OGH 6Ob227/12v

OGH6Ob227/12v19.12.2012

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.‑Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Sachwalterschaftssache des Betroffenen S***** B*****, geboren am 24. Jänner 1984, *****, vertreten durch die Sachwalterin Dr. R***** S*****, über den Revisionsrekurs der Sachwalterin gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom 17. September 2012, GZ 1 R 242/12h‑47, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Voitsberg vom 9. Juli 2012, GZ 13 P 30/12k‑38, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung über den Enthebungsantrag der Sachwalterin aufgetragen.

Text

Begründung

S***** B***** wurde am 24. 1. 1984 geboren. Er ist 190 cm groß und wiegt rund 180 kg. Er leidet an einer schizophrenen Psychose.

Mit Beschluss vom 1. 3. 2011 bestellte das Bezirksgericht Graz-Ost seinen Bruder zum Sachwalter nach § 268 Abs 3 Z 2 ABGB zur Verwaltung des Einkommens und des Vermögens des Betroffenen sowie zu dessen Vertretung vor Ämtern, Behörden und behördenähnlichen Institutionen.

Nachdem der Bruder am 5. 4. 2011 mitgeteilt hatte, es wäre besser, wenn eine neutrale Person die Sachwalterschaft übernähme, weil es sonst zu Schwierigkeiten mit dem Betroffenen komme (dieser wolle alles selbst machen, der Bruder hingegen wolle sich nicht mit ihm streiten), bestellte das Bezirksgericht Graz-Ost am 19. 4. 2011 die Rechtsanwältin MMag. Dr. C***** A***** zur Sachwalterin.

Am 6. 6. 2011 teilte diese dem Gericht mit, der Betroffene spreche kaum deutsch, weshalb die Konversation mit ihm auf englisch geführt werden müsste, wozu sie aber nicht ausreichend in der Lage sei. Sie ersuche daher um Enthebung.

Am 13. 7. 2011 bestellte das Bezirksgericht Graz‑Ost die Rechtsanwältin Dr. R***** S***** zur Sachwalterin; der Beschluss enthält die Bemerkung, diese sei zur Übernahme der mit der Sachwalterschaft verbundenen Aufgaben bereit gewesen. Das im Sachwalterbestellungsverfahren eingeholte Sachverständigengutachten wurde der neuen Sachwalterin allerdings ‑ über deren Antrag ‑ erst Ende September 2011 übermittelt.

Am 19. 12. 2011 hielt eine Rechtspraktikantin am Bezirksgericht Graz-Ost in einem Aktenvermerk (ON 29) fest, sie habe zuvor zweimal mit dem Betroffenen Kontakt gehabt, wobei er keinen aggressiven Eindruck gemacht habe; am 13. 12. 2011 sei er jedoch „wütend“ gewesen, habe „sehr bedrohlich“ gewirkt und auch die Worte „gun“ und „shoot“ verwendet. Solange man dem Betroffenen nicht widerspreche, sei er freundlich; ansonsten werde er jedoch „aggressiv“ und verliere „jeglichen Bezug zur Realität“. Er sei eine „eindrucksvolle Erscheinung“ und lege ein „teilweise doch sehr furchterregendes Verhalten“ an den Tag.

Am 23. 5. 2012 wurde die Sachwalterschaftssache infolge Wohnsitzwechsels des Betroffenen an das Erstgericht übertragen, die Person der Sachwalterin dabei jedoch unverändert gelassen.

Am 6. 6. 2012 beantragte die Sachwalterin ihre Enthebung. Der Betroffene besuche ein- bis zweimal pro Woche ihre Kanzleiräumlichkeiten, behaupte, dass ihre Kanzlei sein „Sekretariat“ sei, und habe „Entlassungen“ ausgesprochen. Beim nächsten Besuch reagiere er „ungehalten“, weil seinen Anweisungen nicht nachgekommen worden sei. Ihre MitarbeiterInnen seien „äußerst beunruhigt“ und befürchteten, dass der Betroffene „gewalttätig“ werde; dies insbesondere auch deshalb, weil der behandelnde Arzt mitgeteilt habe, dass der Betroffene seine Tabletten nicht regelmäßig nehme. Das Verhalten des Betroffenen sei für die Sachwalterin und ihre MitarbeiterInnen „unhaltbar“; die Sachwalterin sehe sich deshalb außerstande, den Betroffenen weiter zu betreuen. Unzählige Stunden seien dafür verwendet worden, dass dem Betroffenen die Invaliditätspension zuerkannt, er in einem Pflegeheim untergebracht und die Geldgebahrung in Ordnung gebracht wurde. Aufgrund der Regelung aller rechtlichen Verhältnisse des Betroffenen sei eine weitere Betreuung durch einen Rechtsanwalt nicht notwendig.

Das VertretungsNetz Sachwalterschaft, Standort Graz, gab mehrfach, zuletzt am 4. 7. 2012, die Erklärung ab, „dass die Sachwalterschaft mangels freier Vertretungskapazitäten derzeit nicht übernommen werden kann“.

Das Erstgericht wies mit Beschluss vom 9. 7. 2012 den Enthebungsantrag der Sachwalterin ab. Dem Gericht seien keine anderen Personen bekannt, die zur Übernahme der Sachwalterschaft in Frage kämen.

Am 24. 7. 2012 hielt die Erstrichterin in einem Aktenvermerk fest, sie habe den Betroffenen im Gerichtsgebäude getroffen; er habe einen „sehr erregten Eindruck“ gemacht und habe „mit lauter Stimme zu schimpfen“ begonnen. In weiterer Folge sei er „verbal noch aggressiver“ geworden, sei „ein paar Schritte“ auf sie zugekommen und habe nochmals „die Stimme erhoben“. Der Betroffene habe auf sie „insgesamt ‑ aufgrund seiner Körpergröße von mindestens 1,90 m, seiner Körperfülle und der Körperhaltung ‑ einen sehr bedrohlichen Eindruck“ gemacht. Er sei „immer zorniger“ geworden und habe „immer lauter zu schimpfen“ begonnen. In weiterer Folge hätten Polizeibeamte den Betroffenen zum Verlassen des Gerichtsgebäudes veranlasst.

Aufgrund dieses Vorfalls verhängte die Vorsteherin des Erstgerichts am 25. 7. 2012 über den Betroffenen ‑ mit Ausnahme jener Tage, für die er eine gerichtliche Ladung vorweisen kann ‑ das Verbot, das Gebäude des Bezirksgerichts Voitsberg zu betreten. Er habe sich einem Diplom‑Rechtspfleger und der Erstrichterin gegenüber „bedrohlich und aggressiv“ verhalten.

Das Rekursgericht bestätigte den abweislichen Beschluss des Erstgerichts und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu; es fehle Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu der über den Einzelfall hinaus bedeutenden Frage, wann Unzumutbarkeit der Ausübung der Funktion des Sachwalters iSd § 278 Abs 1 ABGB anzunehmen sei.

In der Sache selbst vertrat das Rekursgericht die Auffassung, persönliche Differenzen zwischen dem Betroffenen und dem Sachwalter rechtfertigten für sich allein noch keine Umbestellung; maßgeblich sei nur, ob das Wohl des Betroffenen eine derartige Maßnahme erfordert. Sei vergleichbarer „Widerstand“ des Betroffenen unabhängig von der Person des konkret bestellten Sachwalters auch gegenüber einer anderen Person zu erwarten, liege kein Umbestellungsgrund vor. Die Sachwalterin stütze ihren Enthebungsantrag auf die Tatsache, dass der Betroffene „krankheitsbedingt auf Widerspruch ungehalten reagiert und dabei nicht zuletzt aufgrund seines Erscheinungsbildes (rund 180 kg bei einer Körpergröße von ca 1,90 m) einen bedrohlichen Eindruck vermittelt“; aus diesem Grund habe „das Erstgericht“ auch ein Zugangsverbot über den Betroffenen verhängt. „Hinweise darauf, dass tatsächlich eine Gefahr für die körperliche Sicherheit beim Umgang mit dem Betroffenen bestünde, finden sich bislang allerdings nicht“. Andere Personen, die für die Funktion des Sachwalters in Betracht kämen, seien nach der Aktenlage nicht bekannt. Nach der gegebenen Sachlage müsse davon ausgegangen werden, dass die von der Sachwalterin geschilderten Probleme im Umgang mit der betroffenen Person gegenüber jedem anderen Sachwalter gleichermaßen auftreten würden. Von einer Unzumutbarkeit der weiteren Ausübung des Amtes durch die Sachwalterin könne noch nicht gesprochen werden.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs der Sachwalterin ist zulässig (vgl Weitzenböck in Schwimann/Kodek, ABGB4 [2011] § 278 Rz 6); er ist auch berechtigt.

1. Nach § 278 Abs 1 ABGB hat das Gericht die Sachwalterschaft einer anderen Person unter anderem dann zu übertragen, wenn der Sachwalter nicht die erforderliche Eignung aufweist oder ihm die Ausübung des Amtes nicht (weiter) zugemutet werden kann. Soweit sich die Vorinstanzen darauf berufen, es stünde keine andere Person für die Funktion zur Verfügung, würde dies ‑ für sich allein ‑ nicht eine Enthebung des Sachwalters hindern.

2. Nach zweitinstanzlicher Rechtsprechung (vgl etwa LG Wels und LGZ Wien, beide EFSlg 123.532 [2009]) liegt kein Umbestellungsgrund vor, wenn vergleichbarer Widerstand des Betroffenen unabhängig von der Person des konkret bestellten Sachwalters auch gegenüber einer anderen Person zu erwarten ist. Dem tritt der Oberste Gerichtshof zwar grundsätzlich bei; allerdings können darunter nur solche Fälle verstanden werden, in denen der Betroffene etwa andere Personen ebenfalls als Sachwalter ablehnen würde, weil er der Meinung ist, gar keines Sachwalters zu bedürfen, oder in denen er sonst die Zusammenarbeit mit dem Sachwalter oder die Betreuung durch den Sachwalter verweigern würde. Der Umstand, dass der Betroffene auch andere Personen im Amt des Sachwalters körperlich bedrohen oder gar insultieren würde, ist derartigen Fällen nicht gleichzusetzen. Das ‑ verfassungsrechtlich gewährleistete ‑ Recht auf körperliche Unversehrtheit im weitesten Sinn muss auch dem Sachwalter zugutekommen; allein der Umstand, dass der Betroffene auch andere Sachwalter körperlich bedrohen oder gar insultieren würde, reicht nicht aus, eine Umbestellung abzulehnen.

Im Übrigen haben sich die Vorinstanzen nicht näher mit der besonderen Konstellation des vorliegenden Falls auseinander gesetzt: Der Betroffene scheint zwar in der Lage zu sein, aufgrund seiner Aggressivität im Zusammenhang mit seiner körperlichen Erscheinung insbesondere Frauen (Rechtspraktikantin, Erstrichterin, Vorsteherin des Erstgerichts, Sachwalterin und deren Mitarbeiterinnen) einzuschüchtern, sodass sich diese bedroht fühlen. Ob eine derartige Bedrohung auch von einem anderen, insbesondere männlichen, Sachwalter, der möglicherweise ebenfalls über eine entsprechende Körpergröße verfügt, empfunden würde, wurde bislang weder geprüft noch erörtert. In diesem Sinn würde dann aber die derzeit bestellte Sachwalterin nicht die erforderliche Eignung aufweisen (§ 278 Abs 1 ABGB); sie wäre hinsichtlich der Bewältigung dieser Sachwalterschaft überfordert (LGZ Wien EFSlg 130.889 [2011]). Im vorliegenden Fall wird unter diesem Gesichtspunkt auch eingehender zu prüfen sein, ob das VertretungsNetz Sachwalterschaft tatsächlich nicht in der Lage ist, den Fall zu übernehmen; immerhin verlangt § 279 ABGB die Bestellung einer „geeigneten“ Person, wobei auf die „Bedürfnisse“ des Betroffenen Rücksicht zu nehmen ist. Eine Sachwalterin, die sich aufgrund des Verhaltens und der Körperfülle des Betroffenen vor diesem fürchtet, dürfte hier aber nicht eine geeignete Person sein, um den Bedürfnissen des Betroffenen zu entsprechen. Dazu scheint eine professionelle Einrichtung mit ihren Mitarbeitern weit besser geeignet zu sein.

3. Dass die Sachwalterin mit ihrer Bestellung ‑ ursprünglich ‑ einverstanden gewesen ist, steht ihrer nunmehrigen Enthebung nicht entgegen. Vor ihrer Bestellung war nämlich das nunmehr von den unter 2. genannten Personen als bedrohlich empfundene Verhalten des Betroffenen nicht aktenkundig.

4. Die Argumentation des Rekursgerichts, die Vorsteherin des Erstgerichts habe zwar aufgrund des Verhaltens des Betroffenen und seines Erscheinungsbildes zu Recht ein Zugangsverbot zum Gebäude des Erstgerichts erlassen, die Sachwalterin brauche jedoch nicht enthoben zu werden, weil sich „bislang“ Hinweise auf eine „tatsächliche Gefahr für die körperliche Sicherheit nicht finden ließen, wird vom Obersten Gerichtshof nicht geteilt: Wenn sich die am Erstgericht tätigen Personen sich zu Recht derart vor dem Betroffenen fürchteten, dass das Zugangsverbot gerechtfertigt erlassen wurde, ist nicht nachvollziehbar, warum die Sachwalterin und ihre Mitarbeiterinnen weiterhin dem Umgang mit dem Betroffenen ausgesetzt sein sollen.

5. Damit waren aber die abweislichen Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben. Das Erstgericht wird sich im fortzusetzenden Enthebungsverfahren darum zu bemühen haben, für den Betroffenen einen anderen Sachwalter zu finden. Derartige Bemühungen sind ‑ abgesehen von einer Anfrage beim VertretungsNetz Sachwalterschaft, Standort Graz ‑ nicht aktenkundig.

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