OGH 7Ob148/14m

OGH7Ob148/14m5.11.2014

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Vizepräsidentin Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Hoch, Dr. Kalivoda, Mag. Dr. Wurdinger und Mag. Malesich als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei W***** P*****, vertreten durch Ing. Mag. Klaus Helm, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei O***** AG, *****, vertreten durch Musey Rechtsanwalt GmbH in Salzburg, wegen 11.206,46 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 25. März 2014, GZ 35 R 2/14p‑15, womit das Urteil des Bezirksgerichts Linz vom 20. November 2013, GZ 16 C 1329/13h‑11, teilweise abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:0070OB00148.14M.1105.000

 

Spruch:

Die Urteile der Vorinstanzen werden, soweit nicht die Stattgebung hinsichtlich 1.586,17 EUR samt 4 % Zinsen seit 12. 4. 2013 bereits in Rechtskraft erwachsen ist (Punkt 1 des Urteils des Berufungsgerichts), aufgehoben. Die Rechtssache wird im Umfang der restlichen 9.620,29 EUR samt 4 % Zinsen seit 12. 4. 2013 und im Kostenpunkt zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

Dem Unfallversicherungsvertrag zwischen den Parteien liegen die Allgemeinen Bedingungen für die Unfallversicherung (AUVB 1999) zu Grunde. Diese lauten auszugsweise:

Art 15 ‑ Verfahren bei Meinungs‑ verschiedenheiten (Ärztekommission):

1. Im Fall von Meinungsverschiedenheiten über Art und Umfang der Unfallfolgen oder darüber, in welchem Umfang die eingetretene Beeinträchtigung auf den Versicherungsfall zurückzuführen ist, ferner über die Beeinflussung der Unfallfolgen durch Krankheit oder Gebrechen sowie im Fall des Art 7.6. entscheidet die Ärztekommission.

...

4. Für die Ärztekommission bestimmen Versicherer und Versicherungsnehmer je einen in der österreichischen Ärzteliste eingetragenen Arzt. Wenn ein Vertragsteil innerhalb zweier Wochen nach schriftlicher Aufforderung keinen Arzt benennt, wird dieser von der für den Wohnsitz des Versicherten zuständigen Ärztekammer bestellt. Die beiden Ärzte bestellen einvernehmlich vor Beginn ihrer Tätigkeit einen weiteren Arzt als Obmann, der für den Fall, dass sie sich nicht oder nur zum Teil einigen sollten, im Rahmen der durch die Gutachten der beiden Ärzte gegebenen Grenzen entscheidet.

...

6. Die Ärztekommission hat über ihre Tätigkeit ein Protokoll zu führen; in diesem ist die Entscheidung schriftlich zu begründen. Bei Nichteinigung hat jeder Arzt seine Auffassung im Protokoll gesondert niederzulegen. Ist eine Entscheidung durch den Obmann erforderlich, legt auch er sie mit Begründung in einem Protokoll nieder. Die Akten des Verfahrens werden vom Versicherer verwahrt.

7. Die Kosten der Ärztekommission werden von ihr festgesetzt und sind im Verhältnis des Obsiegens vom Versicherer und Versicherungsnehmer zu tragen. ... Der Anteil der Kosten, die der Versicherungsnehmer zu tragen hat, ist mit 5 % der für Tod und Invalidität zusammen versicherten Summe, höchstens jedoch mit 50 % des strittigen Betrags begrenzt.

Der Kläger verletzte sich am 13. Jänner 2013 bei einem Skiunfall an der linken Schulter. Der von der Beklagten zugezogene Sachverständige Dr. Udo W***** kam in seinem Gutachten zu einer Gesamtinvalidität von 20 % vom Armwert (70 %). Er nahm eine nicht kausale Mitwirkung der nicht dem Alter des Versicherungsnehmers entsprechenden Veränderungen im Bereich des linken Schultergelenks von 75 % an. Der Kläger beauftragte daraufhin Dr. Werner K***** mit der Erstellung eines Gutachtens. Dieser kam zu einer Gesamtinvalidität von 25 % des Armwerts und stellte keine nicht unfallbedingte Mitwirkung fest. Im Röntgen seien keine Kalkverschattungen, sondern es sei ein Fragment zu erkennen.

Im Hinblick auf die widersprüchlichen Gutachten wurde eine Ärztekommission unter Vorsitz von Dr. Günther G***** einberufen, wobei der Kläger Dr. Werner K***** und die Beklagte Dr. Udo W***** zu Mitgliedern bestellten. Der Vorsitzende der Kommission begutachtete den Kläger vor der Sitzung der Ärztekommission vom 11. 3. 2013. Im Protokoll der Sitzung ist Folgendes festgehalten:

„Die Bemessungsgrenzen für die unfallkausale Dauerinvalidität durch die beiden Sachverständigen wurden zwischen 10 % Armwertminderung links (Dr. Udo W*****) und 25 % Armwertminderung links (Dr. Werner K*****) gesetzt.

Herr Dr. Udo W***** bestätigt nochmals, dass er nunmehr als seine Bemessung 20 % Armwertminderung unter Abzug von 50 % Mitwirkung, also 10 % unfallkausale Armwertminderung, in dieser Kommission vertreten will.

...

Sowohl Herr Dr. Werner K***** als auch Herr Dr. Udo W***** stimmen dem Vorschlag des Obmanns zu, dass die Mitwirkung im Sinne der Mitwirkungsregel mit 25 %, und nicht mit 50 % bzw 0 % zu bemessen ist.

...

Die Bewegungsausmaße, wie sie bei Herrn Dr. W***** und bei Herrn Dr. K***** festgestellt wurden, zeigten relativ wenig Differenzen.

Herr Dr. K***** meint nun, dass in dieser Kommission nur über die Differenzen bezüglich der Mitwirkung abzusprechen ist. Er wird dahingehend vom Obmann aufgeklärt, dass in der Kommission die letztendlich entstehende unfallkausale Dauerinvalidität zu bestimmen ist und eine solche aus einer Gesamtdauerinvalidität unter Abzug einer allenfalls bestehenden und in diesem Fall mit 25 % bereits einvernehmlich festgelegten Mitwirkung entsteht.

Es kann laut Meinung des Obmanns nicht sein, dass in diesem Ärztekommissionsverfahren nunmehr zwischen 20 % und 25 % Armwertminderung zu entscheiden ist, sondern ist die Entscheidung zwischen 10 % Armwertminderung und 25 % Armwertminderung durch die Kommission herbeizuführen.

...

Bei der Weiterführung der Diskussion berichtet der Obmann der Kommission über die von ihm erhobenen Befunde vom 12. 12.  2010 (sic!) und gibt bekannt, dass überraschenderweise im Vergleich zu den beiden anderen Gutachten eine weit bessere Beweglichkeit nunmehr besteht.

Bei der Berechnung des Gesamtdefizits, wie obig bereits durchgeführt, ergeben sich lediglich 115 Grad Einschränkung in allen drei angeführten Ebenen und somit auch eine bessere Funktion als in den Gutachten von Herrn Dr. Udo W***** und Herrn Dr. K*****.

...

Für die restlichen Aspekte an der linken Schulter, nämlich ..., ergeben sich weitere 5 %, sodass der Obmann der Kommission die Meinung vertritt, dass höchstens 15 % Armwertminderung in Summe laut seinen Untersuchungsbefunden anzuerkennen sind.

Dies wird auch von Herrn Dr. W***** anerkannt.

Herr Dr. K*****, dem nochmals bescheinigt wird, dass seine festgestellte 25%ige Armwertminderung seinen erhobenen Befunden entspricht, beharrt nach wie vor auf den von ihm angenommenen Grenzen und ist auch mit der Erwartung in die Kommission eingetreten, dass die von ihm angenommenen Grenzen ‑ also 20 % bis 25 % Armwertminderung ‑ hier anzuwenden sind.

Unter dem Aspekt, dass sich die Beweglichkeit nun doch gebessert haben könnte, ist Herr Dr. K***** bereit, 20 % Armwertminderung und in der Folge auch 17,5 % Armwertminderung anzuerkennen, wobei der Obmann der Kommission in Übereinstimmung mit Herrn Dr. W***** dazu angibt, dass eine Aufwertung der Bemessung des Obmanns nicht mehr möglich ist und keine höhere Armwertminderung entsprechend der geltenden Literatur und insbesondere entsprechend dem vom Obmann der Kommission erhobenen Befund sich ergeben kann.

Auf nochmaliges Befragen schließt sich Herr Dr. K***** der Meinung des Obmanns an, dass 15 % Armwertminderung den nunmehr vorliegenden Befunden entsprechend sind.

Herr Dr. K***** wiederholt nochmals seine Argumente und vertritt die Meinung, dass er schlechtere Bewegungswerte erhoben hat und sich auch nach diesen ‑ zumindest teilweise ‑ richten müsse.

Es wird von Herrn Dr. K***** als letztes Angebot vorgeschlagen, 17,5 % Armwertminderung abzüglich 25 % Mitwirkung als einvernehmliche Lösung zu akzeptieren.“

Da in der Ärztekommission letztlich keine einvernehmliche Lösung gefunden werden konnte, setzte der Obmann die Dauerinvalidität beim Kläger auf Grund des Unfallereignisses vom 13. Jänner 2010 mit 15 % des Armwerts links fest. „Einvernehmlich werden 25 % Mitwirkung durch unfallfremde Erkrankungen in Abzug gebracht. Das ergibt somit eine bereinigte Dauerinvalidität von 11,25 % des gesamten Armwerts links“.

Die Ärztekommission bestimmte ihre Kosten mit 6.920,48 EUR. Auf Basis der Entscheidung errechnete die Beklagte eine Dauerinvaliditätsentschädigung von 22.891,94 EUR und brachte davon 6.344 EUR an den Kosten der Ärztekommission in Abzug. Sie ging dabei von einer Obsiegensquote des Klägers von 8,33 % aus.

Der Kläger begehrt 11.206,46 EUR samt Zinsen mit folgender Begründung: Nach Art 15.4. AUVB 1999 sei der Obmann nur berechtigt, innerhalb der durch die Gutachten der beiden Ärzte gegebenen Grenzen zu entscheiden. Er hätte daher eine nicht kausale Mitwirkung zwischen 0 % und 75 % und eine Armwertminderung nur zwischen 20 % und 25 % feststellen dürfen. Der Obmann habe seiner Entscheidung eine 15%ige Invalidität zu Grunde gelegt und damit diese Grenze unterschritten. Die Beklagte hätte die Regulierung auf Basis einer Armwertminderung von 20 % und einer nicht unfallkausalen Mitwirkung von 25 % vornehmen müssen. In diesem Fall hätte der Kläger mit 60 % seines Anspruchs obsiegt, sodass er lediglich 40 % der Kosten zu tragen hätte. Selbst unter Zugrundelegung einer bereinigten Dauerinvalidität von 11,25 % hätte bei der Ermittlung der Kostenquote berücksichtigt werden müssen, dass der Gutachter der Beklagten in der Ärztekommission seinen ursprünglichen Standpunkt zur nicht kausalen Mitwirkung aufgegeben habe. Der Kläger sei mit 31,25 % und nicht nur mit 8,33 % durchgedrungen.

Die Beklagte beantragt die Abweisung der Klage. Ausgehend von der von Dr. W***** vertretenen Dauerinvalidität von 20 % des Armwerts und Abzug von 50 % nicht kausaler Mitwirkung sei von einer Untergrenze von 10 % unfallkausaler Armwertminderung auszugehen. Der Obmannentscheid habe sich daher im Rahmen der beiden Gutachten bewegt. Ausgehend von der durch den Gutachter der Beklagten zugestandenen 10%igen kausalen Armwertminderung habe der Kläger im Ärztekommissionsverfahren lediglich mit 1,25 % von 15 % obsiegt, was einer Quote von 8,33 % entspreche. Die Beklagte habe die geschuldete Leistung vollständig erbracht.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Dr. W***** habe sich der Meinung des Obmanns angeschlossen, dass höchstens 15 % Armwertminderung anzuerkennen sei. Damit bilde dieser Invaliditätswert die (neue) Entscheidungsgrenze des Obmanns, die nicht unterschritten worden sei. Hinsichtlich des Abzugs für nicht kausale Vorschäden habe eine Einigung auf 25 % bestanden. Die Kommission müsse auf geänderte Umstände Rücksicht nehmen können. Andernfalls müsste eine unrichtige Entscheidung auf Basis eines offenkundig nicht mehr aktuellen Befunds getroffen werden.

Das Berufungsgericht änderte die Entscheidung teilweise ab und gab dem Klagbegehren unter Abweisung des Mehrbegehrens im Umfang von 1.586,17 EUR sA statt. Dem Wortlaut des Art 15.4. AUVB 1999 lasse sich nicht entnehmen, was unter den „durch die Gutachten der beiden Ärzte gegebenen Grenzen“ zu verstehen sei. Die vom Obmann getroffene Entscheidung bewege sich im vorgegebenen Rahmen zwischen 5 % (Dr. W*****: 20 % Armwertminderung minus 75 % Mitwirkung) und 25 % (Dr. K*****: 25 % Armwertminderung abzüglich 0 % Mitwirkung). Zum selben Ergebnis komme man bei der Heranziehung des von Dr. W***** zu Beginn der Sitzung der Ärztekommission mündlich geäußerten Standpunkts, nunmehr eine 10%ige Invalidität (20 % Armwertminderung unter Abzug von 50 % Mitwirkung) vertreten zu wollen, was immer noch einer Bemessungsuntergrenze von 10 % entspreche. Abgesehen davon sei ein Verfahrensmangel nur beachtlich, wenn er zu einer erheblichen Abweichung im Sinn des § 184 Abs 1 VersVG führe. Vergleiche man die festgestellten 11,25 % mit dem vom Kläger letztlich gewünschten Ergebnis einer 15%igen Dauerinvalidität, so sei die Differenz nicht erheblich und die Entscheidung der Ärztekommission damit verbindlich. Der Kläger habe mit 31,25 % obsiegt. Dr. W***** habe eine bereinigte Dauerinvalidität von 5 % zugestanden, der Kläger habe 25 % gefordert. Für das Obsiegen sei der Betrag, der einer 20%igen Armwertminderung entspreche, relevant. Nach Saldierung mit der zustehenden Versicherungsentschädigung ergebe dies den zugesprochenen Betrag.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil Judikatur zur Auslegung von Art 15.4. AUVB 1999 fehle, insbesondere, ob eine Entscheidung des Obmanns der Ärztekommission außerhalb der durch die beiden Ärzte vorgegebenen Grenzen lediglich als Verfahrensfehler im Sinn des § 184 Abs 1 VersVG anzusehen sei oder vielmehr bereits eine geringfügige Abweichung zur Unverbindlichkeit der Entscheidung der Ärztekommission führe.

Gegen den klagsabweisenden Teil der Entscheidung richtet sich die Revision des Klägers mit einem Abänderungsantrag, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, sie ist auch im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt.

Sollen nach dem Vertrag einzelne Voraussetzungen des Anspruchs aus der Versicherung oder das Maß der durch den Unfall herbeigeführten Einbußen an Erwerbsfähigkeit durch Sachverständige festgestellt werden, so ist die getroffene Feststellung nicht verbindlich, wenn sie offenbar von der wirklichen Sachlage erheblich abweicht. Die Feststellung erfolgt in diesem Fall durch Urteil (§ 184 Abs 1 VersVG).

Die Vereinbarung der Einrichtung einer Ärztekommission stellt einen Schiedsgutachtervertrag im Sinn des § 184 Abs 1 VersVG (vgl auch § 64 Abs 1 VersVG) dar (RIS‑Justiz RS0081371). Die Ärztekommission hat den Zweck, für den Versicherungsnehmer eine rasche und kostengünstige Entscheidung über die Höhe des Invaliditätsgrades herbeizuführen (RIS‑Justiz RS0116382). Nur im Fall des § 184 Abs 1 VersVG hat die Feststellung durch gerichtliches Urteil zu erfolgen, während die Einrichtung einer Ärztekommission ansonsten im Sinn der angestrebten Kosten‑ und Zeitersparnis eine Gerichtsentscheidung erübrigen soll (7 Ob 120/10v ua). „Offenbar“ im Sinn der zitierten Bestimmung weicht eine Sachverständigenfeststellung nach ständiger Rechtsprechung von der Wirklichkeit nur dann ab, wenn sich ihre Unrichtigkeit dem Sachkundigen aufdrängt (RIS‑Justiz RS0080431). Die nicht bedingungsgemäß erfolgte Feststellung der Ursache und der Höhe des Schadens durch Sachverständige kann zur Folge haben, dass sie für die Parteien nicht bindend ist (RIS‑Justiz RS0082506).

Zur vergleichbaren deutschen Rechtslage vertritt auch der BGH in der Entscheidung II ZR 21/65 die Ansicht, dass die Entscheidung des Obmanns über strittige Punkte für die Partei nur verbindlich sei, wenn sie sich innerhalb der Grenzen der von den Sachverständigen der Parteien getroffenen Feststellungen halte. Der Obmann sei daran zwingend gebunden, weil die Parteien sich mit einer endgültigen Entscheidung nur abfinden hätten wollen, wenn diese durch die Feststellungen ihrer Sachverständigen, denen sie die Wahrnehmung ihrer Interessen anvertraut hätten, begrenzt werde. Überschreite der Obmann die ihm gesetzten Grenzen, so fehle es für seine Tätigkeit als Schiedsgutachter an der dafür erforderlichen Rechtsgrundlage. Sein Spruch sei unwirksam, ohne dass es noch einer sachlichen Überprüfung auf offenbare Unrichtigkeit bedürfe (VersR 1967, 1141). Diese Ansicht wird auch im deutschen Schrifttum vertreten ( Halbach in Langheid/Wandt , Münchener Kommentar, § 84 VVG Rn 32 f; Voit in Prölss/Martin , VVG 28 , § 84 Rn 20 ff; Beckmann in Honsell , Berliner Kommentar, § 64 VVG Rn 16, 23, 26; Johannsen in Bruck/Möller , VVG 9 , § 84 Rn 52, 55; dieselbe in van Bühren , Handbuch Versicherungsrecht 5 , 2599).

Setzt sich der Obmann über die ihm durch Art 15.4. AUVB 1999 von den Parteien eingeräumten Grenzen seiner Entscheidung hinweg, so ist dieser Verfahrensmangel so gravierend, dass die Entscheidung der Ärztekommission unverbindlich ist, und zwar unabhängig davon, ob (zusätzlich) das Ergebnis offenbar von der wirklichen Sachlage erheblich abweicht oder nicht. Das Gericht hat in diesem Fall nach § 184 Abs 1 VersVG den Invaliditätsgrad selbständig zu prüfen.

Der Oberste Gerichtshof hat bei der Beurteilung der Verbindlichkeit eines Gutachtens über die Schadenshöhe nach § 14 der Allgemeinen Bedingungen für die Fahrzeug‑Kaskoversicherung (AKB) ausgesprochen, dass es nicht auf einzelne Positionen, sondern auf das Gesamtergebnis des Gutachtens ankomme (RIS‑Justiz RS0080501).

Der BGH hat in seiner Entscheidung II ZR 142/87 (VersR 1988, 372) vertreten, dass sich die durch die beiden Gutachten gezogenen Grenzen nicht nur auf die Gesamtsumme, sondern auch auf die zu den einzelnen Punkten genannten Teilbeträge beziehen. Dazu wird im deutschen Schrifttum unter Hinweis auf eine frühere Entscheidung des Bundesgerichtshofs ohne nähere Begründung die Ansicht vertreten, dass es bei einer Abweichung nur auf das Gesamtergebnis und nicht auf die Bewertung von Einzelposten ankomme ( Voit , aaO Rn 25; Johannsen, aaO Rn 59).

Art 15.4. AUVB 1999 regelt für den Fall, dass die beiden Ärzte der Ärztekommission keine Einigung erzielen können, dass der Obmann den Ausschlag geben soll. Er soll entscheiden, welche der beiden Ansichten der Kollegen die richtige ist oder gegebenenfalls eine Zwischenlösung finden. Nicht hingegen obliegt es ihm, über die in Art 15.1. AUVB genannten Fragen völlig eigenständig zu urteilen. Er muss sich an die vorgegebenen Grenzen von den anderen beiden Mitgliedern der Ärztekommission halten. Um ihren Sinn erfüllen zu können, kann sich die Bestimmung des Art 15.4. AUVB nicht nur auf die Gesamtsumme (ein Ergebnis) beziehen, sondern muss auch die getrennt und selbständig beurteilten Einzelpositionen (Parameter) umfassen, über die auch gesondert verhandelt werden kann. Insofern ist der vorhin zitierte Rechtssatz RIS‑Justiz RS0080501, der zu einem nicht vergleichbaren Fall erging, zu präzisieren. Nur so wird unterbunden, dass der Obmann allein und ohne Bindung an die Vorgaben der beiden anderen Ärzte über die von der Ärztekommission im Einzelnen zu prüfenden Fragen entscheidet. Wäre er nur an die jeweils vom Endergebnis (hier von Armwertminderung und Mitwirkungsanteil) vorgegebenen Grenzen gebunden, könnte er die dazu führenden Parameter nach seinem Belieben so festsetzen, dass sich bloß das Endergebnis im Rahmen hält. Er könnte sich sogar über die gleichlautende Beurteilung der beiden Gutachter hinwegsetzen.

In diesem Sinn gibt es im vorliegenden Fall zwei selbständig zu ermittelnde Parameter zur Festlegung des Invaliditätsgrades. Einerseits kommt es auf den eingetretenen Invaliditätsgrad insgesamt (Prozent des Armwerts), andererseits auf das Ausmaß der nicht kausalen Mitwirkung des Vorzustands des Versicherungsnehmers an. Hinsichtlich des Invaliditätsgrads insgesamt vertrat der Gutachter der Beklagten eine 20%ige Invalidität, der Gutachter des Klägers eine 25%ige Invalidität. Dies bedeutet, dass der Obmann bei der Ermittlung der unfallbedingten dauernden Invalidität nur innerhalb dieser Bandbreite entscheiden darf. Es steht dem Obmann nicht zu, abweichend von beiden Gutachtern die Meinung zu vertreten, dass höchstens eine 15%ige Armwertminderung gegeben sei. Es steht ihm aber auch nicht zu, einen der Gutachter in der Ärztekommission anzuleiten, nunmehr (ohne eigene Befundung, sondern nur von den Angaben des Obmanns ausgehend) zu behaupten, dass er der Ansicht des Obmanns folge. Dies würde nämlich den Sinn und Zweck des Art 15.4. AUVB 1999 unterlaufen. Der Invaliditätsgrad soll nämlich von drei verschiedenen Ärzten unabhängig voneinander begutachtet werden, wovon lediglich zwei in ihrer Beurteilung frei sind, der Dritte sich jedoch ‑ wie dargelegt ‑ innerhalb der Grenzen der Gutachten der anderen Mitglieder der Ärztekommission zu halten hat, auch wenn er diese für unrichtig hält. Gibt der Obmann seine eigene Beurteilung ohne Rücksicht auf die vorgegebenen Grenzen kund, verlässt er seine ihm zugedachte (neutrale) Position.

Der Obmann hat im vorliegenden Fall seinen Entscheidungsspielraum und damit seine ihm von den Parteien in Art 15.4. AUVB 1999 vorgegebene Kompetenz überschritten. Damit ist die gesamte Entscheidung der Ärztekommission unverbindlich. Das Gericht muss daher eigenständig den Invaliditätsgrad prüfen. Dies hat im fortzusetzenden Verfahren zu geschehen.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

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