OGH 6Ob126/14v

OGH6Ob126/14v28.8.2014

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.‑Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen Achille N*****, geboren am 6. Februar 2000, *****, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter Mag. N***** S*****, vertreten durch Dr. Marco Nademleinsky, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 20. Juni 2014, GZ 44 R 256/14v‑6, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 2. Mai 2014, GZ 96 PS 109/14s‑2, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:0060OB00126.14V.0828.000

 

Spruch:

Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss des Rekursgerichts wird insoweit, als er aus Anlass des Rekurses der Mutter den Beschluss des Erstgerichts als nichtig behebt und die Anträge der Mutter auf Übertragung der einstweiligen und der „endgültigen“ Obsorge für den Minderjährigen wegen fehlender internationaler Zuständigkeit zurückweist, ersatzlos behoben.

Im Übrigen wird dem Rekursgericht die Erledigung des Rekurses der Mutter gegen die Unterbrechung des Obsorgeverfahrens und des Provisorialverfahrens aufgetragen.

 

Begründung:

Der derzeit im 15. Lebensjahr stehende Achille ist das Kind des B***** N*****, eines Franzosen, und der Mag. N***** S*****, einer Ungarin, deren Ehe am 27. 11. 2009 in Brüssel, Belgien, geschieden wurde. Achille ist sowohl französischer als auch ungarischer Staatsangehöriger.

Die Familie wohnte zunächst in Brüssel, im Jahr 2005 kam es zur Trennung der Eltern. Der Vater zog nach Paris, die Mutter und Achille blieben zunächst in Brüssel, wo der Vater Achille an den Wochenenden und während der Ferien besuchte.

Anlässlich der Ehescheidung vereinbarten die Eltern unter anderem gemeinsame Obsorge für Achille, dessen Hauptaufenthalt bei der Mutter in Brüssel und seine Zweitunterbringung beim Vater in Paris an jedem zweiten Wochenende sowie während der Hälfte der Ferien.

Im Juli 2010 fuhr die Mutter mit Achille nach Ungarn und legte dort ‑ ohne Absprache mit dem Vater ‑ ab August dessen Aufenthaltsort fest. Sie schrieb Achille am französischen Lycee in Budapest ein und stellte den Antrag, ihr die alleinige Obsorge zuzuerkennen; diesen Antrag wiesen die ungarische Gerichte wegen fehlender internationaler Zuständigkeit zurück.

Am 1. 10. 2010 begehrte der Vater zunächst die Rückführung Achilles nach Brüssel, zog diesen Antrag in weiterer Folge jedoch zurück, worauf das Verfahren eingestellt wurde. Allerdings beantragte er am 25. 10. 2010 in Brüssel den Zuspruch des Hauptaufenthaltsrechts für Achille bei sich, wogegen sich die Mutter aussprach, die ihrerseits das Erstunterbringungsrecht für Achille beanspruchte. Beide Elternteile befürworteten die Aufrechterhaltung der gemeinsamen Obsorge. Nachdem weder der Vater noch die Mutter Vorladungen des belgischen Gerichts Folge geleistet hatten, wurde dem Vater am 31. 8. 2012 erstinstanzlich das Hauptaufenthaltsrecht für Achille bei sich zuerkannt; der Vater wurde ermächtigt, Achille in Paris anzumelden und in einer Schule einzuschreiben. Diese Entscheidung erklärte das belgische Gericht im Interesse Achilles für vollstreckbar.

Am 27. 1. 2014 bestätigte die 32. Kammer des Appellationshofs Brüssel zu A.R. Nr 2012/JR/245 und 2013/JR/8, Reg Nr 2014/841 diese Entscheidung, stellte eine Bescheinigung nach Art 39 Brüssel IIa‑VO aus und bestätigte die Vollstreckbarkeit. Dem Vater wurde das Recht eingeräumt, das Kind gleich an welchem Ort und gleich in welchem Land zu übernehmen; der Mutter wurde ein Zweitunterbringungsrecht zugesprochen, welches jedoch ohne schriftliche Zustimmung des Vaters nur in Frankreich ausgeübt werden darf. Schließlich wurde die Mutter verpflichtet, 500 EUR für jeden Tag, an dem sie die Unterbringung Achilles beim Vater nicht einhält, an Zwangsgeld zu bezahlen.

Achille besucht seit September 2013 eine Schule in Wien, er ist mit seiner Mutter seit Oktober 2013 an einer Wiener Adresse gemeldet.

Am 24. 4. 2014 beantragte der Vater zu 4 Ps 66/14s des Erstgerichts die Rückführung Achilles nach Frankreich. Dieser Antrag wurde am 28. 5. 2014 rechtskräftig abgewiesen; eine Rückführung nach Frankreich komme nicht in Betracht, weil Achille dort nie gelebt habe, im Übrigen besuche er seit Herbst 2013 die Schule in Österreich und möchte auch hier bleiben.

Bereits am 28. 4. 2014 hatte die Mutter die Übertragung der alleinigen Obsorge für Achille beantragt, welchen Antrag sie mit dem Antrag auf vorläufige Übertragung der Obsorge bis zur rechtskräftigen Beendigung des Obsorgeverfahrens verbunden hatte. Schließlich hatte sie den Antrag auf Nichtanerkennung der Entscheidung des Appellationshofs Brüssel vom 27. 1. 2014 gestellt.

Ohne den Vater diesem Verfahren beizuziehen, unterbrach das Erstgericht das Verfahren nach § 25 Abs 2 Z 1 AußStrG im Hinblick auf das zu 4 PS 66/14s geführte Rückführungsverfahren; über die Obsorge könne im vorliegenden Verfahren erst entschieden werden, wenn klargestellt sei, dass Achille nicht aufgrund des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung, BGBl 512/1980, (HKÜ) „zurückzugeben“ ist.

Das Rekursgericht trug ‑ in teilweiser Abänderung des erstinstanzlichen Beschlusses und insoweit rechtskräftig ‑ dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens über den Antrag der Mutter auf Nichtanerkennung der Entscheidung des Appellationsgerichtshofs Brüssel auf. Im Übrigen behob es den erstinstanzlichen Beschluss in seinem weiteren Umfang als nichtig und wies die Anträge der Mutter auf Übertragung der einstweiligen und der „endgültigen“ Obsorge wegen fehlender internationaler Zuständigkeit zurück. Den ordentlichen Revisionsrekurs ließ es nicht zu.

In der Sache selbst vertrat das Rekursgericht die Auffassung, die Entscheidung des Appellationsgerichtshofs Brüssel trage die Übergabe Achilles an den Vater auf, welcher auch binnen Jahresfrist einen Rückführungsantrag gestellt habe. Da die Mutter ohne Zustimmung des Vaters den Aufenthaltsort Achilles trotz gemeinsamer Obsorge verlegt habe, liege eine Kindesentführung im Sinn des Art 2 Z 11 Brüssel IIa‑VO vor, womit die ausschließliche Zuständigkeit belgischer Gerichte für Entscheidungen betreffend die elterliche Verantwortung gemäß Art 8, 10 Brüssel IIa‑VO aufrecht bleibe. Damit könne der Mutter in Österreich aber auch nicht die vorläufige Obsorge zugewiesen werden.

Rechtliche Beurteilung

Der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter ist zulässig; er ist auch berechtigt.

1.  Da der Vater bislang von den Vorinstanzen in das vorliegende Verfahren (noch) nicht einbezogen wurde, ist auch das Revisionsrekursverfahren einseitig. Für das weitere Verfahren wird das Erstgericht allerdings neben einer Einbeziehung des Vaters auch auf § 104 AußStrG Bedacht zu nehmen haben, ist Achille zwischenzeitig doch mündig geworden.

2.  Nach Art 8 Abs 1 Brüssel IIa‑VO sind für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Nach den eingangs wiedergegebenen Feststellungen, die zwar auf der Aktenlage basieren, jedoch ohne Miteinbeziehung des Vaters getroffen wurden, liegt die Annahme nahe, dass Achille seinen gewöhnlichen Aufenthalt Ende April 2014 (bereits) in Österreich hatte, besucht er doch seit September 2013 in Wien die Schule, wohnt mit seiner Mutter seit damals in Wien und ist dort auch seit Oktober 2013 polizeilich gemeldet. Im Beschluss des Erstgerichts vom 28. 5. 2014 zu 4 Ps 66/14s, mit dem der Rückführungsantrag des Vaters abgewiesen wurde, ist sogar von einem (gewissen) Einleben Achilles in Wien die Rede. Unter diesem Gesichtspunkt kann die internationale Zuständigkeit österreichischer Gerichte nicht ohne weitere Erhebungen verneint werden.

3.  Nach Art 8 Abs 2 Brüssel IIa‑VO geht der Regelung des Abs 1 unter anderem Art 10 Brüssel IIa‑VO vor. Nach dieser Bestimmung bleiben bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes die Gerichte des Ursprungsstaats grundsätzlich weiterhin für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, international zuständig. Dies wären ‑ jedenfalls nach Auffassung des Rekursgerichts ‑ die belgischen Gerichte, die diese Zuständigkeit auch selbst angenommen haben. Denkbar wären zwar auch die ungarischen Gerichte, hat doch Achille mit seiner Mutter von Juli 2010 bis August 2013 in Ungarn gelebt und kam er auch von Ungarn nach Österreich und nicht von Belgien; allerdings haben die ungarischen Gerichte ihre internationale Zuständigkeit letztlich mit der Begründung verneint, die Mutter habe Achille widerrechtlich nach Ungarn verbracht gehabt.

3.1.  Das Rekursgericht vertrat die Auffassung, Achille sei von seiner Mutter deshalb widerrechtlich nach Österreich verbracht worden, weil ihr der Appellationshof Brüssel die Übergabe Achilles an dessen Vater aufgetragen habe. Damit wird aber ‑ worauf die Mutter in ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs zutreffend hinweist ‑ der Zweck eines Rückführungsverfahrens nach dem HKÜ verkannt, dient dieses doch nicht der zwangsweisen Durchsetzung von Obsorgeentscheidungen. Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Appellationshofs Brüssel lebten Achille und seine Mutter ja bereits seit acht Monaten in Österreich.

3.2.  Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings die weitere Überlegung des Rekursgerichts, dass die Mutter zum Zeitpunkt der Verbringung Achilles nach Ungarn lediglich mitobsorgeberechtigt war, auch wenn ihr damals aufgrund des Scheidungsfolgenvergleichs der Hauptaufenthalt zustand. Zum Zeitpunkt der Verbringung Achilles nach Österreich wiederum hatte das belgische Gericht erster Instanz bereits entschieden gehabt, dass das Hauptaufenthaltsrecht für Achille dem Vater zustehen sollte, der auch ermächtigt wurde, Achille in Paris anzumelden und in eine Schule einzuschreiben. Diese Entscheidung hatte das belgische Gericht im Interesse Achilles für vollstreckbar erklärt. Damit spricht aufgrund der derzeit bestehenden Aktenlage aber doch auch einiges für ein widerrechtliches Verbringen Achilles (zumindest) nach Österreich.

4.  Die Frage der Widerrechtlichkeit des Verbringens Achilles zuerst nach Ungarn und dann nach Österreich braucht allerdings derzeit nicht abschließend beurteilt zu werden. Nach Art 10 Brüssel IIa‑VO endet die internationale Zuständigkeit der Gerichte des Ursprungsstaats nämlich jedenfalls, wenn das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat, was bei Achille sowohl in Ungarn gegeben war als auch nunmehr in Österreich der Fall sein dürfte. Auch die weitere Voraussetzung eines mindestens einjährigen Aufenthalts (Art 10 lit b Brüssel IIa‑VO) war in Ungarn erfüllt und scheint nach der Aktenlage nunmehr auch in Österreich erfüllt zu sein, wobei der Vater seinen ursprünglichen Rückführungsantrag vom 1. 10. 2010 zurückzog hat (Art 10 lit b ii Brüssel IIa‑VO) und sein weiterer Rückführungsantrag vom 24. 4. 2014 rechtskräftig abgewiesen wurde. Offen ist derzeit allerdings (lediglich), ob ein Verfahren nach Art 11 Abs 7 Brüssel IIa‑VO bereits abgeschlossen ist, in welchem Fall die Zuständigkeitsfrage endgültig zugunsten österreichischer Gerichte geklärt wäre (Art 10 lit b iii iVm Art 11 Abs 7 2. Unterabsatz Brüssel IIa‑VO).

5.  Da somit die Aktenlage eher dafür spricht, dass sich die internationale Zuständigkeitsfrage nach Art 8 Brüssel IIa‑VO richtet, die Voraussetzungen des Art 10 Brüssel IIa‑VO hingegen nicht beziehungsweise nicht mehr vorliegen, war der Zurückweisungsbeschluss des Rekursgerichts ersatzlos zu beheben.

6. Das Rekursgericht hat ‑ ausgehend von seiner Rechtsansicht ‑ den Rekurs der Mutter nur teilweise, nämlich hinsichtlich des Verfahrens über die Nichtanerkennung der Entscheidung des Appellationshofs Brüssel, erledigt. Die Mutter hat sich aber auch gegen die Unterbrechung des Obsorgeverfahrens und des Provisorialverfahrens gewendet, worüber das Rekursgericht nunmehr noch zu entscheiden haben wird. Dabei wird allerdings zu beachten sein, dass der vom Erstgericht herangezogene Unterbrechungsgrund, nämlich das Rückführungsverfahren zu 4 Ps 66/14s, zwischenzeitig rechtskräftig beendet ist.

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