OGH 12Os81/12x

OGH12Os81/12x9.8.2012

Der Oberste Gerichtshof hat am 9. August 2012 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden, durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs, Dr. Bachner‑Foregger, Mag. Michel und Dr. Michel‑Kwapinski als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Angrosch als Schriftführerin in der Strafsache gegen Franz S***** und einen weiteren Angeklagten wegen des Verbrechens des gewerbsmäßig schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3, 148 zweiter Fall StGB, AZ 13 Hv 109/10g des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Präsidenten dieses Gerichts vom 17. April 2012, AZ 1 Ns 77/12m, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Erste Generalanwältin Dr. Sperker, und des Verteidigers Dr. Nirk, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2012:0120OS00081.12X.0809.000

 

Spruch:

In der Strafsache des Landesgerichts für Strafsachen Wien AZ 13 Hv 109/10g verletzt der Beschluss des Präsidenten dieses Gerichtshofs vom 17. April 2012, AZ 1 Ns 77/12m (ON 342) § 43 Abs 4 StPO.

Dieser Beschluss wird aufgehoben und in der Sache selbst erkannt, dass der Sprengelrichter DI MMag. Michael T***** zur Entscheidung über den Antrag des Verurteilten Franz S***** auf Wiederaufnahme des Verfahrens aus dem Grund der Zustellung der Anklageschrift nicht ausgeschlossen ist.

Dem Präsidenten des Landesgerichts für Strafsachen Wien wird aufgetragen, diesem Richter, sollte er nach der Geschäftsverteilung nach wie vor zuständig sein, andernfalls aber dem zuständigen Richter bzw der zuständigen Richterin gemäß § 45 Abs 2 StPO die Sache zu übertragen.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 13. Dezember 2010, GZ 13 Hv 109/10g‑300, welches auch einen sogleich in Rechtskraft erwachsenen Schuldspruch des Mitangeklagten Erich K***** sowie Freisprüche beider Angeklagten enthält, wurde Franz S***** des Verbrechens des gewerbsmäßig schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3, 148 zweiter Fall StGB schuldig erkannt.

Die dagegen gerichtete Nichtigkeitsbeschwerde des Genannten wies der Oberste Gerichtshof mit Beschluss vom 5. Juli 2011, GZ 12 Os 69/11f‑4, gemäß § 285d Abs 1 StPO zurück (ON 317).

Mit Schriftsatz vom 6. April 2012 begehrte der Verurteilte Franz S***** (unter anderem) die Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 353 Z 1 und 2 StPO (ON 339).

Der nach der Geschäftsverteilung des Landesgerichts für Strafsachen Wien hiefür zuständige Richter DI MMag. Michael T***** brachte dem Präsidenten des Landesgerichts für Strafsachen Wien zur Kenntnis, dass er im Verfahren AZ 13 Hv 109/10g des Landesgerichts für Strafsachen Wien seinerzeit als Vertreter des Vorsitzenden des Schöffensenats die Anklage zugestellt hatte (E‑Mail vom 16. April 2012 in AZ 1 Ns 77/12m des Landesgerichts für Strafsachen Wien) und legte den Akt gemäß § 43 Abs 4 StPO vor (ON 341).

Mit Beschluss vom 17. April 2012, AZ 1 Ns 77/12m, stellte der Präsident des Landesgerichts für Strafsachen Wien fest, dass DI MMag. Michael T***** vom Verfahren ausgeschlossen und der (die) nunmehr zur Entscheidung berufene Richter (Richterin) nach den Bestimmungen der Geschäftsverteilung zu ermitteln ist (ON 342), weil DI MMag. Michael T***** infolge Zustellung der Anklageschrift im Verfahren AZ 13 Hv 109/10g des Landesgerichts für Strafsachen Wien bereits als Richter tätig gewesen sei.

Rechtliche Beurteilung

Der Beschluss des Präsidenten des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 17. April 2012 steht ‑ wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt ‑ mit dem Gesetz nicht in Einklang:

Gemäß § 43 Abs 4 StPO ist ein Richter ua von der Entscheidung über einen Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens und von der Mitwirkung und Entscheidung im erneuerten Verfahren ausgeschlossen, wenn er im Verfahren bereits als Richter tätig gewesen ist. Dafür reicht ‑ wenngleich der Wortlaut der in Rede stehenden Bestimmung prima facie darauf hinzudeuten scheint ‑ eine Tätigkeit im früheren Verfahren schlechthin nicht aus. Vielmehr ist, wie durch das Wort „bereits“ klargestellt wird (arg: „… im Verfahren bereits als Richter tätig gewesen ist“), der Gegenstand des Antrags auf Wiederaufnahme des Verfahrens mit dem Gegenstand der richterlichen Tätigkeit im früheren Verfahren zu vergleichen. Ein Richter ist nur dann von der Entscheidung über einen Antrag auf Wiederaufnahme ausgeschlossen, wenn er gerade mit dem davon betroffenen Entscheidungsgegenstand des früheren Verfahrens befasst gewesen ist (RIS‑Justiz RS0125149 [T2], RS0102097 [T4]; Lässig, WK‑StPO § 43 Rz 16). Sinn und Zweck der Ausschlussregelung des § 43 Abs 4 StPO liegt darin, die Entscheidung über den Wiederaufnahmeantrag und die Führung des erneuerten Verfahrens einem Richter zu übertragen, der die ‑ dem Wiederaufnahmeverfahren zugrunde liegende ‑ Verdachtslage bislang noch nicht geprüft und noch keine inhaltlichen Entscheidungen dazu getroffen oder an einer Sanktionierung dieses Angeklagten mitgewirkt hat (RIS‑Justiz RS0125149 [T9]).

Vorliegend hat der Richter DI MMag. Michael T*****, indem er im Verfahren AZ 13 Hv 109/10g des Landesgerichts für Strafsachen Wien die Zustellung der Anklageschrift verfügte (ON 1 S 122), eine vom Gesetz (§ 213 Abs 1 StPO) zwingend vorgesehene Anordnung getroffen. Dieser Vorgang ist ‑ ungeachtet eines dabei allenfalls vorgenommenen Aktenstudiums ‑ keine ermittlungs‑ oder erkenntnisrichterliche Tätigkeit, weil die nach einem Verzicht des Angeklagten auf Einspruch gegen die Anklageschrift oder nach Verstreichen der Einspruchsfrist gemäß § 213 Abs 4 StPO durchzuführende Prüfung der Zuständigkeit durch den Vorsitzenden zu einem späteren Zeitpunkt stattfindet. Als Verfügung rein formeller Art vermag die Zustellung der Anklageschrift bei der hier maßgeblichen inhaltlichen Betrachtungsweise (Lässig, WK‑StPO § 43 Rz 32 iVm Rz 18 ff) eine Ausgeschlossenheit des genannten Richters nicht zu begründen.

Es ist nicht auszuschließen, dass der Gesetzesverstoß dem Verurteilten zum Nachteil gereicht (Art 83 Abs 2 B‑VG), weswegen sich der Oberste Gerichtshof veranlasst sah, den Beschluss aufzuheben und zu erkennen, dass Richter DI MMag. T***** aus dem Grund der Zustellung der Anklageschrift im Verfahren AZ 13 Hv 109/10g nicht ausgeschlossen ist. Der Präsident des Landesgerichts für Strafsachen Wien wird daher diesem Richter, soweit er nach der Geschäftsverteilung nach wie vor zuständig ist, sonst dem nunmehr zuständigen Richter oder der zuständigen Richterin die Sache zu übertragen haben.

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