OGH 3Ob222/13p

OGH3Ob222/13p19.12.2013

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Prückner als Vorsitzenden sowie den Hofrat Univ.‑Prof. Dr. Neumayr, die Hofrätin Dr. Lovrek und die Hofräte Dr. Jensik und Dr. Roch als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei mj F*****, vertreten durch Dr. Ulla Ulrich-Mossbauer, Rechtsanwältin in Wien, und der Nebenintervenientin T*****, vertreten durch Mag. Isabell Lichtenstrasser, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei e***** verein, *****, vertreten durch Dr. Andreas A. Lintl, Rechtsanwalt in Wien, wegen 82.946 EUR und Feststellung (10.000 EUR), infolge außerordentlicher Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 18. September 2013, GZ 15 R 161/13a‑44, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 14. Juni 2013, GZ 9 Cg 91/12m‑37, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision der beklagten Partei wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung

Mit dem angefochtenen Urteil hat das Berufungsgericht das Teilzwischenurteil des Erstgerichts bestätigt, mit dem ausgesprochen wurde, dass das gegen den beklagten Verein, den Betreiber einer Kindergruppe, gerichtete Schadenersatzbegehren (Schmerzengeld, Fahrt‑ und Pflegekostenersatz) dem Grunde nach zu Recht besteht.

Der am ***** 2007 geborene Kläger wurde am 16. November 2009 am Nachmittag von seiner Mutter, der Nebenintervenientin, abgeholt. Während die Mutter Gewand und Schuhe ihres Sohnes einsammelte, ging dieser durch die geöffnete Kinderschutztür in den Küchenbereich, öffnete den nicht versperrbaren Unterschrank unter der Spüle und trank aus einem gelben Plastikbecher, der im Schrank stand, ein Geschirrspülmittel, wodurch er sich schwere Verletzungen zuzog. Bei dem Geschirrspülmittel handelt es sich um eine ätzende Natriumhydroxidlösung, die nach dem EG‑Sicherheitsdatenblatt betreffend Gläser-Geschirr-Reiniger für Kinder unzugänglich aufzubewahren ist.

Nach Ansicht des Berufungsgerichts stellen das offenbar versehentlich unterbliebene Schließen der Gittertüre zur Küche durch die Betreuerin und die Verwahrung des Spülmittels in einem unversperrten Unterschrank grobe Sorgfaltsverstöße dar, weil damit geradezu typisch mit einem Schadensereignis wie dem dann eingetretenen gerechnet werden habe müssen. Vor allem aber die Verwahrung des Spülmittels in einem Trinkbecher von derselben Art, wie er den Kindern üblicherweise zum Trinken gereicht werde, verstoße gegen tragende Sicherheitsregeln im Umgang mit Kleinkindern. Auch wenn sich das Spülmittel in der grundsätzlich den Kindern nicht zugänglichen Küche befunden habe, sei durch die Verwahrung in einem Trinkbecher eine enorme zusätzliche Gefahr durch die „Lockwirkung“ und Verwechslung mit einem unschädlichen Getränk geschaffen worden, weil im Betrieb der Kindergruppe nicht mit Sicherheit habe ausgeschlossen werden können, dass die Sicherungstür nicht doch einmal versehentlich offen bleibe. In einer Küche vorhandene, für Kinder gefährliche Gegenstände wie scharfe Messer oder bestimmte Chemikalien, seien auch besonders zu sichern. Durch die Verwahrung des Spülmittels in einem Trinkbecher in einem unversperrten Unterschrank habe die beklagte Partei ihre Verkehrssicherungspflicht eklatant verletzt, indem sie die Gefährdung der Kinder ohne ersichtlichen Grund wesentlich erhöht habe.

Ein allfälliges (Mit‑)Verschulden der Mutter des Klägers dürfe ‑ außerhalb von Vertretungshandlungen nicht dem verletzten Kind angelastet werden; ein deliktisches Verschulden der Mutter, worauf die beklagte Partei abziele, könne die Ansprüche des Minderjährigen nicht schmälern. Abgesehen davon lasse das Verhalten der Mutter des Klägers kein relevantes Verschulden erkennen, weil sie weder damit rechnen habe müssen, dass die Betreuerin die Gittertür zur Küche nicht schließen werde, noch dass im unversperrten Unterschrank Spülmittel in einem Trinkbecher für Kinder erreichbar aufbewahrt werde. Vielmehr habe sie aufgrund der ‑ wegen der Betreuung von Kleinstkindern ‑ erhöhten Verkehrssicherungspflicht der beklagten Partei davon ausgehen können, dass die Umgebung der Kinder entsprechend sicher gestaltet sei und allfällige Gefahrenquellen beseitigt würden.

Rechtliche Beurteilung

In der außerordentlichen Revision wird von der beklagten Partei keine erhebliche Rechtsfrage dargestellt.

1. In ihrer Zulassungsbeschwerde spricht die beklagte Partei mit der Begründung, dass die hier relevanten Vorgänge des Abholens von Kindern aus dem Kindergarten jeden Tag mehrere tausend Mal stattfänden und daher den zu beantwortenden Fragen weitreichende Bedeutung zukomme, vornehmlich folgende Punkte an:

a) Es fehle an höchstgerichtlicher Rechtsprechung zur Frage, wann und wie der Übergang der Aufsichtspflicht von der Betreuungsperson der Kindergruppe an den das Kind abholenden gesetzlichen Vertreter anzunehmen sei. Auch die Frage, ob die Kindergruppenbetreuerin nach der Übergabe des Kindes an die Mutter noch Beaufsichtigungspflichten träfen, sei zu beantworten.

b) Das Berufungsgericht unterliege einer krassen Fehlbeurteilung, wenn es meine, dass die Übergabe des Klägers an die Mutter keine Bedeutung für den Sorgfaltsmaßstab der beklagten Partei habe; ab der Übergabe seien die Verkehrssicherungspflichten „weit geringer“, weil ein Kindergartenbetreiber nicht damit rechnen müsse, dass sich das übergebene Kind in den Räumlichkeiten unbeaufsichtigt und frei bewege. In diesem Sinn stelle sich auch die Frage, ob die sich aus der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht ergebenden Anforderungen auch dann weiter gelten, wenn das Kind bereits an den gesetzlichen Vertreter übergeben worden sei.

c) Hätte die Mutter auf ihr Kind ordentlich aufgepasst, wäre der tragische Vorfall nicht passiert. Durch das schuldhafte Verhalten der Mutter, die ihre Aufsichtspflicht verletzt habe, sei die Kausalitätskette im Sinne der Adäquanzlehre unterbrochen.

d) Das Berufungsgericht sei insoweit von den Feststellungen abgewichen, als es der rechtlichen Beurteilung ‑ zu Unrecht ‑ zugrunde gelegt habe, dass ein(e) Mitarbeiter(in) der beklagten Partei den Becher gefüllt und im Unterschrank der Küche deponiert habe.

ad a) Das Vorbringen der beklagten Partei impliziert eine Art von Sphärenzurechnung in der Weise, dass die beklagte Partei nur für Vorfälle haften soll, die sich in dem Zeitraum ereignen, in dem sich das Kind in der Aufsicht der Kindergruppenbetreuerin und damit der beklagten Partei befindet, während sie nicht mehr haften soll, wenn das Kind bereits in die Obhut eines Erziehungsberechtigten übergeben wurde.

Damit lässt die beklagte Partei außer Betracht, dass ihr von den Vorinstanzen eine Verletzung von Verkehrssicherungspflichten angelastet wird. Verkehrssicherungspflichten sind zum einen unabhängig vom Alter der zu schützenden Personen einzuhalten, also auch gegenüber Erwachsenen (wobei die Anforderungen höher sind, wenn mit dem Verkehr von Kindern zu rechnen ist: RIS‑Justiz RS0023819); zum anderen vollzieht sich mit dem Zeitpunkt, den die beklagte Partei ins Auge fasst, lediglich der Übergang von einer möglichen vertraglichen zu einer deliktischen Haftung. Es treffen die Vertragsparteien ‑ entsprechend den vorvertraglichen ‑ auch nachvertragliche Pflichten, sich im Hinblick auf die Rechtsgüter des Vertragspartners sorgfältig zu verhalten (RIS‑Justiz RS0119485; RS0023597 [T6]). Dazu ist darauf hinzuweisen, dass die Betreiber im Ermittlungsverfahren zur Bewilligung der Kindergruppe „über die notwendige Sicherung von Stiegen, Steckdosen, Fenstern, Herdschutzgitter, die kindgerechte Aufbewahrung von gefährlichen Stoffen und Zubereitungen (wie zB Reinigungs‑ und Desinfektionsmittel, Medikamente, Essig, uam) informiert“ wurden.

Die Unrichtigkeit der Argumentation der beklagten Partei zeigt sich darin, dass sie nach ihrem Standpunkt nicht haften würde, wenn sie beispielsweise im Winter ungesichert ein Enteisungsmittel in einem farbigen Plastiktrinkbecher oder im Sommer ein flüssiges Schädlingsbekämpfungsmittel für den Garten im Bereich der Außentreppe stehen lässt und dann entweder ein in der Kinderbetreuungseinrichtigung betreutes Kind oder ein nicht dort betreutes Kind (das beispielsweise von der abholenden Person mitgenommen wird) daraus trinkt; in diesen Fällen wäre zweifellos eine Haftung zu bejahen, denn kinderbezogene Sicherungspflichten der Art, wie sie im Ermittlungsverfahren thematisiert wurden, bestehen auch gegenüber Kindern, die in den Bereich der Kinderbetreuungseinrichtung gelangen, auch wenn sie nicht in der Einrichtung betreut werden. Die Rolle eines aufsichtspflichtigen Elternteils bzw generell der abholenden Person kann sich allenfalls in einer eigenständigen, im Regressfall zum Tragen kommenden (Mit‑)Haftung niederschlagen, vermag aber die auf seiner Sorgfaltspflichtverletzung beruhende Haftung des Betreibers der Betreuungseinrichtung nicht zu beseitigen.

ad b) Abgesehen davon, dass die beklagte Partei ‑ wie unter a) erwähnt ‑ auch nachvertragliche Schutz- und Sorgfaltspflichten treffen, die auch den Schutz vor evidenten Gefahren für die in der Kindergruppe betreuten Kinder beinhalten, bestehen allgemeine Verkehrssicherungspflichten, die auch im vorliegenden Fall einzuhalten sind.

Ob die Sorgfaltsanforderungen im deliktischen Verhältnis ‑ wie der beklagten Partei vorschwebt ‑ andere sind als im vertraglichen Bereich, muss hier nicht beantwortet werden, weil jedenfalls auch die Voraussetzungen für eine deliktische Haftung wegen der Verletzung von Verkehrssicherungspflichten erfüllt wären, die zu einer Schädigung eines absoluten Rechts des Klägers geführt hat: Die beklagte Partei hat die ihr möglichen und auch zumutbaren Maßnahmen zur Vermeidung von Gefahren für in den Gefahrenbereich gelangende Kleinstkinder verletzt.

ad c) Die Lehre vom adäquaten Kausalzusammenhang begrenzt die Schadenszurechnung; der Schädiger für alle zufälligen Folgen seines rechtswidrigen und schuldhaften Verhaltens einzustehen, mit deren Möglichkeit bei Betrachtung ex ante in abstracto gerechnet werden muss, sofern es sich nicht um einen atypischen Erfolg handelt (RIS‑Justiz RS0022944, RS0022606). Die Adäquanz ist objektiv zu beurteilen und nicht etwa nach den subjektiven Verhältnissen des Schädigers (RIS‑Justiz RS0022940, RS0022546 [T4]) bzw hier seiner Mitarbeiter.

Die Ansicht der Vorinstanzen, dass die Eignung zur Herbeiführung des Schadens erkennbar war und das „Dazwischentreten“ der Mutter nicht als unberechenbar zu qualifizieren war, liegt im Rahmen der bisherigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung und ist zutreffend. Von einem atypischen Sachverhalt und Erfolg kann keine Rede sein.

Die Vorinstanzen haben richtig erkannt, dass eine allfällige Sorgfaltswidrigkeit der aufsichtspflichtigen Mutter nicht dem verletzten Kind angelastet werden kann (RIS‑Justiz RS0027026; 1 Ob 2227/96y; zur Zurechnung von „Gehilfenverhalten“ zum Geschädigten im deliktischen Bereich zuletzt ausführlich 4 Ob 204/08s). Im Übrigen musste die Mutter nicht damit rechnen, dass der Kläger im Bereich des Kindergartens Zugang zu gefährlichen Substanzen wie Reinigungsmitteln hat und dass diese in gewöhnlichen Plastiktrinkbechern aufbewahrt werden, aus denen sonst die Kinder Getränke zu sich nehmen.

ad d) Das Erstgericht hat folgende ‑ vom Berufungsgericht übernommene ‑ Feststellungen getroffen:

„Der Kanister mit dem Geschirrspülmittel … wurde in der im selben Stock befindlichen F...gruppe gelagert, und zwar in der dort befindlichen Küche unterhalb der Spüle. Üblicherweise hat die Helferin der M...gruppe, in welcher der mj. Kläger betreut wurde, nach dem Mittagessen das flüssige Geschirrspülmittel mit einem Becher aus der F...gruppe geholt und in den Geschirrspüler in der Küche der M...gruppe eingefüllt. Da es keinen besonderen Becher dafür gab, verwendete man die bunten Ikea-Trinkbecher, aus dem die Kinder sonst tranken. Von der Vereinsleitung gab es keine Anweisung, wie mit dem flüssigen Geschirrspülmittel umgegangen werden sollte.

Unter der Spüle in dem damals unversperrbaren Unterschrank befanden sich Putzmittel und die Tabs für den Geschirrspüler.“

Die beklagte Partei moniert nun, dass Feststellungen fehlen, dass einer ihrer Mitarbeiter das Geschirrspülmittel in den Trinkbecher gefüllt und dass die anwesende Betreuerin gewusst habe, dass sich ein Becher mit Spülmittel in den nicht versperrten für die Kinder zugänglichen Schrank befunden habe. Darauf kommt es nicht an. Die beklagte Partei trifft die Verpflichtung, die von ihr betreuten Kinder vor Gefahren zu schützen, was auch Eingang in das Bewilligungsverfahren fand. Nach den zitierten Feststellungen war die Verwendung von Trinkbechern im Zusammenhang mit der Verwendung des Spülmittels gängige Praxis bei der beklagten Partei; auf das Vorhandensein positiven Wissens der Betreuerin an diesem Tag, ob nun gerade Spülmittel in einem Becher im unversperrbaren Unterschrank gelagert wurde oder nicht, kommt es nicht an. Die seitens der Vereinsleitung der beklagten Partei durchgeführten Kontrollen waren gerade nicht ausreichend, um den gegebenen Gefahren vorzubeugen.

3. Mangels erheblicher Rechtsfrage (§ 502 Abs 1 ZPO) ist die außerordentliche Revision der beklagten Partei zurückzuweisen.

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