Spruch:
Im Verfahren AZ 22 Hv 248/10k des Landesgerichts Innsbruck verletzt die in der Berufungsverhandlung vom 15. Dezember 2011 zu AZ 6 Bs 244/11z erfolgte Zuerkennung eines Rechtes der Zeugin Marina E***** auf Verweigerung der Aussage gemäß § 157 Abs 1 Z 1 StPO durch das Oberlandesgericht Innsbruck § 157 Abs 1 Z 1 StPO.
Text
Gründe:
Mit seit 24. November 2010 (ON 28) rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 3. August 2010, GZ 26 Hv 83/10z‑13, wurde Marina E***** der Vergehen der Freiheitsentziehung nach § 99 Abs 1 StGB und der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB schuldig erkannt.
Danach hat Marina E***** am 9. Februar 2010 Emanuela (richtig:) Bo*****
I./ widerrechtlich im Büro der S*****‑Filiale in K***** gefangen gehalten, indem sie diese eine halbe Stunde lang dadurch am Verlassen des Büros hinderte, dass sie sich in die Tür zum Büro stellte, den Arm ausstreckte und gegen den Türrahmen stemmte;
II./ durch gefährliche Drohung, nämlich durch die Äußerung, dass sie bis zum Unterfertigen der einvernehmlichen Auflösungsvereinbarung des Dienstverhältnisses da zu bleiben habe, während sie sie gleichzeitig mit der zu I./ geschilderten Handlung am Verlassen des Büros hinderte, sohin durch die konkrete Drohung mit dem Aufrechterhalten der Freiheitsentziehung, zur Unterfertigung der Vereinbarung über die Auflösung des Dienstverhältnisses mit der A***** genötigt.
In der Folge wurde Mag. (FH) Szilvia B***** mit Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 24. Jänner 2011, GZ 22 Hv 248/10k‑11, der Vergehen der falschen Beweisaussage nach § 288 Abs 1 StGB und der Begünstigung nach §§ 15, 299 Abs 1 StGB schuldig erkannt, weil sie im zuvor genannten Strafverfahren gegen Marina E***** in der Hauptverhandlung vom 3. August 2010 durch die Angabe, Emanuela Bo***** habe zu keinem Zeitpunkt das Büro verlassen wollen und zu keinem Zeitpunkt gesagt, sie würde die Auflösungsvereinbarung nicht unterschreiben und jetzt gehen, als Zeugin bei ihrer förmlichen Vernehmung zur Sache falsch ausgesagt und dadurch zugleich Marina E***** der Verfolgung wegen der ihr angelasteten Vergehen der Freiheitsentziehung und der Nötigung ganz oder zum Teil zu entziehen versucht hatte. In diesem Verfahren wurde Marina E*****, die sich im eigenen Strafverfahren leugnend verantwortet hatte, nach Versagung des Rechtes zur Aussageverweigerung gemäß § 157 Abs 1 Z 1 StPO als Zeugin vernommen (ON 10 S 19 ff).
Der gegen das Urteil vom 24. Jänner 2011 erhobenen Berufung der Angeklagten Mag. (FH) Szilvia B***** wegen des Ausspruchs über die Schuld gab das Oberlandesgericht Innsbruck als Berufungsgericht nach Beweiswiederholung mit Urteil vom 15. Dezember 2011, AZ 6 Bs 244/11z (ON 37 im Hv‑Akt), Folge, hob das angefochtene Urteil auf und sprach die Angeklagte von der gegen sie erhobenen Anklage gemäß § 259 Z 3 StPO frei.
Die zur Berufungsverhandlung vom 15. Dezember 2011 geladene Zeugin E***** entschuldigte ihr Fernbleiben mit Krankheit und erklärte schriftlich, von ihrem „Verweigerungsrecht als Zeugin Gebrauch“ zu machen. Zur Begründung verwies sie auf ihre eingangs angeführte Verurteilung durch das Landesgericht Innsbruck (vgl unjournalisierte Beilagen zum Protokoll über die Berufungsverhandlung ON 36).
Im Hinblick darauf erkannte der Berufungssenat ‑ entgegen dem Antrag des Oberstaatsanwalts ‑ dieser Zeugin das Recht auf Verweigerung der Aussage ‑ laut Berufungsurteil ‑ gemäß § 157 Abs 1 Z 1 StPO (vgl ON 37 S 10 f) zu (ON 36 S 8). Nach den ‑ ebenfalls im Berufungsurteil wiedergegebenen ‑ Erwägungen (vgl ON 36 S 8 iVm ON 37 S 10 f) stünde die Zeugin im Fall einer unbeschränkten Aussagepflicht vor der Wahl, entweder die von ihr bestrittene Tat, derentwegen sie verurteilt worden ist, mit der Folge eines Verlustes jeglicher Möglichkeit der Verfahrenswiederaufnahme zu gestehen, oder aber bei ihrem Leugnen zu bleiben und dadurch ein weiteres Strafverfahren wegen Aussagedelinquenz nach § 288 Abs 1 und §§ 15, 299 Abs 1 StGB zu gewärtigen. Diese Situation stelle aber eine mit dem „nemo‑tenetur‑Grundsatz“ nicht vereinbare Zwangslage dar, sodass „in verfassungskonformer Interpretation des § 157 Abs 1 Z 1 StPO“ der gegen ihr Leugnen Verurteilten weiterhin das ‑ solcherart nur für geständige Verurteilte nicht geltende ‑ Recht zur Aussageverweigerung einzuräumen sei.
Rechtliche Beurteilung
Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, steht die zuletzt genannte Entscheidung des Oberlandesgerichts Innsbruck mit dem Gesetz nicht im Einklang:
Nach § 157 Abs 1 Z 1 erster Fall StPO sind Personen zur Verweigerung der Aussage berechtigt, soweit sie ansonsten sich der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung oder im Zusammenhang mit einem gegen sie geführten Strafverfahren der Gefahr aussetzen würden, sich über ihre bisherige Aussage hinaus zu belasten.
Diese Zeugnisbefreiungstatbestände umfassen sowohl eine bereits stattfindende als auch eine bloß mögliche und, soweit er durch die Aussage Grund zur Wiederaufnahme zu seinem Nachteil schaffen könnte (vgl §§ 352 Abs 1, 355, 356 StPO), auch eine bereits abgeschlossene Strafverfolgung des Zeugen. Der Grund für die Zeugnisverweigerung liegt in der Gefahr künftiger strafrechtlicher Verfolgung oder der Gefahr der Selbstbelastung im Zusammenhang mit einem gegen den Zeugen geführten (noch anhängigen oder schon beendeten) Strafverfahren (Kirchbacher, WK‑StPO § 157 Rz 3). In allen Varianten geht es stets um dieselbe Selbstbelastungsgefahr bezogen auf verschiedene Stadien strafbehördlicher Aufarbeitung eines gerichtlich strafbaren Verhaltens (Kirchbacher, WK‑StPO § 157 Rz 3; zur [insoweit] vergleichbaren früheren Rechtslage Ratz, Probleme der Aussagenentschlagung bei möglicher Selbstbezichtigung, JBl 2000, 291 [294]). Im Unterschied zur früheren Rechtslage (vgl § 152 Abs 1 Z 1 letzter Halbsatz StPO in der bis 31. Dezember 2007 geltenden Fassung) besteht das Aussageverweigerungsrecht bei Gefahr der „Selbstbelastung“ eines rechtskräftig Verurteilten nun aber nicht mehr, soweit nicht eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu seinem Nachteil (vgl § 356 StPO) in Frage kommt (Kirchbacher, WK‑StPO § 157 Rz 3; Fabrizy, StPO11 § 157 Rz 3; Pilnacek/Pleischl, Das neue Vorverfahren [2005] Rz 647; Nimmervoll, Selbstbelastungsgefahr und Angehörigenprivileg im neuen Strafverfahren [§ 157 Abs 1 Z 1 StPO]; RZ 2009, 51 [52]).
Die mit dem Strafprozessreformgesetz (BGBl I 2004/19) gegenüber der früheren Gesetzeslage (durch Entfall der in § 152 Abs 1 Z 1 StPO aF normierten Wortfolge „auch wenn ... bereits verurteilt worden sind“) erfolgte Änderung sollte die Bestimmung des § 152 Abs 1 Z 1 StPO aF nach dem Willen des Gesetzgebers auf ihren primären Schutzzweck reduzieren und bei einem bereits rechtskräftig Verurteilten nicht mehr anwendbar machen (ErläutRV 25 BlgNR 22. GP 203; vgl auch Ratz, JBl 2000, 291 [300]).
Denn zum einen steht das prozessuale Verfolgungshindernis des „ne bis in idem“ als Folge der rechtskräftigen Verurteilung ‑ unabhängig von der Verantwortung des Verurteilten ‑ einer weiteren strafbehördlichen Verfolgung der davon erfassten Taten (vorbehaltlich der zuvor genannten Einschränkung [vgl § 17 Abs 2 StPO]) entgegen (§ 17 Abs 1 StPO; RIS‑Justiz RS0124619). Zum anderen ist die Gefahr der Aufdeckung der Straftat durch eine selbstbezichtigende Aussage im Hinblick auf deren ‑ mit der Verurteilung zum Ausdruck gebrachte - gerichtliche Aufarbeitung beseitigt. Bei einer späteren Vernehmung als Zeuge kann allerdings der rechtskräftig Verurteilte gemäß § 158 Abs 1 Z 1 StPO berechtigt sein, zum Schutz vor Schande oder vermögensrechtlichen Nachteilen die Beantwortung einzelner Fragen zu verweigern (Kirchbacher, WK‑StPO § 157 Rz 3; Nimmervoll, RZ 2009, 51 [52 f]).
Zum dritten aber vermag gerade das vom Oberlandesgericht reklamierte (aus Art 6 MRK und Art 90 Abs 2 B‑VG abgeleitete) Prinzip des „nemo tenetur se ipsum accusare“ (vgl auch § 7 Abs 2 StPO) das postulierte Interpretationsergebnis, nur der im eigenen Strafverfahren Geständige sei als Zeuge vom Recht auf Aussageverweigerung ausgenommen (vgl idS Schwaighofer, Zum Aussageverweigerungsrecht wegen Gefahr der Selbstbelastung nach § 157 Abs 1 Z 1 StPO und den Konsequenzen der Verweigerung, RZ 2012, 54 [55 f]; Seiler, Strafprozessrecht12 Rz 373), nicht zu stützen (vgl neuerlich Kirchbacher, WK‑StPO § 157 Rz 3 sowie die weiteren oben zuletzt angeführten Belegstellen). Denn die Selbstbelastungsfreiheit verbietet zwar jeglichen Zwang zur selbstinkriminierenden Aussage oder zur Lieferung sonstiger (von dessen Willen abhängiger) Beweismittel, die gegen den Beschuldigten verwendet werden können (Grabenwarter/Pabel, EMRK5 § 24 Rz 123). Sie wird jedoch denkmöglich nicht berührt, wenn die Gefahr einer Selbstbelastung zufolge rechtskräftiger Verurteilung nicht (mehr) besteht.
Im vorliegenden Fall wurde Marina E***** wegen der am 9. Februar 2010 begangenen, in engem sachlichen Zusammenhang mit dem Gegenstand ihrer Vernehmung als Zeugin stehenden Tat bereits rechtskräftig verurteilt. Die in einer allfälligen Falschaussage selbst gelegene Delinquenz (vgl dazu auch RIS‑Justiz RS0109174) stellt schon deshalb keinen Anwendungsfall des § 157 Abs 1 Z 1 StPO dar, weil andernfalls entgegen Schwaighofer (aaO 55) lege non distinguente ‑ jeder, der eine Falschaussage abzulegen gedenkt, zur Aussageverweigerung berechtigt wäre (Ratz, JBl 2000, 291 [300]; vgl Kirchbacher, WK‑StPO § 157 Rz 4; 11 Os 159/97 [11 Os 160/97]). Selbstbelastungsgefahr setzt im Übrigen begrifflich das Vorliegen einer bereits begangenen Straftat voraus, hinsichtlich derer der Zeuge nun gezwungen werden könnte, sie aufgrund seiner Aussage aufzudecken, und liegt daher im Fall allfälligen strafbaren Verhaltens erst durch die Aussage selbst ‑ wenn also die Straftat, die zum Gegenstand einer Selbstbelastung werden könnte, noch gar nicht existent ist ‑ nicht vor.
Das Oberlandesgericht Innsbruck hat daher durch unrichtige Gesetzesauslegung der Zeugin Marina E***** zu Unrecht das Recht zur Aussageverweigerung gemäß § 157 Abs 1 Z 1 StPO eingeräumt.
Da die Gesetzesverletzung nicht zum Nachteil der Mag. (FH) B***** wirkt, hat es mit ihrer Feststellung sein Bewenden.
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