OGH 10ObS68/13t

OGH10ObS68/13t19.11.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter KR Mag. Paul Kunsky (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Susanne Jonak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Dr. O*****, vertreten durch Dr. Dietmar Kinzel, Rechtsanwalt in Wien, als Verfahrenshelfer, gegen die beklagte Partei Wiener Gebietskrankenkasse, 1100 Wien, Wienerbergstraße 15‑19, wegen Kostenübernahme, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 23. Jänner 2013, GZ 9 Rs 112/12z‑23, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung

Die Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft bewilligte dem 1956 geborenen schwer adipösen Kläger am 17. 3. 2010 das Präparat „Alli KPS, OP II a 84 Stück“, weil bei ihm eine partielle Duodenopankreatektomie geplant war. Die noch nicht durchgeführte Operation setzt voraus, dass der Kläger nicht mehr als 100 kg wiegt. Nach Einnahme von zwei Packungen des Präparats betrug sein Gewicht am 16. 6. 2010 125,5 kg. Zwei Monate später wog er 120,5 kg und am 2. 3. 2011 118 kg.

Das Präparat ist eine in Österreich zugelassene, rezeptfreie, apothekenpflichtige Spezialität, die der Gewichtsreduktion bei Erwachsenen dient. Es sollte in Verbindung mit einer fett‑ und kalorienreduzierten Ernährung eingenommen werden. Der im Präparat enthaltene Wirkstoff verhindert, dass ein Teil des Fettes der Nahrung vom Körper aufgenommen wird. Dieser Teil wird im Stuhl ausgeschieden. Wird der Fettgehalt der Nahrung nicht reduziert, kann es zu Nebenwirkungen kommen (vor allem Blähungen und Fettstühle). Wird er aber tatsächlich deutlich reduziert, so ist dies eine in aller Regel wünschenswerte Diätmaßnahme und führt per se zur Gewichtsreduktion. Laut Beipacktext soll das Präparat nicht länger als sechs Monate eingenommen werden.

Aus medizinischer Sicht stellt das Präparat grundsätzlich eine zweckmäßige Behandlung für einen befristeten Zeitraum dar. Wenn eine fettreduzierte Ernährung erfolgt, auch körperliche Betätigung ärztlich zugelassen ist und durchgeführt wird und grundsätzlich Kalorien reduziert werden, so führen diese Maßnahmen alleine auch schon zur Gewichtsreduktion. Eine andere Vorgehensweise als die Einnahmedauer dann auf sechs Monate zu begrenzen, kann gutachterlicherseits nicht begründet werden. Eine Notwendigkeit der Anwendung des Präparats zur Behandlung des Übergewichts lässt sich daraus nicht ableiten. Möglicherweise kann es auch länger als sechs Monate eingenommen werden, wenn gewisse Kautelen berücksichtigt werden; aus medizinischer Sicht kann dies aber nicht empfohlen werden. Eine medizinische Beurteilung der Auswirkungen einer allfällig längeren Einnahme auf den Gesundheitszustand bzw den Behandlungserfolg lässt sich nicht durchführen. In einer Metaanalyse im Hinblick auf die Einnahme des im Präparat enthaltenen Wirkstoffs betrug der Gewichtsverlust 2,6 % des Körpergewichts oder in einer anderen Zusammensetzung ca 2,3 kg, sodass die Wirkung des Wirkstoffs nicht überschätzt werden sollte.

Mit Bescheid vom 4. 8. 2011 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers auf Gewährung des Präparats laut den Verordnungen des Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien vom 2. 3. 2011 und vom 9. 3. 2011 ab.

Das Erstgericht wies die dagegen gerichtete Klage ab. Rechtlich beurteilte es seine eingangs wiedergegebenen Feststellungen dahin, die (reine) Gewichtsreduktion, die grundsätzlich keine Pflichtleistung der Krankenversicherung sei, stehe mit der geplanten Operation, die unstrittig eine Pflichtleistung der Krankenversicherung sei, im Zusammenhang, sodass das Präparat zur Vorbereitung auf die Operation grundsätzlich eine zweckmäßige Behandlung des Übergewichts des Klägers sei, obwohl es im Erstattungskodex der ersatzfähigen Präparate des Hauptverbands der österreichischen Sozialversicherungsträger nicht enthalten sei. Es liege aber keine medizinische Notwendigkeit vor, den Kläger länger als sechs Monate mit dem Präparat zu behandeln, zumal bereits eine fettreduzierte Ernährung, körperliche Betätigung, soweit diese ärztlich zugelassen ist, oder eine Kalorienreduktion per se zu einer Gewichtsreduktion führten und letztlich (auch) die Voraussetzungen für die geplante Operation schafften. Rein die Einnahme des Präparats länger als sechs Monate zur Gewichtsreduktion sei nicht als notwendig und zweckmäßig zu betrachten. Dies zeige sich auch daran, dass der Kläger trotz der Einnahme des Präparats nach sechs Monaten sein Gewicht nur noch um 2,5 kg (innerhalb von acht Monaten) habe reduzieren können. Bei einer länger als sechs Monate währenden Einnahme stünde ‑ ungeachtet der medizinischen Vorbehalte ‑ nur noch die (reine) Gewichtsreduktion im Vordergrund, die keine Heilbehandlung sei und deshalb vom Leistungsumfang der Krankenversicherung nicht mehr umfasst sei. Bewerte man Qualität und Ausmaß der Behandlung, die Eignung der Maßnahmen und den angestrebten Erfolg, sei davon auszugehen, dass die weit über sechs Monate dauernde Verabreichung des Präparats laut den Verordnungen vom 2. 3. und 9. 3. 2011 für die Leiden des Klägers kein zweckentsprechender und notwendiger Einsatz eines Heilmittels im Rahmen einer Heilbehandlung iSd § 133 Abs 2 ASVG sei.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und billigte die rechtliche Beurteilung des Erstgerichts. Eine medizinische Notwendigkeit, den Kläger länger als sechs Monate mit dem Präparat zu behandeln, bestehe nicht. Die weitere Einnahme des Präparats sei auch nicht zweckmäßig, sei doch die mit seiner Hilfe bisher erreichte Gewichtsreduktion als nicht ausreichend erfolgversprechend anzusehen.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision des Klägers zeigt eine iSd § 502 Abs 1 ZPO erhebliche Rechtsfrage nicht auf:

Der Revisionswerber meint, es begründe einen Feststellungsmangel aufgrund unrichtiger rechtlicher Beurteilung, wenn nicht festgestellt worden sei, dass es für den Kläger nicht möglich sei, sich körperlich zu betätigen, eine Ernährungsumstellung, insbesondere eine fettreduzierte und kalorienreduzierte Ernährung für den Kläger nur beschränkt bzw unter Rücksichtnahme auf seine umfassenden Stoffwechselerkrankungen möglich sei und „für den“ Kläger aufgrund seiner Stoffwechselerkrankungen eine Gewichtsreduktion allein durch Ernährungsumstellung nicht möglich sei. Dem ist nur zu erwidern, dass der Kläger entsprechende Behauptungen im Verfahren erster Instanz nicht aufstellte.

Der Revisionswerber macht geltend, entgegen der Beurteilung des Berufungsgerichts sei es erheblich, dass die Anwendung des Präparats über einen Zeitraum von beinahe zwölf Monaten bei ihm zu keinen Nebenwirkungen geführt, er durch das Präparat ca 10 kg abgenommen und nach dessen Absetzen innerhalb von acht Monaten 9 kg zugenommen habe. Bei richtiger Anwendung der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Auslegung des § 133 Abs 2 ASVG hätten diese Feststellungen getroffen werden und erkannt werden müssen, dass die Weitergewährung des Präparats zweckmäßig zur Gewichtsreduktion als Vorbereitung auf die geplante Operation sei. Eine Krankenbehandlung sei nämlich bereits dann zweckmäßig und notwendig, wenn sie geeignet erscheine, eine Verschlechterung des Zustandsbilds hintanzuhalten.

Entgegen der Ansicht des Klägers ist das Berufungsgericht mit seiner Verneinung der Zweckmäßigkeit der weiteren Einnahme des Präparats nicht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen.

Heilmittel (§ 136 ASVG) gebühren aus dem Versicherungsfall der Krankheit (§ 116 Abs 1 Z 2, § 120 Z 1 ASVG). Für den Leistungsanspruch auf diese zur Krankenbehandlung zählenden Mittel (§ 133 Abs 1 Z 2 ASVG) ist jedenfalls § 133 Abs 2 ASVG maßgebend, wonach die Krankenbehandlung ausreichend und zweckmäßig sein muss, aber das Maß des Notwendigen jedoch nicht überschreiten darf.

Eine behandlungsbedürftige Krankheit liegt vor, wenn der regelwidrige Körper- oder Geisteszustand ohne ärztliche Hilfe (Heilmittel) nicht mit Aussicht auf Erfolg behoben, zumindest aber gebessert oder vor einer Verschlimmerung bewahrt werden kann oder wenn die ärztliche Behandlung (das Heilmittel) erforderlich ist, um Schmerzen oder sonstige Beschwerden zu lindern (10 ObS 14/08v, SSV‑NF 22/16; RIS‑Justiz RS0117777; 10 ObS 118/12v; vgl RIS‑Justiz RS0106245, RS0106403).

Dass die Krankenbehandlung ausreichend sein muss, bedeutet die Festlegung einer Minimalgrenze der Leistungsverpflichtung, die unter Zugrundlegung von gesicherten medizinischen Erkenntnissen und nach dem anerkannten Stand der Medizin nach Umfang und Qualität eine hinreichende Chance auf einen Heilungserfolg bieten muss (10 ObS 86/09h, SSV‑NF 23/81 mwN).

Zweckmäßigkeit liegt vor, wenn die Behandlung in Verfolgung der Ziele der Krankenbehandlung erfolgt, erfolgreich oder zumindest erfolgversprechend war. Darunter ist zu verstehen, dass die Behandlung nach den Erfahrungssätzen der medizinischen Wissenschaft mit hinreichender Sicherheit objektiv geeignet ist, die beabsichtigte Wirkung zu erzielen. Bei mehreren geeigneten Leistungen kommt primär diejenige in Betracht, mit der sich die Zweckbestimmung am besten erreichen lässt (10 ObS 86/09h, SSV‑NF 23/81 mwN).

Aus dieser Rechtsprechung, die das Berufungsgericht seiner Entscheidung zugrunde legte, geht hervor, dass die Erfolgswahrscheinlichkeit der Behandlung mit einem Arzneimittel zentral für die Beurteilung der Zweckmäßigkeit iSd § 133 Abs 2 ist und dieses Kriterium nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zu beurteilen ist (Rebhahn in SV-Komm, § 136 ASVG Rz 26).

Vor dem Hintergrund, dass der Kläger in den letzten acht Monaten der Anwendung des Präparats nur noch 2,5 kg abnahm und zum Zeitpunkt der neuerlichen Verschreibung noch 18 kg abnehmen musste, um operiert werden zu können, eine längere als sechs Monate dauernde Einnahme vermieden werden sollte, ein Erfolg einer längeren Einnahme medizinisch nicht beurteilbar ist und die Wirkung des Wirkstoffs des Präparats nicht überschätzt werden sollte, ist der Beurteilung des Berufungsgerichts, eine weitere Anwendung des Präparats sei beim Kläger (insbesondere als alleinige Maßnahme) im Hinblick auf das mit der Behandlung mit dem Präparat zu erreichende Ziel nicht ausreichend wahrscheinlich erfolgversprechend, nicht entgegenzutreten. Für die Bejahung der Zweckmäßigkeit der weiteren Anwendung genügt es im gegebenen Zusammenhang entgegen dem Standpunkt des Klägers nicht, dass die Einnahme des Präparats keine Nebenwirkungen hatte und er nach dessen Absetzung wieder zugenommen hatte, lässt dies doch nicht den Schluss zu, dass nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft die Erfolgswahrscheinlichkeit der Behandlung mit dem Präparat zur Erreichung eines Körpergewichts von 100 kg zu bejahen wäre. Zur Erreichung dieses Ziels genügt es ja nicht, dass das Präparat eine Gewichtszunahme des Klägers verhindert.

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