OGH 9Nc1/15v

OGH9Nc1/15v23.1.2015

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Hopf als Vorsitzenden, sowie den Hofrat Mag. Ziegelbauer, die Hofrätin Dr. Dehn, den Hofrat Dr. Hargassner und die Hofrätin Mag. Korn als weitere Richter in der Pflegschaftssache der 1. mj L***** E*****, geboren am ***** 2000, und 2. mj E***** E*****, geboren am ***** 2010, beide *****, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0090NC00001.15V.0123.000

 

Spruch:

Zur Fortführung der Pflegschaftssache ist das Bezirksgericht Reutte zuständig. Dessen Beschluss vom 1. Oktober 2014, GZ 1 Nc 129/14f‑4, wird aufgehoben.

Text

Begründung

Der Vater B***** E***** beantragte am 21. 8. 2014 beim Bezirksgericht Scheibbs ua, ihm die alleinige Obsorge über die beiden im Spruch genannten minderjährigen ehelichen Kinder, sowie über das weitere eheliche Kind J***** E*****, geboren am ***** 2002, zu übertragen.

Mit Beschluss vom 27. 8. 2014 sprach das Bezirksgericht Scheibbs aus, zur weiteren Führung „des Verfahrens“ nicht zuständig zu sein. Es überwies das Verfahren hinsichtlich der beiden im Spruch genannten Kinder gemäß § 44 JN an das Bezirksgericht Reutte, in dessen Sprengel die beiden genannten Kinder bereits im Zeitpunkt der Antragstellung ihren ständigen Aufenthalt gehabt hätten.

Dieser Beschluss erwuchs unangefochten in Rechtskraft.

Das Bezirksgericht Reutte lehnte mit Beschluss vom 1. 10. 2014 die Übernahme der Zuständigkeit des Pflegschaftsverfahrens für die beiden im Spruch genannten Kinder ab und sprach aus, dass es zur Führung eines solchen Pflegschaftsverfahrens nicht zuständig sei. Die beiden im Spruch genannten Kinder hätten zum Zeitpunkt der Antragstellung im Sprengel des Bezirksgerichts Scheibbs gelebt, sodass das Verfahren zutreffend bei diesem nach § 109 Abs 1 JN zuständigen Gericht anhängig gemacht worden sei. Wenn daher das zuständige Bezirksgericht Scheibbs, das auch Erhebungen durchgeführt habe, die Rechtssache an das Bezirksgericht Reutte überweise, so handle es sich bei diesem Beschluss ungeachtet der Bezeichnung nicht um eine Übertragung gemäß § 44 JN, sondern tatsächlich um eine Übertragung der Zuständigkeit gemäß § 111 JN. Eine solche liege hier jedoch nicht im Interesse der Kinder.

Auch dieser Beschluss erwuchs unangefochten in Rechtskraft.

Das Bezirksgericht Reutte legte den Akt dem Obersten Gerichtshof neuerlich (9 Nc 29/14k) mit der Bitte um Entscheidung über den Zuständigkeitsstreit vor.

Rechtliche Beurteilung

1. Der Beschluss des Bezirksgerichts Scheibbs ist, wie bereits in der Vorentscheidung 9 Nc 29/14k ausgeführt, eindeutig als Überweisungsbeschluss gemäß § 44 JN bezeichnet und kann daher nicht in einen Übertragungsbeschluss gemäß § 111 JN umgedeutet werden (9 Nc 9/11i). Es liegt daher ein negativer Kompetenzkonflikt gemäß § 47 JN vor.

2. Die Entscheidung nach § 47 JN hat beim Obersten Gerichtshof gemäß § 6 OGHG im Fünfersenat zu erfolgen (RIS‑Justiz RS0126085).

3. Die Anrufung des gemeinsam übergeordneten Gerichtshofs in einem negativen Kompetenzkonflikt nach § 47 JN setzt voraus, dass die beiden konkurrierenden Gerichte rechtskräftig über ihre (Un‑)Zuständigkeit zur Entscheidung über die (gleiche) Rechtssache abgesprochen und diese verneint haben (vgl RIS‑Justiz RS0046299 [T1]; RS0118692 [T2 und T3]). Diese Voraussetzung liegt nunmehr vor.

4. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist die Regelung der (vorläufigen und endgültigen) Obsorge für die minderjährigen Kinder, über die gemäß den §§ 104 ff AußStrG im Verfahren außer Streitsachen zu entscheiden ist; örtlich zuständig ist gemäß § 109 Abs 1 JN das Gericht, in dessen Sprengel der Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

5. Im vorliegenden Zuständigkeitsstreit haben zwei Gerichte rechtskräftig ihre örtliche Zuständigkeit verneint. Die (jüngere) Entscheidung des Bezirksgerichts Reutte missachtete aber, dass der Überweisungsbeschluss unabhängig von seiner Zustellung an die Parteien (vgl RIS‑Justiz RS0046363) für das Adressatgericht solange maßgebend bleibt, als er nicht in höherer Instanz rechtskräftig abgeändert wird (RIS‑Justiz RS0081664). Das Adressatgericht kann daher nicht seine Unzuständigkeit mit der Begründung aussprechen, das überweisende Gericht sei zuständig (RIS‑Justiz RS0046315; RS0002439).

6. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs kann das Gericht, an das überwiesen wurde, dieser Bindungswirkung auch nicht dadurch entgehen, dass es seinen Unzuständigkeitsbeschluss noch vor Eintritt der Rechtskraft des Überweisungsbeschlusses fasst (RIS‑Justiz RS0081664 [T1]; RS0046391 [T6]). Auf die Bindungswirkung des Überweisungsbeschlusses ist bei der Entscheidung nach § 47 JN daher auch dann Bedacht zu nehmen, wenn der Unzuständigkeitsbeschluss des Gerichts, an das die Sache überwiesen wurde, wie hier noch vor Eintritt der Rechtskraft des Überweisungsbeschlusses erfolgte (RIS‑Justiz RS0046391 [T8]). Die gegenteilige Auffassung in der Lehre (vgl nur Schneider in Fasching/Konecny³ I § 44 JN Rz 28 ‑ 30 mwH) wurde vom Obersten Gerichtshof bereits mehrfach abgelehnt (vgl nur jüngst 4 Nc 2/13a mzwH; RIS‑Justiz RS0046391 [T9]).

7. Der Beschluss des Bezirksgerichts Reutte vom 1. 10. 2014 (ON 4), mit dem es seine Unzuständigkeit aussprach und in der Begründung ausführte, dass das Verfahren richtigerweise beim Bezirksgericht Scheibbs als dem zuständigen Gericht anhängig gemacht worden sei, verletzte die Bindungswirkung des vorausgehenden Überweisungsbeschlusses des Bezirksgerichts Scheibbs und war daher ‑ ohne Prüfung der Frage seiner Richtigkeit RIS‑Justiz RS0046391 [T10]) ‑ aufzuheben.

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