OGH 8ObA43/14b

OGH8ObA43/14b25.8.2014

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Spenling als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kuras und Dr. Brenn sowie die fachkundigen Laienrichter ADir Brigitte Augustin und Dr. Gerda Höhrhan‑Weiguni als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei ÖBB‑Personenverkehr AG, *****, vertreten durch die Kunz Schima Wallentin Rechtsanwälte OG in Wien, gegen die beklagte Partei Betriebsrat der ÖBB‑Personenverkehr AG Bordservice Kärnten, *****, vertreten durch Pfurtscheller Orgler Huber, Rechtsanwälte in Innsbruck, wegen Teilnahme an einer Disziplinarverhandlung und Feststellung (Streitwert 12.000 EUR), über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 14. Mai 2014, GZ 7 Ra 2/14i‑30, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:008OBA00043.14B.0825.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG).

Begründung

Rechtliche Beurteilung

1. Die Klägerin steht auf dem Standpunkt, dass bei Bestehen einer Disziplinarordnung (hier ÖBB‑Disziplinarordnung 1996), die die Entlassung (hier definitiv gestellter Mitarbeiter) an ein vorgeschaltetes Disziplinarverfahren knüpft, den Betriebsrat nach § 102 ArbVG eine Mitwirkungspflicht im Sinn einer Beschickungspflicht trifft. Die Mitwirkungspflicht ergebe sich bereits aus dem Abschluss der Disziplinarordnung 1996, zumal die Belegschaftsvertretung an deren Schöpfung beteiligt gewesen sei. Nur bei Annahme einer Mitwirkungspflicht könne der Betriebsrat an der Aufrechterhaltung der Disziplin im Betrieb mitwirken; andernfalls könnte er Entlassungen vereiteln. In der Entscheidung 8 ObA 13/13i sei von verkürzten Feststellungen ausgegangen worden.

2.1 Wie das Berufungsgericht zutreffend hervorgehoben hat, betrifft die zitierte Entscheidung 8 ObA 13/13i ebenso die Frage, ob nach der ÖBB‑Disziplinarordnung 1996, also auf Basis dieser Rechtsgrundlage, der beklagte Betriebsrat einen Beisitzer in die Disziplinarkammer entsenden muss.

In dieser Entscheidung führte der Oberste Gerichtshof im Wesentlichen aus:

„Das ArbVG bindet den Arbeitgeber bzw Betriebsinhaber bei der Verhängung von Disziplinarmaßnahmen an eine gleichberechtigte Mitentscheidung des Betriebsrats (Jabornegg in Strasser/Jabornegg/Resch, ArbVG § 102 Rz 15). Die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen im Einzelfall ist nach § 102 Abs 2 ArbVG nur zulässig, wenn sie in einem Kollektivvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung nach § 96 Abs 1 Z 1 ArbVG vorgesehen ist; sie bedarf, sofern darüber nicht eine mit Zustimmung des Betriebsrats (die auch die personelle Zusammensetzung umfasst: § 62 Abs 2 BRGO) eingerichtete Stelle entscheidet, in jedem Einzelfall der Zustimmung des Betriebsrats. Gegen den Willen des Betriebsrats können betriebliche Disziplinarmaßnahmen nicht stattfinden. Dem Arbeitgeber steht nach herrschender Auffassung keine Möglichkeit zu, eine ablehnende Haltung des Betriebsrats ‑ sei es beim Abschluss einer Betriebsvereinbarung nach § 96 ArbVG oder bei der Verhängung von Disziplinarmaßnahmen im Einzelfall ‑ durch Anrufung einer Schlichtungsinstanz oder im Wege eines gerichtlichen Rechtsschutzes zu überwinden (Jabornegg, aaO § 102 Rz 4; Schrank in Tomandl, ArbVG § 102 Rz 38). Bei den Mitwirkungsrechten des § 96 ArbVG handelt es sich nicht um sogenannte Pflichtbefugnisse (zB § 89 Z 2, § 102 S 1 ArbVG; Reissner in ZellKomm² § 89 ArbVG Rz 4 mwN), die das Belegschaftsorgan zur Ausübung der Rechte der Arbeitnehmerschaft auch verpflichten. Es ist in dieser besonders sensiblen Materie eine notwendige Mitbestimmung ohne Rechtskontrolle vorgesehen. Die Freiwilligkeit der Mitwirkung in Angelegenheiten des § 96 Abs 1 ArbVG manifestiert sich nicht zuletzt auch in der jederzeitigen fristlosen Kündbarkeit einer darüber abgeschlossenen Betriebsvereinbarung, soweit diese nicht selbst Vorschriften über ihre Geltungsdauer enthält (§ 96 Abs 2 ArbVG). […] Entgegen den Revisionsausführungen lässt sich selbst aus dem Wortlaut der DisziplinarO 1996 keine durchsetzbare Verpflichtung des Beklagten zur Entsendung von Beisitzern in die Disziplinarkommission entnehmen; die Belegschaftsvertretung 'hat' nämlich nach § 15 Abs 1 DisziplinarO 1996 nicht einen Beisitzer zu entsenden, sie ist nur darum zu 'ersuchen'. Eine Regelung für den Fall, dass diesem Ersuchen nicht entsprochen wird, besteht nicht. […]“

2.2 Aus dieser Entscheidung ergibt sich klar, dass auf Basis der auch hier zugrunde liegenden Disziplinarordnung 1996 für den Betriebsrat keine durchsetzbare Verpflichtung zur Entsendung von Beisitzern in die Disziplinarkammer besteht. Der Betriebsrat hat vielmehr im Einzelfall über die Entsendung eines Mitglieds zu entscheiden. Diese Entscheidung beruht auf Freiwilligkeit; der Betriebsrat ist an keine Vorgaben gebunden.

Warum der zitierten Entscheidung „verkürzte Feststellungen“ zugrunde gelegen sein sollen, ist nicht verständlich. Die Klägerin bezieht sich in diesem Zusammenhang auf § 9 Abs 3 der Disziplinarordnung 1996 („wonach ein Beisitzer vom Unternehmen und einer von der Personalvertretung bestellt wird“) sowie auf § 15 Abs 1 leg cit („Die Heranziehung als Beisitzer kann ‑ abgesehen von den Fällen des § 17 ‑ nicht abgelehnt werden“). Eben diese Bestimmungen waren auch Gegenstand der zitierten Entscheidung, weshalb sie darin auch ausdrücklich angeführt sind.

2.3 Der Ansicht der Klägerin, dass dem Betriebsrat bloß die Auswahl der Person des (verpflichtend zu entsendenden) Beisitzers zustehe, kann damit nicht gefolgt werden. Vielmehr ist es „in der Disposition des Betriebsrats gelegen“, ob überhaupt ein Mitglied in die Disziplinarkammer entsandt wird.

Soweit die Klägerin ausführt, dass die Disziplinarordnung 1996 ohne Zustimmung der „Belegschaftsvertretung“ (seinerzeitiger Zentralausschuss) zum konkreten Prozedere des Disziplinarverfahrens und zur Besetzung der Disziplinarkommission nicht möglich gewesen wäre, ist darauf hinzuweisen, dass sich ‑ selbst bei Vorliegen einer (allenfalls iSd Art 7 Abs 4 des Bundesbahnstrukturgesetzes 2003 iVm § 69 Abs 2 des Bahn‑Betriebsverfassungsgesetzes übergeleiteten) Betriebsvereinbarung nach § 96 Abs 1 Z 1 ArbVG ‑ die Zustimmung des Betriebsrats nicht nur auf die eingerichtete Disziplinar-„Stelle“, sondern auch auf deren personelle Zusammensetzung beziehen müsste, was hier aber nicht der Fall ist.

Weiters wird darauf hingewiesen, dass es der Klägerin mit ihrem Begehren unter Zugrundelegung ihres Vorbringens darum geht, dass der beklagte Betriebsrat aus rechtlichen Überlegungen ganz allgemein, also generell und ohne Ansehung der Person des betroffenen Arbeitnehmers, verpflichtet ist, auf „Ersuchen“ des Vorsitzenden um Entsendung eines Beisitzers (§ 15 Abs 1 der Disziplinarordnung 1996) einen solchen auch zu entsenden. Die Klägerin zielt mit ihrem Begehren somit nicht darauf ab, im Einzelfall aus Gründen der Mitarbeitergleichbehandlung einen sachlich nicht gerechtfertigten Widerstand des Betriebsrats gegen die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme zu überwinden, weil die Entsendung eines Beisitzers ‑ anders als in vergleichbaren anderen Fällen ‑ nur deshalb verweigert wird, weil die betroffene Person das Wohlwollen des Betriebsrats genießt (vgl auch dazu 8 ObA 13/13i).

3.1 Die Klägerin kann sich auch nicht auf die Entscheidung 8 ObA 12/04d berufen. Diese Entscheidung betrifft die Frage der Zulässigkeit der Einschränkung des Entlassungsrechts des Arbeitgebers durch eine kollektivrechtliche Bindung an die vorgeschaltete Entscheidung einer Disziplinarkommission (vgl dazu Jabornegg in Strasser/Jabornegg/Resch, ArbVG § 102 Rz 42). In dieser Entscheidung hat der Oberste Gerichtshof ausgesprochen, dass Kündigungen und Entlassungen nicht als Disziplinarmaßnahmen iSd § 102 ArbVG angesehen werden können. Die Disziplinarkommission könne aber als „Dritter“ mit der Konkretisierung bestimmter Rechte des Arbeitgebers betraut werden. So sei es auch unter dem Aspekt eines absolut zwingenden Kerns des Entlassungsrechts des Arbeitgebers nicht bedenklich, wenn er dieses (umfassend) auf einen Dritten (Disziplinarkommission) übertrage. Im Ergebnis sei daher von einer Wirksamkeit der (Selbst‑)Bindung des Arbeitgebers an die von ihm selbst geschaffenen Dienstvorschriften hinsichtlich des bei Entlassungen einzuhaltenden Verfahrens (auch hinsichtlich der Einschränkung auf die dort geltend gemachten Entlassungsgründe), aber auch an die Entscheidung der Disziplinarkommission auszugehen. Die Grenze liege dort, wo deren Entscheidung in einer einem sachkundigen und unbefangenen Beurteiler sofort erkennbaren Weise im Kernbereich des Entlassungsrechts offensichtlich unrichtig sei.

3.2 Aus dieser Entscheidung folgt somit nicht mehr und nicht weniger, als dass dann, wenn in einem Kollektivvertrag oder einer Betriebsvereinbarung, also in einer Disziplinarordnung, die Kündigung, Entlassung oder Versetzung als Disziplinarmaßnahme vorgesehen und nur im Rahmen eines vorangestellten Disziplinarverfahrens umsetzbar ist, derartige Regelungen vom Arbeitgeber zu beachten sind, widrigenfalls seine einschlägigen Erklärungen rechtsunwirksam sind (Reissner in ZellKomm2 § 102 ArbVG Rz 23). Entgegen der Ansicht der Klägerin enthält die zitierte Entscheidung zur Frage der Pflichtenbindung auch des Betriebsrats an eine kollektivrechtliche Regelung über die Befassung und Entscheidung einer Disziplinarkommission im Vorfeld einer Entlassung aber keine Aussage. Eine Bindung auch des Betriebsrats „als Kehrseite zusätzlicher Mitbestimmungsrechte“ besteht gerade nicht, weil es sich bei der „Vorderseite der Medaille“ ausschließlich um eine Selbstbindung des Arbeitgebers handelt.

4. Auf die weiters in der außerordentlichen Revision angesprochene Frage, ob eine (gegebenenfalls) mit Zustimmung der damaligen Personalvertretung der ÖBB erlassene Disziplinarordnung aufgrund des Art 7 Abs 4 des Bundensbahnstrukturgesetzes 2003 (iVm § 69 Abs 2 des Bahn‑Betriebsverfassungsgesetzes) ab 1. 1. 2004 in eine Betriebsvereinbarung gemäß § 29 ArbVG übergeleitet wurde, kommt es nicht mehr an. Welche Konsequenzen die Klägerin in Bezug auf die Entlassung von Mitarbeitern an die Nichtmitwirkung des Betriebsrats bei der Entsendung von Beisitzern in die Disziplinarkammer knüpft, ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens.

5. Insgesamt gelingt es der Klägerin nicht, mit ihren Ausführungen eine erhebliche Rechtsfrage aufzuzeigen. Die außerordentliche Revision war daher zurückzuweisen.

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