OGH 2Ob135/11h

OGH2Ob135/11h19.1.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Sol, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Peter ***** H*****, vertreten durch Mag. Johann Galanda, Dr. Anja Oberkofler, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagten Parteien 1. A***** Versicherungs AG, *****, 2. U***** H***** GmbH, ***** und 3. Dr. Harald D*****, alle vertreten durch Dr. Wolfgang Waldeck, Dr. Hubert Hasenauer, Rechtsanwälte in Wien, wegen 21.700,67 EUR sA und Feststellung, über die Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 26. April 2011, GZ 14 R 218/10x-12, womit das Teilzwischenurteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 6. Oktober 2010, GZ 2 Cg 36/10v-8, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Revisionsbeantwortung wird zurückgewiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 28. 6. 2007 ereignete sich gegen 8:30 Uhr in 1160 Wien auf der Kreuzung der Hasnerstraße mit der Arltgasse ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Radfahrer sowie der Drittbeklagte als Lenker eines bei der Erstbeklagten haftpflichtversicherten und von der Zweitbeklagten gehaltenen PKW beteiligt waren. Die Arltgasse, die der Drittbeklagte in Richtung Thaliastraße befuhr, ist eine Einbahn, die bei der Kreuzung mit der Hasnerstraße in die Fahrbahn des Schuhmeierplatzes übergeht, und dort in beide Fahrtrichtungen befahrbar ist. In Fahrtrichtung des Drittbeklagten gesehen vor der Hasnerstraße befindet sich ein Vorschriftszeichen „Vorrang geben“ und ein darüber angebrachtes Gefahrenzeichen „Achtung Gegenverkehr“ sowie in einigem Abstand rechts davon ein Gefahrenzeichen „Andere Gefahren“ mit der Zusatztafel „Radroute kreuzt“. Die Verlängerung der Hasnerstraße ist nach der Kreuzung mit der Arltgasse mit Kraftfahrzeugen nicht mehr befahrbar, sondern in den Park des Schuhmeierplatzes integriert. Im Bereich des früheren nordseitigen Gehsteigs der Verlängerung befindet sich ein Geh- und Radweg, den der Kläger benutzte. Der Geh- und Radweg endet bei der Arltgasse, was durch ein entsprechendes Verkehrszeichen kundgemacht ist.

Der Drittbeklagte hielt eine Geschwindigkeit von etwa 30 km/h ein, die er im Bereich der Kreuzung auf etwa 25 km/h verringerte. Der Drittbeklagte achtete auf allfälligen Gegenverkehr und Verkehr aus der von rechts einmündenden Hasnerstraße, nicht aber auf von links kommende Radfahrer und sah den Kläger vor der Kollision nicht. Der Kläger fuhr mit etwa 5 km/h und hatte vor, die Arltgasse zu queren und in der Hasnerstraße weiterzufahren. Als er den Gehsteig der Arltgasse querte, achtete er auf allenfalls von links kommende Fahrzeuge, nicht aber auf von rechts kommende. Er sah daher das Beklagtenfahrzeug erst unmittelbar vor der Kollision und versuchte vergeblich auszuweichen. Beiden Unfallbeteiligten war durch einen geparkten Kastenwagen die Sicht aufeinander eingeschränkt. Danach war beiden bei den jeweils eingehaltenen Geschwindigkeiten ein kollisionsfreies Anhalten nicht mehr möglich.

Der Kläger macht geltend, der Drittbeklagte habe seinen Vorrang missachtet.

Die Beklagten wenden ein, der Kläger hätte den Vorrang des Drittbeklagten verletzt, weil der Radweg unmittelbar vor der Arltgasse ende. Das Verkehrszeichen „Vorrang geben“ beziehe sich ausschließlich auf den Verkehr auf der Fahrbahn, nicht jedoch auf den nicht erkennbaren, aus einer Parkanlage kommenden und vor dem Gehsteig endenden Radweg. Der Kläger sei, aus Sicht des Drittbeklagten gesehen, hinter linksseitig geparkten Fahrzeugen aus der Parkanlage „geschossen“. Dem Drittbeklagten sei eine unfallverhütende Abwehrhandlung nicht möglich gewesen.

Das Erstgericht gab mit Teil- und Zwischenurteil dem Leistungsbegehren dem Grunde nach statt. § 19 Abs 4 StVO sei lex specialis zu § 19 Abs 6a StVO. Dem Kläger sei daher der Vorrang gegenüber dem Drittbeklagten zugekommen.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Aufgrund des Gefahrenzeichens mit Hinweis auf die kreuzende Radroute habe der Drittbeklagte auch mit von links kommenden Radfahrern rechnen und seine Fahrweise darauf ausrichten müssen. Die Beklagten hätten sich in erster Instanz lediglich auf die Vorrangverletzung durch den Kläger berufen sowie darauf, dass er aus der Parkanlage „herausgeschossen“ sei. Ein Vorbringen in Richtung einer groben Unaufmerksamkeit oder Sorgfaltswidrigkeit, oder Unterlassung der ausreichenden Beobachtung des Querverkehrs sei dagegen nicht erstattet worden, weshalb von einem Mitverschulden des Klägers ohne Verstoß gegen das Neuerungsverbot nicht ausgegangen werden könne.

Das Berufungsgericht ließ die Revision mit der Begründung zu, zum Verhältnis von § 19 Abs 6a StVO zu § 19 Abs 4 StVO fehle Judikatur.

Rechtliche Beurteilung

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der beklagten Parteien mit dem Antrag das Klagebegehren abzuweisen; in eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung die Revision zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.

Die Revision ist zulässig, weil eine ausdrückliche Stellungnahme des Obersten Gerichtshofs zum Verhältnis von § 19 Abs 4 StVO zu § 19 Abs 6a StVO fehlt, sie ist aber nicht berechtigt.

1. Zum räumlichen Geltungsbereich des Verkehrszeichens „Vorrang geben“:

In diesem Zusammenhang meinen die Beklagten, dass der Einmündungsbereich des Geh- und Radwegs in die Arltgasse nicht als Kreuzung iSd § 2 Abs 1 Z 17 StVO anzusehen sei. Selbst wenn man aber von einer Kreuzung ausgehe, sei das Verkehrszeichen „Vorrang geben“ unmittelbar vor der (ersten) Kreuzung der Arltgasse mit der Hasnerstraße angebracht, jedoch 16 m vor der (zweiten) Kreuzung mit dem Ende des Radwegs, sodass dieses Verkehrszeichen in Bezug auf die Einmündung des Radwegs im Hinblick auf § 51 Abs 2 StVO nicht gehörig kundgemacht sei.

Gemäß § 2 Abs 1 Z 17 StVO ist eine Kreuzung eine Stelle, auf der eine Straße eine andere überschneidet oder in sie einmündet, gleichgültig in welchem Winkel. Unter Straße ist gemäß § 2 Abs 1 Z 1 StVO eine für den Fußgänger- oder Fahrzeugverkehr bestimmte Landfläche samt den in ihrem Zuge befindlichen und diesem Verkehr dienenden baulichen Anlagen zu verstehen. Ein Geh- und Radweg ist nach § 2 Abs 1 Z 11a StVO ein für den Fußgänger- und Fahrradverkehr bestimmter und als solcher gekennzeichneter Weg.

Auch ein Geh- und Radweg ist daher eine Straße im Sinne der StVO und die Einmündung eines Radwegs in eine andere Straße eine Kreuzung (vgl 2 Ob 40/08h).

Soweit die Revision meint, es handle sich hier um eine „Ausfahrt“ von einem früher endenden Radweg, ist ihr entgegenzuhalten, dass - selbst wenn man dieser Argumentation folgte - die Voraussetzung einer Kreuzung auch selbständige Verkehrsflächen erfüllen können, die nicht dem fließenden Verkehr dienen und deren Benutzer zB gemäß § 19 Abs 6 StVO gegenüber dem fließenden Verkehr wartepflichtig sind. Bei Ausfahrten von Häusern oder Grundstücken udgl fehlt es zwar regelmäßig am Merkmal einer anderen Straße, mit der eine Kreuzung gebildet werden könnte (vgl RIS-Justiz RS0111415), dies bedeutet aber selbst dort keineswegs, dass solchen Verkehrsflächen generell immer die Qualifikation als Straße abgesprochen werden kann (2 Ob 233/08s). Umso weniger kann dies für die Einmündung eines Radwegs gelten, auch wenn bei seinem Verlassen der Gehsteig der querenden Straße zu überfahren ist.

Die Frage, ob das Zusammentreffen mehrerer Straßen als einheitliche Kreuzung anzusehen ist, kann nur im Einzelfall nach der gesamten straßenbaulichen Situation beurteilt werden (RIS-Justiz RS0111721).

Eine Kreuzung reicht von Baulinie zu Baulinie und umfasst auch Nebenfahrbahnen und Gehsteige (RIS-Justiz RS0111086 = 2 Ob 333/97b). Sie wird von den gemeinsamen Schnittflächen der sich kreuzenden Straßen gebildet (RIS-Justiz RS0073454; RS0073469). Auch ein Schutzweg an einer Kreuzung gehört noch zum Kreuzungsbereich, ebenso die gedachte Verlängerung der Gehsteige (RIS-Justiz RS0073376).

Hier bildet auch der auf dem ehemaligen Gehsteig der nun von Kraftfahrzeugen nicht mehr befahrbaren Verlängerung der Hasnerstraße gelegene Geh- und Radweg eine Schnittlinie mit der Arltgasse und der Hasnerstraße im Sinne der oben genannten Judikatur. Seine gedachte Verlängerung gehört daher der gemeinsamen Schnittfläche der sich kreuzenden Straßen an.

Es ist daher entgegen der Ansicht der Revision von einer einheitlichen und einzigen Kreuzung auszugehen. Daraus folgt, dass das Vorschriftszeichen „Vorrang geben“ in Bezug auf die einheitliche Kreuzung ordnungsgemäß kundgemacht und für den gesamten Kreuzungsbereich inklusive der Einmündung des Geh- und Radwegs wirksam aufgestellt war.

2. Damit stellt sich die Frage des Verhältnisses zwischen § 19 Abs 4 StVO und § 19 Abs 6a StVO:

Wie bereits die Vorinstanzen und die Revision dargelegt haben, betraf die Entscheidung 2 Ob 256/04t die Kreuzung eines Radwegs mit einer Straße, auf der sich eine Stop-Tafel befand, und ist daher mit der hier vorliegenden Situation nicht hinreichend vergleichbar. In 2 Ob 40/08h hat der erkennende Senat ausgesprochen, dass ein auf einer Nebenfahrbahn vor einem einmündenden, endenden Radweg aufgestelltes Vorschriftszeichen „Vorrang geben“ die Nebenfahrbahn abwertet und damit dem vom Radweg kommenden Verkehrsteilnehmer der Vorrang zukommt, sodass es auf weitere Überlegungen zum Vorrangverhältnis der in § 19 Abs 6a bis 6b StVO genannten Verkehrsflächen untereinander (insb Nebenfahrbahn - Fließverkehr) nicht mehr ankam. Weiters wurde in 2 Ob 233/08s zum Verhältnis § 19 Abs 4 StVO zu § 19 Abs 6 StVO ausgesprochen, dass die eindeutigere Vorrangregel der erstgenannten Bestimmung der komplexeren der zweitgenannten vorgehe.

Davon ist auch in der hier vorliegenden Konstellation auszugehen:

Der Drittbeklagte hatte sowohl das Vorschriftszeichen „Vorrang geben“ als auch ein Gefahrenzeichen mit der Zusatztafel „Radroute kreuzt“ zu beachten. Aufgrund dieser Beschilderungssituation musste ihm klar sein, dass Radfahrer sowohl von rechts (für deren Vorrang bedurfte es im Hinblick auf § 19 Abs 1 StVO keines Vorschriftzeichens) als auch von links kommen konnten. Dass der Radweg bei der Kreuzung mit der Arltgasse endete (und somit für einen sich von dort annähernden Radfahrer eine Situation iSd § 19 Abs 1 Z 6a StVO vorlag) war für ihn nicht erkennbar, umgekehrt dagegen für den Radfahrer die signifikante Form des Vorschriftzeichens „Vorrang geben“ durchaus.

Der erkennende Senat ist daher der Ansicht, dass auch bei dieser Kreuzungssituation im Hinblick auf die notwendige Schnelligkeit, mit der Verkehrsteilnehmer die Vorrangsituation beurteilen können müssen, und im Sinne einer möglichst einfachen Handhabbarkeit die eindeutigere Vorrangregelung des § 19 Abs 4 StVO vorzugehen hat. Es ist daher in Übereinstimmung mit den Vorinstanzen davon auszugehen, dass den Drittbeklagten die Wartepflicht traf.

Dass das Gefahrenzeichen mit der Zusatztafel „Radroute kreuzt“ wie die Revision meint „exzentrisch“ angebracht war, weil es nicht unmittelbar neben dem Vorschriftszeichen „Vorrang geben“ sondern weiter rechts angebracht war, ändert an dieser Beurteilung nichts, waren doch beide Verkehrszeichen unstrittigermaßen für den sich annähernden Drittbeklagten ungehindert wahrnehmbar.

3. Zum Mitverschulden:

Die Revisionswerber meinen, dass ihr erstinstanzliches Vorbringen einen mitverschuldensrelevanten Vorwurf im Sinne einer völligen Unachtsamkeit des Klägers beinhalte.

Die Beklagten haben in erster Instanz einerseits vorgebracht, dass den Kläger die Wartepflicht getroffen habe - eine Rechtsansicht, die aus den oben genannten Gründen nicht geteilt wird. Weiters haben sie vorgebracht, dass der Kläger vom Radweg kommend auf die Fahrbahn der Arltgasse „schoss“.

Nach den Feststellungen hat der Kläger eine Geschwindigkeit von 5 km/h eingehalten und, sobald er des Beklagtenfahrzeugs ansichtig werden konnte, eine Abwehrhandlung zu setzen versucht, wobei ihm aber ein kollisionsfreies Anhalten ab erstmaliger Erkennbarkeit nicht mehr möglich war.

Damit haben die Beklagten aber auch eine völlige Unachtsamkeit des Klägers nicht nachgewiesen.

Dass der Kläger aufgrund des sichtbehindernd geparkten Kastenwagens mit relativ überhöhter Geschwindigkeit gefahren wäre, kann - entgegen dem Standpunkt der Revisionswerber - nicht gesagt werden. Als bevorrangter Verkehrsteilnehmer musste er in der konkreten Situation sein Fahrverhalten keineswegs so wählen, dass er einem allfälligen verkehrswidrigen Verhalten eines für ihn noch nicht wahrnehmbaren benachrangten Verkehrsteilnehmers Rechnung tragen hätte können. Eine andere Ansicht würde zu einer Umkehrung der Vorrangregeln führen (vgl 8 Ob 74/85 zu einer Campingplatzausfahrt). Vielmehr war es im gegebenen Einzelfall Sache des benachrangten Drittbeklagten, sein Fahrverhalten den Sichtverhältnissen anzupassen.

Die Revision wurde der klagenden Partei am 9. 6. 2011 zugestellt. Die am 8. 7. 2011 zur Post gegebene Revisionsbeantwortung ist daher verspätet.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 393 Abs 4, § 52 Abs 2 ZPO.

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