OGH 1Ob126/13f

OGH1Ob126/13f18.7.2013

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Sailer als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski, Dr. Grohmann, Mag. Wurzer und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen 1) C***** K*****, 2) V***** K*****, 3) R***** K*****, und 4) S***** K*****, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter A***** K*****, vertreten durch Dr. Margot Tonitz, Rechtsanwältin in Klagenfurt am Wörthersee, gegen den Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt als Rekursgericht vom 24. April 2013, GZ 4 R 152/13i‑63, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Klagenfurt vom 12. März 2013, GZ 1 Ps 7/12g‑54, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Begründung

Die Ehe der Eltern wurde am 25. 8. 2010 einvernehmlich geschieden. Sie vereinbarten die gemeinsame Obsorge für ihre vier 2000, 2002, 2006 und 2008 geborenen Kinder mit deren hauptsächlichem Aufenthalt bei der Mutter. Am 27. 12. 2011 beantragte der Vater die alleinige Obsorge für die beiden jüngeren, 2002 und 2006 geborenen Töchter. Die Mutter sprach sich gegen diesen Antrag aus und beantragte am 30. 7. 2012, sie mit der Obsorge für alle vier Kinder allein zu betrauen.

Das Erstgericht hob die gemeinsame Obsorge der Eltern auf, betraute mit der alleinigen Obsorge für die älteste, schwer behinderte Tochter sowie den Sohn die Mutter und für die beiden jüngeren, 2002 und 2006 geborenen Töchter den Vater.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Mutter nicht Folge.

Der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter zeigt keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG auf.

Rechtliche Beurteilung

1. Die Obsorge beider Eltern gegen den Willen eines Elternteils war nach der bis 31. 1. 2013 geltenden Rechtslage (§ 1503 Abs 1 ABGB) ausgeschlossen. Diese wurde durch das Kindschafts‑ und Namensrechts‑Änderungsgesetz 2013 (KindNamRÄG 2013, BGBl I 2013/15), grundlegend geändert. Nunmehr hat das Gericht, sofern dies dem Wohl des Kindes entspricht, eine vorläufige Regelung der elterlichen Verantwortung (Phase der vorläufigen elterlichen Verantwortung) zu treffen, wenn ein Elternteil die Übertragung der alleinigen Obsorge an ihn oder seine Beteiligung an der Obsorge beantragt (§ 180 Abs 1 Satz 1 Z 2 ABGB). Dies gilt auch für jene Fälle, in denen beide Elternteile jeweils allein obsorgeberechtigt sein wollen (4 Ob 58/13b mwN).

2. Die Phase der vorläufigen elterlichen Verantwortung besteht darin, dass das Gericht einem mit der Obsorge betrauten Elternteil unter Aufrechterhaltung der bisherigen Obsorgeregelung für einen Zeitraum von sechs Monaten die hauptsächliche Betreuung des Kindes in seinem Haushalt aufträgt und dem anderen ein derart ausreichendes Kontaktrecht einräumt, dass er auch die Pflege und Erziehung des Kindes wahrnehmen kann. Für diesen Zeitraum sind im Einvernehmen der Eltern oder auf gerichtliche Anordnung die Details des Kontaktrechts, der Pflege und Erziehung sowie der Unterhaltsleistung festzulegen (§ 180 Abs 1 Satz 2 und 3 ABGB idF KindNamRÄG 2013).

3. § 138 ABGB idF KindNamRÄG 2013 zählt zwölf für die Beurteilung des Kindeswohls insbesondere wichtige Kriterien auf. Dazu gehören eine angemessene Versorgung, insbesondere mit Nahrung, medizinischer und sanitärer Betreuung und Wohnraum, sowie eine sorgfältige Erziehung des Kindes (Z 1), die Förderung der Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes (Z 4), die Vermeidung der Beeinträchtigung, die das Kind durch die Um- und Durchsetzung einer Maßnahme gegen seinen Willen erleidet (Z 6), verlässliche Kontakte des Kindes zu beiden Elternteilen und wichtigen Bezugspersonen sowie sichere Bindungen des Kindes zu diesen Personen (Z 9) und die Lebensverhältnisse des Kindes, seiner Eltern und seiner sonstigen Umgebung (Z 12).

4. Nach § 1503 Z 1 ABGB idF KindNamRÄG 2003 ist dieses, soweit nichts anderes bestimmt ist, mit 1. Februar 2013 in Kraft. Der Oberste Gerichtshof hat bereits ausgesprochen, dass die neuen Regelungen zur Obsorge und zum Kontaktrecht in zu diesem Zeitpunkt bereits anhängigen Obsorgeverfahren anzuwenden sind (6 Ob 41/13t = EF-Z 2013/106 [ Beck ]; 4 Ob 32/13d; 4 Ob 58/13b, je mwN). Die Vorinstanzen legten ihren Entscheidungen, die beide nach dem 1. 2. 2013 ergingen, auch bereits die geänderte Rechtslage zugrunde.

5. Die Wahl zwischen Alleinobsorge eines Elternteils und der gemeinsamen Obsorge hat sich am konkreten Wohl des Kindes zu orientieren. Gleiches gilt für die Beurteilung, ob eine Phase der vorläufigen elterlichen Verantwortung anzuordnen ist oder Aufträge nach § 107 Abs 3 AußStrG zu erteilen sind. Eine sinnvolle Ausübung der Obsorge beider Eltern setzt ein gewisses Mindestmaß an Kooperations‑ und Kommunikationsfähigkeit beider voraus. Um Entscheidungen gemeinsam im Sinn des Kindeswohls treffen zu können, ist es erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und gemeinsame Entscheidungen zu treffen. Daher ist von entscheidender Bedeutung, ob eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden ist oder zumindest in absehbarer Zeit (wieder‑)hergestellt werden kann (vgl 4 Ob 32/13d; vgl 4 Ob 58/13b mwN).

6. Die Mutter wird nach den Feststellungen der Vorinstanzen durch die Betreuung aller vier Kinder extrem gefordert. Die älteste Tochter ist schwer behindert und bedarf einer umfassenden Pflege. Die belastende Betreuungssituation hat bereits zu sozialen Auffälligkeiten bei zwei jüngeren Geschwistern geführt. Die zweitälteste Tochter musste in der Familie teilweise zu sehr eine Erwachsenenrolle übernehmen, um die Mutter zu unterstützen. Diese lehnt unbeachtet der problematischen Situation Hilfe von außen tendenziell ab und meint, am besten zu wissen, was gut für ihre Kinder sei. Sie weist die Schuld für die Trennung und die jetzige Lebenssituation dem Vater zu, zeigt sich gekränkt und konnte diese Kränkung bis zuletzt (mehr als zwei Jahre nach der Scheidung) noch nicht realitätsgemäß verarbeiten. Dies beeinflusst ihre Erziehungsfähigkeit. Sie begründete die Übersiedlung von Linz (dem bisherigen Wohnort der gesamten Familie) nach Kärnten damit, dass sie nicht in der Nähe des Vaters leben wolle, und dachte dabei zu wenig an das Kindeswohl. Die „Aufteilung“ der vier Kinder auf beide Eltern, welche die Vorinstanzen jeweils mit der alleinigen Obsorge für zwei Kinder betrauten, ist nach dem festgestellten Sachverhalt die bessere Lösung als die Beibehaltung der bisherigen Situation. Deren Änderung vermeidet nach den Prognosen der Tatsacheninstanzen (vgl RIS‑Justiz RS0048632) die Überforderung der Mutter durch die Betreuung von vier Kindern einschließlich der schwer behinderten ältesten Tochter und gewährleistet eine angemessene Versorgung aller Kinder iSd § 138 Z 1 ABGB idF KindNamRÄG 2013. Die Neuregelung verspricht für die beiden mittleren Kinder, die zum Vater übersiedeln, bessere Entwicklungschancen (Z 4 leg cit) und bietet die Chance auf verlässliche Kontakte der Kinder zu beiden Eltern sowie untereinander (Z 9 leg cit). Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (RIS‑Justiz RS0047845) billigte zwar dem gemeinsamen Aufwachsen von Geschwistern in demselben Haushalt großen Wert für ihre Entwicklung zu. Dies wurde aber (schon vor der demonstrativen Aufzählung der für das Kindeswohl „insbesondere“ maßgeblichen Kriterien in § 138 ABGB idF KindNamRÄG 2013) nur als ein Teilaspekt von vielen anderen, die zusammen das Wohl des Kindes bestimmen, erachtet (RIS‑Justiz RS0047845 [T3]). Angesichts der Feststellungen zu den zu erwartenden positiven Auswirkungen der Änderung der Obsorge und Betreuung kommt der Präferenz der zweitältesten, elfjährigen Tochter für ihre Mutter ungeachtet § 138 Z 6 ABGB idF KindNamRÄG 2013 keine allein ausschlaggebende Bedeutung für die Obsorgeentscheidung zu (vgl RIS‑Justiz RS0048981).

7. Die Beibehaltung der gemeinsamen Obsorge mit hauptsächlicher Betreuung der beiden jüngeren Töchter im Haushalt des Vaters wäre zwar ebenfalls geeignet, einer Überforderung des bisher alle vier Kinder betreuenden Elternteils entgegenzuwirken. Angesichts der beeinträchtigten Gesprächsbasis zwischen den Eltern ist aber das Auftreten von Problemen bei der Vertretung der Kinder nicht auszuschließen, insbesondere soweit es den bereits im September anstehenden Wechsel der Schule betrifft. In der sensiblen Phase der Eingewöhnung der Kinder nach ihrer Übersiedlung an ihren früheren Wohnort sind Konflikte der Eltern über die Schulwahl und ähnliches tunlichst zu vermeiden. Nicht außer Acht zu lassen ist im konkreten Fall auch die Entfernung zwischen den Wohnorten der Eltern, die die Kommunikation zwischen diesen kaum fördert und die Einbindung des Elternteils in die Pflege und Erziehung der Kinder, die nicht hauptsächlich in seinem Haushalt betreut werden, erschwert.

Angesichts der getroffenen Feststellungen ist es kein unvertretbares Ergebnis, wenn die Vorinstanzen die Herstellung einer Gesprächsbasis zwischen den Eltern auch in naher Zukunft für nicht aussichtsreich und die Beibehaltung der anlässlich der Scheidung im Jahr 2010 vereinbarten gemeinsamen Obsorge für weder sinnvoll noch dem Kindeswohl entsprechend hielten, ohne zuvor die Anordnung von Maßnahmen im Sinn des § 107 Abs 3 Z 1 und 2 AußStrG in Betracht zu ziehen. Die Revisonsrekurswerberin legt in ihren eher abstrakt gehaltenen Verweisen auf die in § 107 Abs 3 AußStrG geregelten möglichen Maßnahmen auch nicht dar, dass eine konkrete Maßnahme wie eine vom Gericht angeordnete Mediation das Ziel einer Verbesserung der Kommunikationsbasis zwischen den Eltern (innerhalb angemessener Frist) erreicht hätte.

8. Das Gericht hat von Amts wegen zu beurteilen, ob es eine Phase der vorläufigen elterlichen Verantwortung (§ 180 Abs 1 ABGB idF KindNamRÄG 2013) einleitet oder ohne diese endgültig über die Obsorge und den Elternteil, in dessen Haushalt das Kind hauptsächlich betreut werden soll, entscheidet (6 Ob 41/13t mwN). Scheitert hier die gemeinsame Obsorge an der (auch künftig) fehlenden Gesprächsbasis zwischen den Eltern, kommt in diesem Fall auch die Anordnung einer Phase der vorläufigen elterlichen Verantwortung nicht in Betracht, weil diese nach § 180 Abs 1 zweiter Satz ABGB nur bei Aufrechterhaltung der bisher bestandenen gemeinsamen Obsorge möglich wäre.

9. Eine vom Obersten Gerichtshof zu korrigierende Fehlbeurteilung der Vorinstanzen liegt aus diesen Erwägungen nicht vor.

10. Einer weiteren Begründung bedarf es nicht (§ 71 Abs 3 AußStrG).

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