OGH 11Os122/12v

OGH11Os122/12v25.9.2012

Der Oberste Gerichtshof hat am 25. September 2012 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab, Mag. Lendl, Mag. Michel und Dr. Oshidari als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin MMag. Karlicek als Schriftführerin, in der Strafvollzugssache des Martin Sch*****, AZ 8 BE 71/12i des Landesgerichts Klagenfurt, über die von der Generalprokuratur gegen einen Vorgang in diesem Verfahren sowie den Beschluss dieses Gerichts vom 5. Juli 2012, GZ 8 BE 71/12i‑9, und den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Beschwerdegericht vom 1. August 2012, AZ 10 Bs 281/12t (ON 12 der BE‑Akten), erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Holzleithner, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

In der Strafvollzugssache AZ 8 BE 71/12i des Landesgerichts Klagenfurt verletzen das Gesetz

(1) der Vorgang, dass der Einzelrichter nach Bekanntwerden des ihn betreffenden Ausschließungsgrundes nach § 43 Abs 4 StPO dessen sofortige Anzeige an den Präsidenten des Landesgerichts Klagenfurt unterließ und sich nicht der Beschlussfassung am 5. Juli 2012 enthielt, in § 44 Abs 1 und Abs 2 StPO iVm § 43 Abs 4 StPO;

(2) der Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt als Vollzugsgericht vom 5. Juli 2012, GZ 8 BE 71/12i‑9 und

(3) der Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Beschwerdegericht vom 1. August 2012, AZ 10 Bs 281/12t (ON 12 der BE‑Akten), in seinem Begründungsteil, wonach der Strafgefangene „mit dem sechstägigen Verweilen außerhalb der Strafe und die um diesen Zeitraum verspätete, im Zustand schwerer Alkoholisierung erfolgte Rückkehr von einem Ausgang nach § 147 Abs 1 StVG grundsätzlich einen Wiederaufnahmsgrund geschaffen habe“,

in den Bestimmungen des 16. Hauptstücks der StPO.

Der Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt als Vollzugsgericht vom 5. Juli 2012, GZ 8 BE 71/12i‑9, wird aufgehoben und es wird in der Sache selbst erkannt:

Die Anträge der Staatsanwaltschaft Klagenfurt vom 19. Juni 2012 (ON 1 S 7) werden abgewiesen.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Landesgerichts Klagenfurt vom 7. März 2012, AZ 17 Hv 177/11x, wurde Martin Sch***** zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten verurteilt, die derzeit in der Justizanstalt Klagenfurt vollzogen wird.

Mit dem unbekämpft in Rechtskraft erwachsenen Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt als Vollzugsgericht vom 15. Mai 2012, GZ 8 BE 71/12i‑5, wurde der Antrag des Genannten auf bedingte Entlassung zum 30. Mai 2012 ‑ dem Zeitpunkt der Verbüßung der Hälfte der Strafe ‑ abgelehnt, hingegen seine bedingte Entlassung zum 30. Juli 2012 nach dem Vollzug von zwei Dritteln der Strafe gemäß § 46 Abs 1 StGB iVm § 152 Abs 1 Z 2 StVG (mit einem Strafrest von vier Monaten) bewilligt.

Von einem ihm gemäß § 147 StVG bis zum 16. Juni 2012 gewährten Ausgang kehrte der Strafgefangene nicht (rechtzeitig) zurück, sondern fand sich erst am 22. Juni 2012 wieder in der Justizanstalt ein, wobei er einen Blutalkoholgehalt von 2,63 ‰ aufwies.

Daraufhin beantragte die Staatsanwaltschaft am 19. Juni 2012 die Wiederaufnahme des Verfahrens wegen bedingter Entlassung, die Aufhebung des diese bewilligenden Beschlusses vom 15. Mai 2012 und die Abweisung des Antrags des Verurteilten auf bedingte Entlassung infolge seiner Flucht (ON 1 S 7).

Mit ‑ nach Anhörung des Strafgefangenen, der Staatsanwaltschaft und eines Vertreters der Justizanstalt Klagenfurt mündlich verkündetem (ON 8) ‑ Beschluss vom 5. Juli 2012, GZ 8 BE 71/12i‑9, nahm derselbe Einzelrichter des Landesgerichts Klagenfurt, der die bedingte Entlassung zum 30. Juli 2012 beschlossen hatte, das Verfahren hierüber wieder auf, hob den Beschluss vom 15. Mai 2012, GZ 8 BE 71/12i‑5, auf und lehnte den Antrag des Strafgefangenen auf bedingte Entlassung nach Verbüßung sowohl der Hälfte als auch von zwei Dritteln der Freiheitsstrafe im Wesentlichen mit der Begründung ab, das Verfahren sei „aufgrund des nunmehr gezeigten schlechten Vollzugsverhaltens“ des Strafgefangenen, welches „einen neuen Umstand“ darstelle, in analoger Anwendung des 16. Hauptstücks der StPO wiederaufzunehmen gewesen.

Obwohl der Strafgefangene und der staatsanwaltschaftliche Sitzungsvertreter sogleich nach Verkündung dieses Beschlusses und Erteilung der Rechtsmittelbelehrung auf die Erhebung eines Rechtsmittels verzichteten (ON 8 S 2), enthält die schriftliche Beschlussausfertigung (ON 9 der Akten) die ‑ verfehlte - Rechtsmittelbelehrung, gegen den Beschluss sei das binnen 14 Tagen ab Zustellung beim Landesgericht Klagenfurt einzubringende und an das Oberlandesgericht Graz zu richtende Rechtsmittel der Beschwerde zulässig.

Die ‑ sodann tatsächlich ‑ gegen diesen Beschluss eingebrachte Beschwerde des Strafgefangenen vom 17. Juli 2012 (ON 10) wies das Oberlandesgericht Graz mit Beschluss vom 1. August 2012, AZ 10 Bs 281/12t (ON 12), im Hinblick auf den zuvor wirksam erklärten Rechtsmittelverzicht des Beschwerdeführers als unzulässig zurück. In seiner Begründung hielt es überdies fest, der Strafgefangene habe „mit seinem sechstägigen Verweilen außerhalb der Strafe und die um diesen Zeitraum verspätete, im Zustand schwerer Alkoholisierung erfolgte Rückkehr von einem Ausgang nach § 147 Abs 1 StVG grundsätzlich einen Wiederaufnahmsgrund im Sinne der Judikatur des Obersten Gerichtshofs geschaffen“, allerdings verletze der Beschluss das Gesetz, weil in erster Instanz ein gemäß § 43 Abs 4 StPO ausgeschlossener Richter entschieden habe.

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde überwiegend zutreffend ausführt, stehen der Vorgang, dass der Einzelrichter des Vollzugsgerichts nach Bekanntwerden des ihn betreffenden Ausschlussgrundes nach § 43 Abs 4 StPO dessen sofortige Anzeige an den Präsidenten des Landesgerichts Klagenfurt unterließ und sich der Beschlussfassung am 5. Juli 2012 nicht enthielt, sowie der Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt als Vollzugsgericht vom selben Tag, GZ 8 BE 71/12i‑9, und der oben wörtlich wiedergegebene Teil der Begründung des Beschlusses des Oberlandesgerichts Graz als Beschwerdegericht vom 1. August 2012, AZ 10 Bs 281/12t, mit dem Gesetz nicht im Einklang.

Gemäß § 43 Abs 4 StPO ist ein Richter von der Entscheidung über einen Antrag auf Wiederaufnahme sowie von der Mitwirkung und Entscheidung im erneuerten Verfahren ausgeschlossen, wenn er im Verfahren bereits als Richter tätig gewesen ist und gerade mit dem von der Wiederaufnahme betroffenen Entscheidungsgegenstand des früheren Verfahrens befasst war (RIS‑Justiz RS0125149 [T1], RS0102097 [T3]; Lässig, WK‑StPO § 43 Rz 16). Sinn und Zweck dieser Bestimmung liegt darin, die Entscheidung über den Wiederaufnahmeantrag und die Führung des erneuerten Verfahrens einem Richter zu übertragen, der die dem Wiederaufnahmeverfahren zugrunde liegende Verdachtslage bislang noch nicht geprüft und noch keine inhaltlichen Entscheidungen dazu getroffen oder an einer Sanktionierung dieses Angeklagten mitgewirkt hat (RIS‑Justiz RS0125149 [T8]).

Demnach ist auch ein Richter, der - wie hier - über eine bedingte Entlassung entschieden hat, von der Entscheidung über einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens über ebendiese bedingte Entlassung - wie auch von der Mitwirkung und Entscheidung in einem allenfalls erneuerten Verfahren hierüber - ausgeschlossen.

Der mit der vorliegenden Vollzugssache befasste Einzelrichter des Landesgerichts Klagenfurt, der bereits mit Beschluss vom 15. Mai 2012 (ON 5) über die bedingte Entlassung des Martin Sch***** entschieden hatte, war daher nicht zur Entscheidung über den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Wiederaufnahme des Verfahrens über die bedingte Entlassung befugt, sondern er hätte sich nach dessen Einlangen gemäß § 44 Abs 1 StPO aller weiteren Verfahrenshandlungen zu enthalten und gemäß Abs 2 leg cit den ihn betreffenden Ausschließungsgrund sogleich dem Präsidenten des Landesgerichts Klagenfurt anzuzeigen gehabt.

Zu den weiteren geltend gemachten Gesetzesverletzungen ist von folgenden Erwägungen auszugehen:

Der Strafgefangene ist nach Rechtskraft des Beschlusses, mit dem seine bedingte Entlassung bewilligt worden war, von einem ihm gemäß § 147 StVG gewährten Ausgang nicht unverzüglich in die Justizanstalt zurückgekehrt und hat im Zuge seiner sechs Tage währenden Flucht Alkoholmissbrauch betrieben. Es ist daher im Gegenstand zu beurteilen, welche Rechtsfolgen Verfehlungen, die ein Strafgefangener nach Rechtskraft der seine bedingte Entlassung bewilligenden Entscheidung, aber vor seiner tatsächlichen Enthaftung begeht, nach sich ziehen können.

Gemäß § 49 erster Satz StGB beginnt mit der Rechtskraft der Entscheidung, mit der die bedingte Entlassung ausgesprochen worden ist, die Probezeit. Wenngleich darin Zeiten behördlicher Anhaltung nicht eingerechnet werden (§ 49 erster Satz StGB), steht eine während einer solchen begangene strafbare Handlung gemäß § 53 Abs 1 letzter Satz StGB einer in der Probezeit verübten gleich (vgl Jerabek in WK2 § 49 Rz 2 und Rz 3, § 53 Rz 4).

Für den Fall, dass der bereits rechtskräftig bedingt Entlassene während der (verbleibenden) Strafhaft neuerlich eine gerichtlich strafbare Handlung begeht, sieht § 53 Abs 1 StGB - allerdings nur unter den dort abschließend geregelten Voraussetzungen - den Widerruf der bedingten Entlassung vor.

Lässt er sich hingegen (bloße) Ordnungswidrigkeiten im Sinne des § 107 StVG zu schulden kommen, sind diese nach den Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes zu ahnden, wonach - ebenso ausschließlich - die Abmahnung (§ 108 Abs 1 StVG) sowie die in § 109 StVG taxativ genannten Strafen in Betracht kommen (Pieber in WK2 StVG § 115 Rz 1).

Damit trifft das Gesetz all diese Fälle erfassende, abschließende Regelungen. Eine planwidrige Lücke, die bei Bekanntwerden solcher - nachträglich eingetretener - Umstände (mögen diese auch inhaltlich geeignet erscheinen, die im Zeitpunkt der Beschlussfassung bekannte Tatsachengrundlage entscheidend zu erschüttern und damit den längeren Vollzug der Strafe zu begründen) zur analogen Anwendung der Bestimmungen des 16. Hauptstücks der Strafprozessordnung über die Wiederaufnahme des Strafverfahrens zum Nachteil des Angeklagten (§§ 352 ff) gegen den die bedingte Entlassung bewilligenden Beschluss führen könnte (dazu näher 12 Os 71/91, SSt 61/62 = EvBl 1991/176, 743; RIS‑Justiz RS0102726, RS0101213, RS0091702; Fabrizy, StPO11 Vor § 352 Rz 9; Pieber in WK2 StVG § 152 Rz 34 ff; Lewisch, WK‑StPO Vor §§ 352‑363 Rz 79 ff), ist daher - der Rechtsansicht des Landesgerichts Klagenfurt und des Oberlandesgerichts Graz zuwider - nicht auszumachen.

Da sich die zu (1) und (2) aufgezeigten Gesetzesverletzungen zum Nachteil des Verurteilten auswirken, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, ihre Feststellung mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO), den angefochtenen Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt als Vollzugsgericht vom 5. Juli 2012, GZ 8 BE 71/12i‑9, aufzuheben und die Anträge der Staatsanwaltschaft vom 19. Juni 2012 (ON 1 S 7) abzuweisen.

Aufgrund des kassierten Beschlusses ergangene Entscheidungen und Verfügungen gelten gleichfalls als beseitigt (vgl RIS‑Justiz RS0100444; Ratz, WK-StPO § 292 Rz 28).

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