OGH 10ObS18/13i

OGH10ObS18/13i26.2.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Fellinger und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Ing. Thomas Bauer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei F*****, vertreten durch Dr. Johannes Schuster und Mag.Florian Plöckinger, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 24. Oktober 2012, GZ 7 Rs 115/12a‑40, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht vom 13. April 2012, GZ 5 Cgs 222/10m‑36, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der zum Stichtag 1. 5. 2010 57-jährige Kläger ist gelernter Zimmerer. Von 6. 5. 1974 bis 14. 1. 2002 war er als Tischlermeister in einem Unternehmen beschäftigt, dessen Gegenstand die Möbelproduktion war. In der Zeit von 15. 1. 2002 bis 14. 3. 2002 erhielt er Urlaubsersatzleistung. Von 1. 2. 2002 bis 31. 7. 2003 und von 1. 7. 2005 bis 31. 12. 2007 hatte er jeweils Anspruch auf eine befristet zuerkannte Berufsunfähigkeitspension. Aufgrund des Bezugs der Urlaubsersatzleistung von 15. 1. 2002 bis 14. 3. 2002 fiel die Berufsunfähigkeitspension in den Monaten Februar und März 2002 nicht an.

Ausgehend von seinem Leistungskalkül ist dem Kläger die Aufgabenstellung eines Tischlermeisters im Sinne einer Produktionsleitung in der Möbelindustrie weiterhin zumutbar.

Das Erstgericht wies das auf Zuerkennung der Berufsunfähigkeitspension gerichtete Klagebegehren ab. Rechtlich ging es davon aus, dass Berufsunfähigkeit nicht vorliege, weil dem Kläger seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit weiterhin zumutbar sei. Ausgehend vom Stichtag 1. 5. 2010 liege auch Berufsunfähigkeit nach § 273 Abs 2 ASVG nicht vor, weil der Kläger in den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag keine den besonderen Berufsschutz nach dieser Gesetzesstelle begründende Tätigkeit durch mindestens 120 Monate hindurch verrichtet habe. Letzteres treffe auch unter Berücksichtigung der seit dem Budgetbegleitgesetz geänderten neuen Rechtslage seit 1. 1. 2011 mit der Möglichkeit der Verlängerung des Rahmenzeitraums zu. Infolge Vorliegens von 46 neutralen Monaten im Zeitraum April 2002 bis Juli 2003 (16 Monate) und Juli 2005 bis Dezember 2007 (30 Monate) verlängere sich der Rahmenzeitraum um 46 Monate, sodass der tatsächliche Rahmenzeitraum ausgehend vom Stichtag 1. 1. 2011 der 1. 3. 1992 bis 31. 12. 2010 sei. In diesem Zeitraum lägen insgesamt 118 Monate und 14 Tage einer allenfalls gleichartigen Tätigkeit bzw eines zu berücksichtigenden Krankengeldbezugs. Da der Kläger im Februar 2002 und März 2002 zwar Anspruch auf Berufsunfähigkeitspension gehabt habe, die Pension im Hinblick auf den Bezug der Urlaubsersatzleistung aber nicht angefallen sei, seien diese zwei Monate nicht als neutrale Monate zu beurteilen, die geeignet wären, den Rahmenzeitraum zu erstrecken. Mangels Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen läge Berufsunfähigkeit demnach auch nicht nach § 273 Abs 2 ASVG vor.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Rechtlich ging es davon aus, die Monate Jänner und Februar 2002 seien nicht als neutrale Monate zu qualifizieren. Da der Kläger von 15. 1. 2002 bis 14. 3. 2002 eine Urlaubsersatzleistung bezogen habe, handle es sich um Zeiten einer Pflichtversicherung nach § 11 Abs 2 ASVG, die keine neutralen Monate darstellten. Wie sich aus den Gesetzesmaterialien ergebe, werde der Beobachtungszeitraum lediglich durch Zeiten des Bezugs einer Pension oder Zeiten des Bezugs eines Übergangsgeldes verlängert.

Die ordentliche Revision sei zulässig, weil bei der Ermittlung des Rahmenzeitraums nach § 255 Abs 4 ASVG iVm § 234 Abs 1 Z 2 lit a ASVG höchstgerichtliche Rechtsprechung zu der Frage der Berücksichtigung von Zeiträumen fehle, in denen ein Versicherter zwar bereits einen bescheidmäßig zuerkannten Anspruch auf eine Leistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit habe, die Leistung im Hinblick auf eine erhaltene Urlaubsersatzleistung aber noch nicht angefallen ist.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Der Revisionswerber macht im Wesentlichen geltend, strittig sei lediglich, wie der Zeitraum von 15. 1. 2002 bis 14. 3. 2002 rechtlich zu bewerten sei. Da § 255 Abs 4 ASVG auf § 234 Abs 1 Z 2 ASVG verweise, sei zu schließen, dass jeder bescheidmäßig zuerkannte Anspruch auf eine Leistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit bzw des Alters eine Verlängerung des Rahmenzeitraums um diese Monate nach sich ziehe. Schon im Hinblick auf den Gesetzeszweck, durch Verlängerung des Rahmenzeitraums den Erhalt eines einmal erlangten Tätigkeitsschutzes sicherzustellen, sollte einem Versicherten im Sinne sozialer Rechtsanwendung die Auszahlung der Urlaubsersatzleistung nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht zum Nachteil gereichen.

Dazu ist auszuführen:

1. Nach § 273 Abs 2 ASVG idF des 2. SVÄG 2003 BGBl I 2003/145 gilt § 255 Abs 4 bis 7 ASVG entsprechend. Nach § 255 Abs 4 ASVG idF des 2. SVÄG 2003 BGBl I 2003/145 gilt ein Versicherter, der das 57. Lebensjahr vollendet hat, als invalid, wenn er infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte außer Stande ist, einer Tätigkeit, die er in den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag mindestens 120 Kalendermonate hindurch ausgeübt hat, nachzugehen. Dabei sind zumutbare Änderungen dieser Tätigkeit zu berücksichtigen.

1.1. Es entspricht ständiger Rechtsprechung (RIS‑Justiz RS0118621; RS0122063; RS0122455), dass § 255 Abs 4 ASVG nicht auf das Vorliegen von 120 „Beitragsmonaten“ in den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag, sondern darauf abstellt, dass die Ausübung „einer“ Tätigkeit in den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag mindestens 120 Kalendermonate hindurch erfolgte (10 ObS 18/10k, SSV-NF 24/36; 10 ObS 113/10f).

1.2. Für die Frage des Vorliegens der 120 Kalendermonate iSd § 255 Abs 4 ASVG können Zeiten des Bezugs einer Urlaubsabfindung, Urlaubsentschädigung oder Urlaubsersatzleistung nicht herangezogen werden:

Der Bezug einer Urlaubsabfindung bzw einer Urlaubsentschädigung bzw einer Urlaubsersatzleistung gleicht die vorangegangene Nichtkonsumation von Naturalurlaub anlässlich der Beendigung des Dienstverhältnisses durch Geldersatz aus. Es handelt sich um eine Erstattung des Urlaubsentgelts (des Entgeltfortzahlungsanspruchs während des Urlaubs), das dem Arbeitnehmer bei Konsumation seines Urlaubs zugestanden wäre (VwGH 2005/08/0095). Seit dem Inkrafttreten des Strukturanpassungsgesetzes 1996, BGBl 1996/201 mit 1. 5. 1996 handelt es sich bei diesen Leistungen ‑ so wie schon zuvor die Kündigungsentschädigung ‑ um beitragspflichtiges Entgelt iSd § 49 ASVG (VwGH 3. 7. 2002, 98/08/0397 ARD 5456/9/2003). Gemäß § 11 Abs 2 Satz 2 ASVG besteht zwar die Pflichtversicherung für die Zeit des Bezugs einer Urlaubsersatzleistung weiter, dh es kommt durch eine Urlaubsersatzleistung zu einer entsprechenden Verlängerung der Pflichtversicherung. Von einer „Ausübung“ der Tätigkeit, wie sie § 255 Abs 4 ASVG im Auge hat, ist jedoch nicht zu sprechen, weil das Dienstverhältnis rechtlich schon beendet ist (10 ObS 62/04x, SSV-NF 18/70). Die Zeiten des Bezugs einer Urlaubsersatzleistung sind in die Berechnung der nach § 255 Abs 4 ASVG notwendigen 120 Kalendermonate demnach nicht einzubeziehen.

2. Mit dem Budgetbegleitgesetz 2011 (BGBl I Nr 2010/111) wurde der Bestimmung des § 255 Abs 4 ASVG ein dritter Satz mit folgendem Wortlaut angefügt:

„Fallen in den Zeitraum der letzten 180 Kalendermonate vor dem Stichtag

1. neutrale Monate nach § 234 Abs 1 Z 2 lit a oder Monate des Bezugs von Übergangsgeld nach § 306, so verlängert sich der genannte Zeitraum um diese Monate;

2. Monate des Bezugs von Krankengeld nach § 138, so sind diese im Höchstmaß von 24 Monaten auf die im ersten Satz genannten 120 Kalendermonate anzurechnen.“

Die Regelung trat mit 1. 1. 2011 in Kraft (§ 658 Abs 1 Z 1 ASVG).

Gemäß § 234 Abs 1 Z 2 lit a ASVG sind als neutral folgende Zeiten anzusehen, die nicht Versicherungszeiten sind:

„2. ... Zeiten, während derer der Versicherte einen bescheidmäßig zuerkannten Anspruch auf

a) eine Leistung aus einem Versicherungsfall des Alters nach diesem oder einem anderen Bundesgesetz oder aus einem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit nach diesem Bundesgesetz bzw aus dem Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit nach dem Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz oder dem Bauern- Sozialversicherungsgesetz ... hatte ...“

2.1. Nach den Gesetzesmaterialien zu § 255 Abs 4 ASVG sollten zur Erleichterung der Erlangung des darin geregelten besonderen Tätigkeitsschutzes nunmehr auf die 120 (Kalender-)Monate auch Zeiten des Bezugs einer Pension und von Übergangsgeld aufgrund geminderter Arbeitsfähigkeit als neutrale Zeiten beim Beobachtungszeitraum gewertet werden (das heißt dieser Zeitraum wird um die neutralen Monate ausgedehnt), um auf diese Weise den Erhalt eines einmal erlangten Tätigkeitsschutzes sicherzustellen. Die Zeiten einer Invaliditäts-, Berufsunfähigkeits- oder Erwerbsunfähigkeitspension sollen die Rahmenfrist von 15 Jahren erstrecken (ErläutRV 981 BlgNR 24. GP 206).

2.2. Teschner/Widlar/Pöltner, ASVG 115. Erg.‑Lfg § 255 Rz 12d führen aus, die Praxis habe gezeigt, dass die Regelung zum Rahmenzeitraum von 180 Kalendermonaten beziehungsweise zu den 120 Kalendermonaten einer gleichen oder gleichartigen Tätigkeit besonders ausgeprägte Sachverhalte nicht geeignet berücksichtige. So solle nun eine befristete Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit ebenso wie eine Geldleistung bei beruflicher Rehabilitation den Rahmenzeitraum erweitern und so behandelt werden, als wäre die bisherige Tätigkeit weiter ausgeübt worden.

2.3. Nach Sonntag in Sonntag ASVG3, § 255 Rz 156 verlängern seit 1. 1. 2011 Zeiten des Bezugs einer Pension und von Übergangsgeld den Beobachtungszeitraum.

2.4. Oberstgerichtliche Rechtsprechung zu der vom Berufungsgericht als erheblich erachteten Rechtsfrage findet sich nicht.

3. Wie die Vorinstanzen aber bereits zutreffend erkannt haben, ist eine Verlängerung des Rahmenzeitraums im vorliegenden Fall zu verneinen:

3.1. Versicherungszeiten sind jene Zeiträume, in denen eine Person entweder durch Entrichtung von Versicherungsbeiträgen oder in einer sonstigen gesetzlich anerkannten Form zur Versichertengemeinschaft in einer Beziehung steht. Dementsprechend ist zwischen Beitragszeiten und Ersatzzeiten zu unterscheiden. Versicherungszeiten werden jeweils in Versicherungsmonate zusammengefasst und gelten dann als Beitragsmonate der Pflichtversicherung, als Beitragsmonate der freiwilligen Versicherung oder als Ersatzmonate, je nachdem, welche Art von Zeiten in dem betreffenden Monat das zeitliche Übergewicht haben (Teschner in Tomandl, SV-System, 25. Erg.‑Lfg 382).

3.2. Neutrale Zeiten sind Zeiten, die nicht Versicherungszeiten sind und daher nicht leistungswirksam sind (§ 234 Abs 1 ASVG). Sie werden vom Gesetzgeber anerkannt, wenn dafür berücksichtigungswürdige Gründe vorliegen, die nicht so gravierend erscheinen, dass eine Zuordnung zu den Ersatzzeiten erforderlich wäre. Als neutral erklärte Zeiten verlängern insbesondere den Rahmenzeitraum, innerhalb dessen die Wartezeit erfüllt sein muss und führen damit zu einer Erleichterung bei der Erfüllung dieser Voraussetzung (Teschner aaO, 386).

3.3. Nach der Intention des Budgetbegleitgesetzes 2011 soll der Rahmenzeitraum des § 255 Abs 4 dritter Satz ASVG um neutrale Monate verlängert werden. Nach dem eindeutigen Wortlaut des ersten Satzes des § 234 Abs 1 ASVG sind als neutral nur Zeiten anzusehen, die nicht Versicherungszeiten sind. Da für die Zeit des Bezugs einer Ersatzleistung für Urlaubsentgelt die Pflichtversicherung weiter besteht (§ 11 Abs 2 2. Satz ASVG) kommt es ‑ wie bereits oben ausgeführt ‑ durch die Auszahlung einer Urlaubsersatzleistung zu einer entsprechenden Verlängerung der Pflichtversicherung. Die Zeiten des Bezugs der Urlaubsersatzleistung sind demnach nicht als neutrale Zeiten anzusehen und daher nicht geeignet, den Rahmenzeitraum des § 255 Abs 4 ASVG idF des Budgetbegleitgesetzes 2011 (BGBl I Nr 2010/111) zu verlängern.

3.4. Es ist zwar richtig, dass bei der Beurteilung von Anträgen durch die Sozialversicherungsträger im Geiste sozialer

Rechtsanwendung vorgegangen, also der Antrag im Zweifel zugunsten des Versicherten ausgelegt werden muss (RIS-Justiz RS0086446). Der Versicherte soll insbesondere davor geschützt werden, materiell bestehende Ansprüche aus formellen Gründen (etwa zufolge einer prozessualen Ungeschicklichkeit) zu verlieren (10 ObS 116/04p, SSV‑NF 18/78). Die Fiktion, es lägen die in § 234 ASVG genannten Voraussetzungen für neutrale Zeiten vor, um zu Gunsten eines Versicherten eine Verlängerung des Rahmenzeitraums nach § 255 Abs 4 ASVG idF des Budgetbegleitgesetzes 2011 (BGBl I Nr 2010/111) zu erreichen, lässt sich auch aus diesem Grundsatz sozialer

Rechtsanwendung aber nicht ableiten und hat deshalb außer Betracht zu bleiben.

Damit muss die Revision des Klägers erfolglos bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe, die einen ausnahmsweisen Kostenersatz aus Billigkeit rechtfertigen könnten, wurden nicht vorgebracht und sind aus der Aktenlage nicht ersichtlich.

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