OGH 3Ob103/13p

OGH3Ob103/13p8.10.2013

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Prückner als Vorsitzenden sowie den Hofrat Univ.-Prof. Dr. Neumayr, die Hofrätin Dr. Lovrek und die Hofräte Dr. Jensik und Dr. Roch als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen L*****, Mutter J*****, vertreten durch Mag. Agnes Sirkka Prammer, Rechtsanwältin in Linz, Vater M*****, vertreten durch Dr. Peter Behawy, Rechtsanwalt in Neufelden, wegen Übertragung der Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter gegen den Beschluss des Landesgerichts Linz als Rekursgericht vom 10. Jänner 2013, GZ 15 R 449/12y-63, womit infolge Rekurses des Vaters der Beschluss des Bezirksgerichts Rohrbach vom 14. September 2012, GZ 2 PS 13/11s-56, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2013:0030OB00103.13P.1008.000

 

Spruch:

Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Pflegschaftssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Begründung

Die Ehe der Eltern, der drei Kinder entstammen, und zwar zwei bereits volljährige Söhne sowie das im Februar 1997 geborene Mädchen, wurde im Jahr 2000 einvernehmlich geschieden; im Scheidungsfolgenvergleich vereinbarten die Eltern die Zuteilung der Obsorge für den ältesten Sohn an den Vater und für die beiden weiteren Kinder an die Mutter. Von Anfang 2008 bis Anfang 2011 lebte das Mädchen im Wesentlichen zur Hälfte bei der Mutter und beim Vater iS eines Doppelresidenzmodells.

Im Jänner 2011 stellte der Vater den nunmehr zu entscheidenden Antrag auf Übertragung der alleinigen Obsorge für das Mädchen an ihn.

Seit März 2011 lebt die Mutter in einer Wohnung in unmittelbarer Nähe des Wohnsitzes des Vaters. Seither hielt sich das Mädchen nur mehr sporadisch beim Vater auf, weil es der Mutter vielfach nicht gefällt, wenn es sich beim Vater aufhält.

Das Mädchen begann im September 2011 eine von beiden Eltern befürwortete Ausbildung zur Kindergärtnerin in Linz und wohnte von September 2011 bis Ende Mai 2012 in einer vom Vater organisierten und vorerst alleine finanzierten Wohngemeinschaft in Linz in unmittelbarer Nähe der Schule. Die Wochenenden verbrachte das Mädchen bei seiner Mutter, die ihr gegenüber immer wieder deutlich zum Ausdruck brachte, dass sie mit einem Besuch des Vaters nicht einverstanden ist. Der Vater traf sich daher mit seiner Tochter während der Woche in Linz und hielt darüber hinaus auch telefonischen Kontakt mit ihr.

Seit Anfang Juni 2012 wohnt das Mädchen auch während der Woche bei der Mutter, weil der Vater die Finanzierung der Wohnmöglichkeit ‑ gegen den Wunsch seiner Tochter ‑ in Linz einstellte, da die Mutter keine Bereitschaft zeigte, sich an diesen Kosten zu beteiligen. Das Mädchen pendelt seither täglich zur Schule nach Linz und hat nur spärlichen Kontakt zum Vater, weil die Mutter einen solchen nicht wünscht. Trotz des Angebots des Vaters, bei ihm zu wohnen, blieb das Mädchen bei der Mutter.

Grundsätzlich sind beide Eltern um das Wohl ihrer Kinder bemüht.

Die Mutter fühlt sich aufgrund der vielen Streitigkeiten aus der Vergangenheit stark belastet und wirkt psychisch derart instabil, dass eine psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung dringend indiziert ist. Bei der Mutter ist zur Zeit im Bereich der Bindungstoleranz ein massives Defizit gegeben. Ihre Kooperationsbereitschaft lässt zu wünschen übrig. Die Förderkompetenz ist bei der Mutter zumindest partiell, nämlich im Bereich der Vorbildfähigkeit, nicht gegeben. Es bestehen bei der Mutter auch paranoide Tendenzen, außerdem fehlt es an einer ausreichenden psychischen Stabilität und Distanz zum Konfliktfeld mit dem Vater. Es würde für sie extrem schwer zu verkraften sein, wenn ihr die Obsorge entzogen werden würde.

Der Vater wirkt hingegen bemüht und psychisch stabil. Es liegen keine Hinweise auf eine psychische Störung vor.

Das Mädchen präferiert eine gemeinsame Obsorge. Die schon jahrelang währenden Streitereien haben bei ihr massive Spannungen und einen Loyalitätskonflikt verursacht; sie möchte weder gegen den Vater noch gegen die Mutter agieren. Daher bemüht sie sich um Objektivität und Rationalisierung, obwohl der Druck auf sie beträchtlich ist. Eine Änderung des Lebensschwerpunkts des Mädchens kann aus psychologischer Sicht nur dann empfohlen werden, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen. Es ist erstrebenswert, sie aus den Spannungsverhältnissen möglichst heraus zu halten. Die Aufgabe der Wohnmöglichkeit in Linz kommt einer Destabilisierung gleich. Sie gibt dafür dem Vater die Schuld.

Der Vater beantragte die Übertragung der alleinigen Obsorge an ihn im Wesentlichen mit der Begründung, die psychische Verfassung und die berufliche sowie finanzielle Situation der Mutter erlaube es dieser nicht, sich adäquat um die Tochter zu kümmern, die deprimiert und seelisch belastet sei. Das Mädchen müsse für die Mutter Aufgaben unternehmen, die nicht altersadäquat seien, weshalb sie überfordert sei. Zwischen Vater und Mutter bestehe keine Gesprächsbasis (ON 9, 14, 16 und 49).

Die Mutter sprach sich dagegen aus und bestritt die Vorwürfe des Vaters. Er habe heimlich in das Tagebuch ihrer Tochter Einsicht genommen, die über diesen Vertrauensmissbrauch sehr irritiert sei (ON 10, 13 und 35).

Der Jugendwohlfahrtsträger unterstützte den Antrag des Vaters.

Das Erstgericht wies den Antrag ab, weil weder eine Kindeswohlgefährdung noch besonders wichtige Gründe für eine Änderung der Obsorgezuteilung sprechen würden. Eine massive Einschränkung der Erziehungsfähigkeit der Mutter liege nicht vor. Auch die Minderjährige wünsche keine Änderung in der Obsorgezuteilung. Das massive Belastungspotenzial für die Minderjährige ergebe sich nicht nur aus dem Verhalten der Mutter, sondern aus der Gesamtsituation, zu der auch der Vater beitrage.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Vaters Folge und änderte den erstgerichtlichen Beschluss in eine Betrauung des Vaters mit der alleinigen Obsorge ab. Den ordentlichen Revisionsrekurs ließ es nicht zu.

Es traf ua folgende ergänzende Feststellungen: Das Mädchen wäre sehr traurig, wenn der Vater die alleinige Obsorge erhielte, weil sie ahnt, dass ihre Mutter sehr traurig wäre und sie vor allem das Leid ihrer Mutter befürchtet. Sie hat Angst, dass es der Mutter wegen eines bestimmten unerwünschten Verhaltens von ihr schlecht gehen könnte. Die Belastung der Tochter ist sehr hoch, sodass es für sie sehr wichtig ist, diese Thematik mit einer unbeteiligten Vertrauensperson aufzuarbeiten. Der Vater ist darum bemüht, ihr eine psychotherapeutische Behandlung zu ermöglichen. Eine diesbezügliche Unterstützung seitens der Mutter fehlt.

Rechtlich ging das Rekursgericht von einer massiven Einschränkung der Erziehungsfähigkeit der Mutter und einer Kindeswohlgefährdung aus. Weiters spreche für die Obsorgeübertragung, dass beim Vater eine psychotherapeutische Hilfe für seine Tochter und deren Wohnmöglichkeit in Linz sichergestellt sei und bei ihm die Bindungstoleranz besser gewährleistet sei; dadurch ergebe sich eine wesentlich bessere Zukunftsprognose für das Mädchen. Trotz ihres Alters könne ihren Wünschen wegen ihrer starken Belastung keine ausschlaggebende Bedeutung zukommen. Der ordentliche Revisionsrekurs sei nicht zuzulassen, weil der Entscheidung keine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukomme.

Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter mit dem Antrag auf Abänderung iSd Abweisung des Antrags, hilfsweise Aufhebung. Inhaltlich macht sie unter anderem geltend, dass auch das Verhalten des Vaters die Psyche des Mädchens schwer belastet habe, dass die Obsorgeübertragung nicht zu einer Beendigung oder Verringerung des Leidensdrucks des Mädchens führen werde und dass die Entscheidung des Rekursgerichts auf keiner aktuellen Sachverhaltsgrundlage beruhe.

Von der dem Mädchen, dem Jugendwohlfahrtsträger und dem Vater freigestellten Möglichkeit, eine Revisionsbeantwortung zu erstatten, machte nur der Vater Gebrauch. Er bestreitet damit sowohl die Zulässigkeit als auch die inhaltliche Berechtigung des Revisionsrekurses.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs der Mutter ist zulässig und iSd Aufhebungsantrags berechtigt .

1. Ob die Entscheidung des Rekursgerichts der bis zum 31. Jänner 2013 geltenden Rechtslage (§ 1503 Abs 1 ABGB) entsprochen hat, braucht nicht untersucht zu werden.

Diese Rechtslage wurde nämlich durch das Kindschafts- und Namensrechts‑Änderungsgesetz 2013 (KindNamRÄG 2013), BGBl I 2013/15, grundlegend geändert. Nunmehr bleibt nach § 179 Abs 1 ABGB bei Auflösung der häuslichen Gemeinschaft der Eltern deren zuvor gemeinsam ausgeübte Obsorge aufrecht, sie haben aber nach § 179 Abs 2 ABGB vor Gericht eine Vereinbarung darüber zu schließen, in wessen Haushalt das Kind hauptsächlich betreut wird. Kommt es binnen angemessener Frist zu keiner solchen Vereinbarung, so hat das Gericht nach § 180 Abs 1 Satz 1 Z 1 ABGB von Amts wegen über eine allfällige Änderung der Obsorge zu entscheiden oder bei aufrecht bleibender Betrauung beider Elternteile mit der Obsorge jenen Elternteil zu bestimmen, in dessen Haushalt das Kind hauptsächlich betreut werden soll. Dies gilt im Hinblick auf § 180 Abs 1 Satz 1 Z 2 ABGB auch für den ‑ hier gegebenen ‑ Fall, in dem ein Elternteil gegen den Willen des anderen die Betrauung mit der Alleinobsorge anstrebt, aber auch wenn beide Elternteile jeweils allein obsorgeberechtigt sein wollen.

Über den Revisionsrekurs ist nach der neuen Rechtslage zu entscheiden, obwohl die Vorinstanzen noch aufgrund der früher geltenden Rechtslage zu entscheiden hatten (RIS‑Justiz RS0128634; 4 Ob 32/13d).

2. Diese lässt aber noch keine abschließende Beurteilung zu.

2.1. Im Gegensatz zur Rechtslage vor dem KindNamRÄG 2013 soll nunmehr die Obsorge beider Elternteile (eher) die Regel sein. Kommt eine Belassung der Obsorge beider Eltern in Betracht, so ist letztlich die Frage, in wessen Haushalt das Kind hauptsächlich betreut werden soll, entscheidungsrelevant. Auch die Bestimmung dieses Elternteils hat sich grundsätzlich am Kindeswohl zu orientieren (RIS‑Justiz RS0128811). Die Betrauung beider Elternteile mit der Obsorge, aber auch die Belassung einer solchen Obsorgeregelung kann in allen Fällen des § 180 Abs 1 und Abs 3 ABGB auch gegen den Willen beider oder gegen den Willen eines Elternteils angeordnet werden (RIS‑Justiz RS0128810).

Auch wenn das Gesetz keine näheren Kriterien dafür aufstellt, ob eine Alleinobsorge eines Elternteils oder eine Obsorge beider Eltern anzuordnen ist, kommt es doch darauf an, ob die Alleinobsorge eines Elternteils oder die Obsorge beider Eltern dem Wohl des Kindes besser entspricht. Eine sinnvolle Ausübung der Obsorge beider Eltern setzt ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit beider voraus. Um Entscheidungen gemeinsam im Sinn des Kindeswohls treffen zu können, ist es erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und gemeinsam Entscheidungen zu treffen. Daher ist von entscheidender Bedeutung, ob eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden ist oder zumindest in absehbarer Zeit (wieder‑)hergestellt werden kann (RIS‑Justiz RS0128812; vgl Beck, Obsorgezuweisung neu, in Gitschthaler, KindNamRÄG 2013 [2013] 175 [181]).

2.2. Im konkreten Fall steht zwar fest, dass das Verhältnis zwischen den Eltern derzeit sehr belastet ist.

Allerdings ist zu bedenken, dass vor der Antragstellung des Vaters für alle drei Kinder ein ‑ zumindestens aus deren Sicht anscheinend erfolgreiches (vgl den Bericht ON 4) ‑ Doppelresidenzmodell über mehrere Jahre gelebt wurde, bei dem sich die Kinder gleichmäßig bei beiden Eltern abwechselnd aufhielten; dessen Beendigung hatte offenbar in einer außergewöhnlichen Situation der Mutter (vgl ON 13 S 3 = AS 45: kein Heizöl für die Beheizung ihrer früheren Wohnung im Jänner 2011) ihre Ursache, die nach der Aktenlage nicht mehr aktuell ist. Zeitlich betrachtet zeigte sich die Bindungsintoleranz der Mutter offensichtlich erst nach der Antragstellung und könnte durch den nunmehr der Mutter drohenden „Verlust“ der Tochter an den finanziell besser gestellten Vater durchaus bedingt sein. Nach der seinerzeitigen Rechtslage führte das erstgerichtliche Verfahren ja zwangsläufig zu einer Polarisierung, weil es für die Entscheidung des Gerichts nur die Alternative einer Zuweisung der alleinigen Obsorge an den Vater oder die Mutter gab. Das konnte zu Verhaltensweisen im Verfahren und außerhalb davon führen, die nicht nur die Beziehung zwischen den Eltern belasteten, sondern vor allem auch dem Kindeswohl abträglich waren, was sich hier ja zweifellos in dem für das Mädchen entstandenen und massiv belastenden Loyalitätskonflikt zeigt.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Eltern ihre diesbezügliche Haltung sowohl aufgrund der geänderten Rechtslage als auch wegen des nunmehr erfüllbaren Wunsches ihrer bereits im 17. Lebensjahr befindlichen Tochter überdenken und auch für die Mutter nunmehr eine psychische Entlastung eintritt, die ihr eine Änderung ihres Verhaltens erlaubt. Die Möglichkeit einer solchen dem Kindeswohl dienenden Entwicklung ist auch im Revisionsrekursverfahren zu berücksichtigen und den Eltern Gelegenheit zu geben, dem nachvollziehbaren Wunsch ihrer Tochter zu entsprechen. Das gilt vor allem in der hier vorliegenden Konstellation, weil ‑ auch nach der neuen Rechtslage (3 Ob 38/13d) ‑ der Wille des Kindes weiterhin ein relevantes Kriterium darstellt (RIS‑Justiz RS0048820).

Abgesehen davon fehlen Feststellungen zur für die Beurteilung nach neuem Recht maßgebenden Frage, ob und gegebenenfalls durch welche Maßnahmen eine Gesprächsbasis zwischen den Eltern wiederhergestellt werden könnte.

3. Diese Erwägungen führen zur Aufhebung in die erste Instanz.

Das Erstgericht wird mit den Eltern die neue Rechtslage zu erörtern und die Möglichkeiten und Voraussetzungen für eine Verbesserung der für eine gemeinsame Obsorge erforderlichen Gesprächsbasis zu prüfen haben. Ob dafür eine weitere Einvernahme der Eltern genügt, eine ergänzende Begutachtung erforderlich ist oder Aufträge nach § 107 Abs 3 Z 2 oder 3 AußStrG zu erteilen sind, obliegt der am konkreten Kindeswohl orientierten Beurteilung der Vorinstanzen. Gleiches gilt für die Frage, ob eine Phase der vorläufigen elterlichen Verantwortung anzuordnen ist (RIS‑Justiz RS0128813). Jedenfalls aber muss wegen der zukunftsbezogenen Rechtsgestaltung durch die zu treffende Entscheidung eine aktuelle bis in die jüngste Gegenwart reichende Tatsachengrundlage geschaffen werden (RIS‑Justiz RS0106312).

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