OGH 6Ob116/14y

OGH6Ob116/14y28.8.2014

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.‑Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen Raphael J***** K***** A*****, geboren am 19. Februar 2009, *****, Paraguay, über den Revisionsrekurs der Mutter L***** M***** A***** C*****, vertreten durch Mag. Andrea Posch, Rechtsanwältin in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 12. Mai 2014, GZ 44 R 197/14t‑59, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 3. März 2014, GZ 79 PS 125/11i‑53, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:0060OB00116.14Y.0828.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

 

Begründung:

Der derzeit im 6. Lebensjahr stehende Raphael ist der Sohn des Dr. K***** B***** K*****, eines deutschen Staatsangehörigen, und der L***** M***** A***** C*****, einer Staatsangehörigen der Republik Paraguay, deren in Österreich geschlossene Ehe nach wie vor aufrecht ist.

Raphael ist deutscher Staatsangehöriger und lebte bis August 2011 mit seinen Eltern in Wien. Nach einem Streit zog die Mutter am 28. 8. 2011 ohne Wissen des Vaters mit Raphael aus der Ehewohnung aus; die Mutter übersiedelte mit Raphael nach Paraguay, wo sich nunmehr deren Aufenthaltsort befindet. In Paraguay ist ein Obsorgeverfahren zwischen den Eltern anhängig.

Der Vater stellte zunächst am 15. 11. 2011 in Österreich einen Antrag auf Rückführung Raphaels nach dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung, BGBl 512/1980, (HKÜ), der jedoch am 10. 2. 2012 mit der Begründung rechtskräftig abgewiesen wurde, Paraguay sei zwar Vertragsstaat dieses Übereinkommens, es sei jedoch im Verhältnis zu Österreich noch nicht in Kraft getreten (gewesen). Daraufhin beantragte der Vater am 19. 4. 2012 die alleinige Obsorge für Raphael.

Die Mutter wendete mangelnde internationale Zuständigkeit österreichischer Gerichte für diese Obsorgeentscheidung ein.

Das Erstgericht verneinte die internationale Zuständigkeit unter Hinweis auf § 110 JN.

Das Rekursgericht bejahte die internationale Zuständigkeit unter Hinweis auf Art 7 des Übereinkommens über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern, BGBl III 49/2011, (KSÜ); die Mutter habe Raphael widerrechtlich nach Paraguay verbracht. Darüber hinaus erklärte das Rekursgericht den ordentlichen Revisionsrekurs für zulässig; es fehle Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu den Voraussetzungen der perpetuatio fori nach Art 7 KSÜ.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig; er ist auch berechtigt.

1.  Raphael lebte von seiner Geburt 2009 bis August 2011 zusammen mit seinen Eltern in Österreich, womit von seinem gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich sowohl nach Art 8 Abs 1 Brüssel IIa‑VO als auch nach Art 5 Abs 1 KSÜ auszugehen war. Dass die Mutter, wie sie nun in ihrem Revisionsrekurs ausführt, als Mitglied des diplomatischen Dienstes des Außenministeriums der Republik Paraguay von vorneherein nur bis Ende 2010 beziehungsweise September 2011 in Österreich bleiben hätte sollen, ändert daran nichts. Für die Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinn der genannten Bestimmungen kommt es nicht auf die Absicht an, dauernd an einem Ort verbleiben zu wollen, sondern darauf, ob jemand tatsächlich einen Ort zum Mittelpunkt seines Lebens, seiner wirtschaftlichen Existenz und seiner sozialen Beziehung macht (5 Ob 104/12y iFamZ 2013 [ Fucik ]).

2.1.  Zum Zeitpunkt der Antragstellung im vorliegenden Obsorgeverfahren am 19. 4. 2012 ‑ bei dem bereits zuvor eingeleiteten Rückführungsverfahren nach dem HKÜ handelte es sich nicht um ein Obsorgeverfahren (RIS‑Justiz RS0108469) ‑ lebte Raphael bereits seit etwa acht Monaten in Paraguay und besuchte dort den Kindergarten; bereits zu diesem Zeitpunkt war eine Rückkehr nach Österreich nicht geplant. Da zum einen Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nicht Voraussetzung eines gewöhnlichen Aufenthalts ist (6 Ob 217/12y iFamZ 2013/78 [ Fucik ]) und zum anderen ein solcher regelmäßig nach einer Aufenthaltsdauer von sechs Monaten angenommen werden kann (5 Ob 104/12y), wobei auch die letztlich maßgeblichen Umstände des konkreten Einzelfalls (5 Ob 104/12y) hier dafür sprechen (die Mutter Raphaels ist in Paraguay aufgewachsen, verfügt dort noch über ihre Familie und ist beim Außenministerium der Republik Paraguay beschäftigt), teilt der Oberste Gerichtshof die vom Erstgericht vertretene Meinung, dass Raphael zum Zeitpunkt der Einleitung des vorliegenden Obsorgeverfahrens seinen gewöhnlichen Aufenthalt bereits in Paraguay begründet hatte.

2.2.  Damit stellt sich aber die vom Rekursgericht aufgeworfene Frage nach der perpetuatio fori gar nicht, weil Raphael seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht während des Obsorgeverfahrens, sondern bereits vorher verlegte. Damit kommen aber weder Art 8 Brüssel IIa‑VO noch Art 5 KSÜ zur Anwendung. Die Frage der internationalen Zuständigkeit ist hier ‑ wie das Erstgericht richtig erkannt hat ‑ nach dem subsidiär anzuwendenden ( L. Fuchs in Gitschthaler/Höllwerth , AußStrG [2013] § 110 JN Rz 5) § 110 JN zu beurteilen. Dass dessen Voraussetzungen gegeben wären, behauptet aber nicht einmal der Vater im Revisionsrekursverfahren (vgl auch Beck , Kindschaftsrecht² [2013] Rz 957/3).

3.  Das Rekursgericht hat die internationale Zuständigkeit Österreichs mit Art 7 KSÜ begründet, weil die Mutter Raphael im August 2011 widerrechtlich nach Paraguay verbracht habe.

3.1.  Richtig ist, dass angesichts der gemeinsamen Obsorge beider Eltern für Raphael im damaligen Zeitpunkt das Verhalten der Mutter als widerrechtlich im Sinn des Art 7 Abs 2 lit a KSÜ angesehen werden muss (zur hier noch maßgeblichen Rechtslage vor Inkrafttreten des KindNamRÄG 2013 vgl Gitschthaler in Schwimann/Kodek , ABGB 4 [2012] § 146b ABGB Rz 14 unter Hinweis auf 6 Ob 135/03a). Dass das Erstgericht ein auf das HKÜ gestütztes Rückführungsbegehren des Vaters unter Hinweis auf die fehlende Geltung des HKÜ zwischen Österreich und Paraguay abgewiesen hat, ändert daran nichts.

3.2.  Richtig ist auch, dass nach Art 7 Abs 1 KSÜ bei widerrechtlichem Verbringen des Kindes die Behörden jenes Vertragsstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, grundsätzlich (international) zuständig bleiben. Diese Bestimmung entspricht insoweit Art 10 Brüssel IIa‑VO.

3.3.  Allerdings bleibt die internationale Zuständigkeit in einem solchen Fall nur so lange erhalten, bis (Art 7 Abs 1 lit b KSÜ)

a) das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Staat erlangt hat (vgl 2.1. ); dabei muss es sich nicht um einen Vertragsstaat des KSÜ handeln, ansonsten ja bei einer widerrechtlichen Verbringung des Kindes in einen Nichtvertragsstaat die internationale Zuständigkeit des Ursprungsstaats nie enden würde, womit es hier unerheblich ist, dass Paraguay kein Vertragsstaat des KSÜ ist,

b) das Kind sich in diesem anderen Staat mindestens ein Jahr aufgehalten hat, nachdem die (weitere) sorgeberechtigte Person, hier also der Vater, den Aufenthaltsort kannte oder hätte kennen müssen (was unstrittig der Fall ist; Raphael hält sich nunmehr bereits mehr als drei Jahre in Paraguay auf),

c) kein während dieses Zeitraums gestellter Antrag auf Rückgabe mehr anhängig ist (vgl 3. 1. ), die (weitere) sorgeberechtigte Person also keine Rückführungsbemühungen (mehr) entfaltet ( Beck aaO Rz 1245/3), und

d) sich das Kind in seinem neuen Umfeld eingelebt hat; dieser von der Mutter ausdrücklich behauptete Umstand wurde vom Vater weder im Verfahren erster Instanz noch im Rechtsmittelverfahren konkret bestritten.

4.  Damit hat aber das Erstgericht zutreffend die internationale Zuständigkeit Österreichs für das vorliegende Obsorgeverfahren verneint, weshalb seine Entscheidung wiederherzustellen war.

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