schwerarbeitsverordnung sind.“

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei zu Handen des Klagevertreters die mit 2.078,26 EUR (darin enthalten 346,38 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Verfahrens erster Instanz, die mit 544,13 EUR (darin enthalten 90,69 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 373,68 EUR (darin enthalten 62,28 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 16. April 2013 stellte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt fest, dass der am 6. November 1954 geborene Kläger nach den österreichischen Rechtsvorschriften 448 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund Erwerbstätigkeit und 51 Ersatzmonate erworben hat. Die Anerkennung von Schwerarbeitszeiten im Zeitraum von 1. Dezember 1994 bis 31. Dezember 2012 wurde abgelehnt.

Das Erstgericht gab der auf Feststellung von Schwerarbeitszeiten im Zeitraum von 1. Dezember 1994 bis 31. Dezember 2012 gerichteten Klage teilweise statt: Die vom Kläger erworbenen Versicherungsmonate der Pflichtversicherung aufgrund Erwerbstätigkeit im Zeitraum von 1. Dezember 1994 bis 31. Dezember 2003 wurden - rechtskräftig ‑ als Schwerarbeitszeiten im Sinne des § 607 Abs 14 ASVG in Verbindung mit der Schwerarbeitsverordnung festgestellt, während das Begehren auf Feststellung der im Zeitraum von 1. Jänner 2004 bis 31. Dezember 2012 erworbenen Versicherungszeiten der Pflichtversicherung aufgrund Erwerbstätigkeit als Schwerarbeitszeiten abgewiesen wurde.

Das Erstgericht traf in Bezug auf den im Revisionsverfahren noch relevanten Zeitraum von 1. Jänner 2004 bis 31. Dezember 2012 folgende Feststellungen:

Im genannten Zeitraum wurde der Kläger von seiner Arbeitgeberin überwiegend ‑ nämlich zu 90 % seiner Gesamttätigkeit ‑ als Tankwagenfahrer eingesetzt. Im Ausmaß von 10 % seiner Gesamttätigkeit verrichtete der Kläger Arbeiten als Auslieferer von festen Brennstoffen (Kohle und Koks).

Im Rahmen seiner Tätigkeit als Tankwagenfahrer belieferte der Kläger täglich etwa 12 Kunden mit Heizöl und Diesel. Zu Beginn der täglichen Fuhr war der Tankwagen zu befüllen. Dazu musste der Kläger den Schlauch des Tankwagens ca 4 m ziehen, auf eine etwa 3 m hohe Leiter hinaufsteigen und dort den Schlauch anschließen. Danach war abzuwarten, bis die Betankung durchgeführt war (Dauer des Betankungsvorgangs ca 45 Minuten). In der Folge waren die Kunden anzufahren. Vor Ort hatte der Kläger den Schlauch an den jeweiligen Tank für Diesel oder Heizöl anzuschließen. Dazu war der Schlauch vom Kläger bis zur Anschlussstelle händisch zu ziehen. Dieses Ausziehen des Schlauches dauerte zumeist zwischen 5 und 10 Minuten. In der Folge war der Abschluss des Tankvorgangs abzuwarten. Nach Abschluss der Betankung hatte der Kläger den Schlauch so zurechtzulegen, dass dieser von der Schlauchtrommel motorunterstützt eingezogen werden konnte. Am Ende der täglichen Fuhre war es Aufgabe des Klägers, den im Tank verbliebenen Rest am Betriebsstandort wieder in den Tank rückzuführen. Dabei war wieder nach Besteigen einer 3 m hohen Leiter der Schlauch anzuschließen, danach die Betankung abzuwarten und der Schlauch wieder abzuschließen. Etwa durchschnittlich 10 Minuten pro Tag war vom Kläger die Fahrzeugreinigung durchzuführen, wobei dies in der Regel während des Auftankens des Tankwagens erfolgte. Selten kam es im Winter auch dazu, dass vom Kläger Schneeketten anzulegen waren (bis zu 10 Mal im Jahr).

Hinsichtlich der körperlichen Beanspruchung stellte sich die Tätigkeit als Tankwagenfahrer zu 33 % als leichte Handarbeit im Sitzen (Lenken des Tankwagens), zu 1 % als leichte Handarbeit im Knien und 1 % als leichte Handarbeit im Hocken (Durchführung der Reinigung des Lkws), zu 35 % als leichte Handarbeit im Stehen (insbesondere Wartezeiten im Zusammenhang mit der Betankung bzw Entleerung des Tankwagens), zu 2 % als schwere Körperarbeit im gebückten Stehen (Nachjustieren des Schlauches bei dessen Einziehen), zu 25 % als schwere Körperarbeit im Gehen (Herausziehen des Schlauches) und zu 3 % als sehr schwere Körperarbeit bei Steigen ohne Last (Anschließen des Schlauches über Leiter) dar. Unter Berücksichtigung, dass 10 % der Arbeitszeit unproduktive Zeiten (Verteilzeiten) waren, nämlich Zeiten, in denen tatsächlich keine Arbeitsleistungen erbracht wurden, handelte es sich bei der Tätigkeit als Tankwagenfahrer um eine Tätigkeit, bei der bei einer achtstündigen Arbeitszeit von Männern 6.551,28 Arbeitskilojoule verbraucht werden.

Die Tätigkeit als Lieferant von festen Brennstoffen stellte sich insgesamt als eine Kombination aus kurzen Fahrten mit dem Lkw, Tragetätigkeiten sowie dem Einschaufeln der Brennstoffe dar. Hinsichtlich der Schwere gliederte sich diese Tätigkeit auf in 5 % leichte Zweiarmarbeit im Sitzen, 5 % leichte Körperarbeit im Stehen, 30 % leichte Körperarbeit im Gehen, 15 % mittelschwere Körperarbeit im Stehen, 5 % schwere Körperarbeit im Stehen und 40 % schwere Körperarbeit im Gehen. Unter Berücksichtigung, dass 10 % der Arbeitszeit wiederum unproduktive Zeiten (Verteilzeiten) waren, in denen tatsächlich keine Arbeitsleistung erbracht wurde, handelt es sich ‑ für sich allein genommen ‑ um eine Tätigkeit, bei der von Männern bei einer achtstündigen Arbeitszeit 13.084,20 Arbeitskilojoule verbraucht werden.

Unter Bedachtnahme auf den Umstand, dass der Kläger zu 90 % als Tankwagenfahrer und zu 10 % als Lieferant von festen Brennstoffen tätig war, stellte sich die Gesamttätigkeit insgesamt als eine Tätigkeit dar, bei der wiederum unter Berücksichtigung von Verteilzeiten im Ausmaß von 10 % von Männern bei einer achtstündigen Arbeitszeit 7.280 Arbeitskilojoule verbraucht werden.

Tatsächlich arbeitete der Kläger aber in den Jahren ab 2004 regelmäßig täglich über acht Stunden hinaus. Dabei betrug seine durchschnittliche tägliche Arbeitszeit zumindest 10 Stunden. Es kann aber nicht festgestellt werden, dass die tägliche Arbeitszeit des Klägers zehn Stunden überschritt. Bei einer zehnstündigen Arbeitszeit werden bei der vom Kläger im Zeitraum von 1. Jänner 2004 bis 31. Dezember 2012 ausgeübten Tätigkeit als Tankwagenfahrer (90 % der Tätigkeit) und als Lieferant von festen Brennstoffen (10 % der Tätigkeit) ‑ wiederum unter Berücksichtigung unproduktiver Zeiten (Verteilzeiten) von 10 % der Tätigkeit ‑ 9.011 Arbeitskilojoule verbraucht.

Seiner rechtlichen Beurteilung legte das Erstgericht zugrunde, dass der Kläger ab 1. Jänner 2004 den erforderlichen Tagesgrenzwert von 8.374 Arbeitskilojoule (2.000 Arbeitskilokalorien) nicht erreiche, weil auf einen achtstündigen (und nicht auf einen zehnstündigen) Arbeitstag abzustellen sei.

Das Berufungsgericht übernahm die Feststellungen des Erstgerichts und bestätigte dessen Rechtsansicht, dass der Kläger den Grenzwert des § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsVO nicht erreiche.

Die Revision wurde mit der Begründung zugelassen, dass der Oberste Gerichtshof die Frage der Berechnungsmodalitäten der Arbeitskilokalorien-Grenze in der Schwerarbeitsverordnung noch nicht entschieden habe.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer gänzlichen Klagestattgabe. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; sie ist auch berechtigt.

Der Revisionswerber macht zusammengefasst geltend, dass er unter Bedachtnahme auf seine tägliche, über einen Achtstundentag hinausgehende Arbeitszeit den in § 1 Abs 1 Z 4 Schwerarbeitsverordnung normierten Grenzwert von 8.374 Arbeitskilojoule deutlich überschritten habe. Die von den Vorinstanzen vorgenommene anteilige Kürzung des Arbeitsenergieverbrauchs auf einen Achtstundentag führe zu einer unsachlichen Ungleichbehandlung der Normadressaten der Schwerarbeitsverordnung, weil bei einem Zehnstundentag eines Mannes ein Energieverbrauch von mindestens 10.467,50 Arbeitskilojoule gefordert würde.

1. Diese Ausführungen stehen in Einklang mit der Entscheidung 10 ObS 95/14i. Aus der Anlage zur Schwerarbeitsverordnung, in der die Grundsätze der Feststellung körperlicher Schwerarbeit festgelegt werden, geht hervor, dass sich der Arbeitsenergieumsatz aus dem Gesamtenergieumsatz pro Arbeitstag ergibt. Es ist daher die Berücksichtigung des Energieumsatzes des ganzen Arbeitstages vorgesehen. Zwar wurde in § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsV bei der Festlegung der Energieumsatzgrenze der Bezug auf acht Stunden pro Arbeitstag als gesetzliche Normalarbeitszeit gewählt. Wenn jedoch tatsächlich längere Arbeitszeiten vorliegen, sind diese bei der Berechnung des Energieumsatzes entsprechend zu berücksichtigen. Die verhältnismäßige „Einkürzung“ einer tatsächlich längeren täglichen Arbeitszeit auf einen achtstündigen Arbeitstag ‑ und damit die Streichung von Zeiten mit beruflicher, körperlicher Belastung ‑ war nicht intendiert (vgl dazu die Stellungnahme des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz im Gesetzes‑ und Verordnungs-prüfungsverfahren G 20/11 ua, V 13/11 ua vor dem Verfassungsgerichtshof, VfSlg 19.530). In diesem Sinn kann ein Versicherter nachweisen, dass er täglich aufgrund längerer Arbeitszeiten den geforderten Arbeitskilojoule‑ bzw Arbeitskilokalorienverbrauch erreicht (Milisits, Schwerarbeitsverordnung [2007] 25; Milisits, Neueste OGH- und EuGH‑Judikatur Bereich „Sozialversicherung“, ZAS 2009/18, 102 [103]; Teschner/Widlar/Pöltner, MGA‑ASVG [APG] 108. Erg.‑Lfg., SchwerarbeitsV Anm 8).

2. Nach den Feststellungen betrug die durchschnittliche tägliche Arbeitszeit des Klägers zumindest zehn Stunden. Bei einer zehnstündigen Arbeitszeit werden bei der vom Kläger im Zeitraum von 1. Jänner 2004 bis 31. Dezember 2012 ausgeübten Tätigkeit als Tankwagenfahrer (90 % der Tätigkeit) und als Lieferant von festen Brennstoffen (10 % der Tätigkeit) ‑ unter Berücksichtigung unproduktiver Zeiten (Verteilzeiten) von 10 % der Tätigkeit - 9.011 Arbeitskilojoule verbraucht. Damit wird Schwerarbeit iSd § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsV geleistet, weshalb der Revision des Klägers Folge zu geben ist.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a in Verbindung mit § 77 Abs 2 ASGG. Die Bemessungsgrundlage für die Kosten der Revision beträgt 3.600 EUR (§ 77 Abs 2 ASGG). Sozialrechtssachen sind pauschalgebührenbefreit (§ 80 ASGG).

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