OGH 13Os48/12a

OGH13Os48/12a5.7.2012

Der Oberste Gerichtshof hat am 5. Juli 2012 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Temper als Schriftführerin in der Strafsache gegen Roland M***** wegen Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB und anderer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts Eisenstadt als Schöffengericht vom 9. Februar 2012, GZ 9 Hv 17/11y‑53, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2012:0130OS00048.12A.0705.000

 

Spruch:

 

In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil aufgehoben, eine neue Hauptverhandlung angeordnet und die Sache an das Landesgericht Eisenstadt verwiesen.

Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.

 

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Roland M***** jeweils mehrerer Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB (I/1) und des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB (I/2), mehrerer Vergehen (richtig) des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 1 StGB (I/3) sowie des Verbrechens der schweren Nötigung nach §§ 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 3 StGB (II) schuldig erkannt.

Danach hat er vom Herbst 2005 bis zum März 2006 in G*****

(I) in jeweils mehreren Angriffen

1) mit der am 19. Dezember 1994 geborenen Jennifer P***** dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen unternommen, indem er einen Finger in deren Scheide einführte,

2) außer dem Fall des § 206 StGB geschlechtliche Handlungen an der am 19. Dezember 1994 geborenen Jennifer P***** vorgenommen, indem er sie im Bereich der Brust und der Scheide intensiv streichelte und einmal ihre Scheide leckte, sowie

3) durch die zu I/1 und I/2 beschriebenen Handlungen mit seinem minderjährigen Stiefkind geschlechtliche Handlungen vorgenommen, weiters

(II) Jennifer P***** durch die Drohung, er werde „ihr und ihrer Mutter ansonsten etwas antun“, zur Unterlassung einer Anzeige sowie der Verständigung von Betreuungspersonen hinsichtlich der zu I beschriebenen sexuellen Handlungen genötigt.

Die dagegen aus Z 3, 5, 9 lit a, 10 und 11 des § 281 Abs 1 StPO erhobene Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten ist im Recht.

Rechtliche Beurteilung

Die Verfahrensrüge (Z 3) zeigt zutreffend auf, dass die Aussagen der Zeugen Mag. Thomas H***** (ON 45 S 29 bis S 31) und Petra Ma***** (ON 45 S 50 bis S 54) infolge (nach dem ungerügten Protokoll über die Hauptverhandlung [ON 45]) unterlassener Information über das Recht auf Verweigerung der Aussage nach § 157 Abs 1 Z 3 StPO gemäß § 159 Abs 3 StPO nichtig sind.

Nach der ‑ auch schon im Zeitpunkt des jeweiligen Vernehmungsbeginns gegeben gewesenen ‑ Aktenlage ist Mag. Thomas H***** graduierter Psychologe (ON 45 S 30, ON 45 S 29 iVm ON 2 S 13 in ON 2), Petra Ma***** Sozialpädagogin in einem Wohnheim für Kinder und Jugendliche der V***** (ON 52 S 20 iVm ON 2 S 31 in ON 2 und ON 7 S 69 in ON 2). Unter dem Aspekt der beruflichen Stellung fallen somit beide in den Regelungsbereich des § 157 Abs 1 Z 3 StPO ( Kirchbacher , WK‑StPO § 157 Rz 23, 26).

Da Mag. H***** und Petra Ma***** Jennifer P***** betreuten (ON 52 S 20 iVm ON 6 S 65 f in ON 2 und ON 7 S 69 in ON 2) und die Informationen, die Gegenstand ihrer Zeugenaussage waren, im Rahmen ihrer Betreuungsfunktion erlangten (s insbes ON 52 S 20 iVm ON 2 S 15 in ON 2), sind diese Informationen durch § 157 Abs 1 Z 3 StPO geschützt ( Kirchbacher in WK² § 157 Rz 27).

Bei der Beurteilung potentieller Auswirkungen der Verletzung von Bestimmungen, deren Einhaltung das Gesetz bei sonstiger Nichtigkeit anordnet, auf die Entscheidung des Schöffengerichts (§ 281 Abs 3 StPO) ist der Oberste Gerichtshof nicht an die Urteilsgründe gebunden, vielmehr beurteilt er das Gewicht des jeweiligen Verstoßes aus eigener Sicht ( Ratz , WK‑StPO § 281 Rz 740). Fallbezogen stützt das Erstgericht seine Konstatierungen zwar nicht ausdrücklich auf die Aussagen der Zeugen Mag. Thomas H***** und Petra Ma***** (die nicht auf bestimmte Konstatierungen bezogene, mit dem daher nichtssagenden Satz, dass die getroffenen Feststellungen darauf gründen, verbundene Aufzählung der in der Hauptverhandlung vorgeführten Beweismittel stellt ‑ entgegen der Beschwerde ‑ keine Begründung dar [ Ratz , WK‑StPO § 281 Rz 429]). Im Hinblick darauf, dass die Feststellungen zum jeweiligen Tathergang ausschließlich auf der Aussage der Zeugin Jennifer P***** fußen, deren Glaubwürdigkeit somit im Rahmen der tatrichterlichen Beweiswürdigung (§ 258 Abs 2 StPO) zentrale Bedeutung zukommt (s auch US 12), und dass Mag. Thomas H***** und Petra Ma***** ‑ als Psychologe bzw als sozialpädagogische Betreuerin ‑ gerade dazu Aussagen trafen (ON 45 S 31 und S 51 f), kann aus Sicht des Obersten Gerichtshofs ein dem Angeklagten nachteiliger Einfluss der Formverletzung nicht ausgeschlossen werden.

Der Schuldspruch war daher in Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde (ohne Eingehen auf deren weitere Argumente) schon bei der nichtöffentlichen Beratung sofort aufzuheben (§ 285e StPO), was die Kassation des Strafausspruchs und des Adhäsionserkenntnisses nach sich zog.

Hierauf war der Angeklagte mit seiner Berufung zu verweisen.

Im Hinblick auf weitere ‑ großteils auch von der Nichtigkeitsbeschwerde aufgezeigte ‑ Fehler im Erkenntnisverfahren sei für den zweiten Rechtsgang festgehalten:

Nach § 240a Abs 1 erster Satz StPO sind die Schöffen, die in demselben Jahr noch nicht beeidigt worden sind, bei sonstiger Nichtigkeit eingangs der Hauptverhandlung zu beeidigen. Um die Überprüfung der Einhaltung dieser Formvorschrift durch das Rechtsmittelgericht zu ermöglichen, ist im Fall des Absehens von der Beeidigung gegebenenfalls das Datum der bereits erfolgten Beeidigung im Protokoll über die Hauptverhandlung festzuhalten, was hier nicht geschehen ist (ON 45 S 2).

Protokolle über die Vernehmung von Mitbeschuldigten und Zeugen dürfen bei sonstiger Nichtigkeit nur in den in § 252 Abs 1 StPO vorgesehenen Fällen, nicht jedoch ‑ wie hier (ON 52 S 20) ‑ nach § 252 Abs 2 StPO verlesen werden.

Das Anlasten von Vorwürfen, von denen der Angeklagte (rechtskräftig) freigesprochen worden ist (vgl US 4 bis 6, 17), verstößt gegen die ‑ durch Art 6 Abs 2 MRK verfassungsrechtlich garantierte ‑ Unschuldsvermutung ( Grabenwarter/Pabel EMRK 5 § 24 Rz 127 f).

Das Heranziehen mangelnder Schuldeinsicht zur Begründung der Ablehnung bedingter Strafnachsicht (US 17) stellt einen unvertretbaren Gesetzesverstoß im Sinn des § 281 Abs 1 Z 11 dritter Fall StPO dar (12 Os 31/07m).

In der Begehungsform der Vornahme einer geschlechtlichen Handlung an einer geschützten Person verlangt § 212 Abs 1 StGB nicht die Absicht, sich oder einen Dritten geschlechtlich zu erregen oder zu befriedigen (vgl demgegenüber US 9).

Die Beurteilung des Sinnes und des Bedeutungsinhalts einer Äußerung fällt in den Tatsachenbereich und setzt demgemäß unter dem Aspekt rechtsrichtiger Subsumtion darauf bezogene Feststellungen tatsächlicher Natur voraus ( Jerabek in WK 2 § 74 Rz 34), wogegen die angefochtene Entscheidung zur den Schuldspruch II betreffenden „Drohung“ bloß den Wortlaut der Äußerung (der Angeklagte habe angekündigt, dass er Jennifer P***** oder ihrer Mutter „etwas antun werde“) konstatiert (US 9). Die im Urteilstenor (§ 260 Abs 1 Z 1 StPO) vorgenommene Interpretation dieser Äußerung (US 2) vermag die insoweit fehlenden Feststellungen nicht zu ersetzen ( Ratz , WK‑StPO § 281 Rz 580).

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