OGH 3Ob2/12h

OGH3Ob2/12h18.1.2012

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Prückner als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.‑Prof. Dr. Neumayr, die Hofrätin Dr. Lovrek und die Hofräte Dr. Jensik und Dr. Roch als weitere Richter in der Familienrechtssache der Antragstellerin V*****, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Amt für Jugend und Familie, Rechtsvertretung Bezirke 12, 13, 23, Wien 23, Rößlergasse 15), gegen den Antragsgegner A*****, unbekannten Aufenthalts, vertreten durch den Abwesenheitskurator Dr. Christian Lang, Rechtsanwalt in Wien, wegen Feststellung der Abstammung, über den Revisionsrekurs der Antragstellerin gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 20. Oktober 2011, GZ 43 R 564/11a-26, womit infolge Rekurses der Republik Österreich (Bundespolizeidirektion Wien), vertreten durch die Finanzprokuratur, der Beschluss des Bezirksgerichts Liesing vom 14. Juli 2011, GZ 5 FAM 36/11x‑18, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs der Antragstellerin wird nicht Folge gegeben.

Begründung

Die Antragstellerin begehrt (unter anderem) die Feststellung der Vaterschaft des Antragsgegners, der unbekannten Aufenthalts ist und im Verfahren durch einen Abwesenheitskurator vertreten wird.

Im Zuge einer erkennungsdienstlichen Behandlung in einem Strafverfahren war DNA-Material des Antragsgegners entnommen worden; über dieses DNA‑Material verfügt die Bundespolizeidirektion Wien. Mit Schreiben vom 15. April 2011 (ON 14) lehnte die Bundespolizeidirektion Wien das Ersuchen des Gerichts ab, DNA-Material des Antragsgegners bzw Auswertungen darüber („genetische Informationen“) zur Verwendung im Abstammungsverfahren zur Verfügung zu stellen.

Das Erstgericht bestellte einen Sachverständigen mit dem Auftrag, durch ein DNA-Gutachten festzustellen, ob der Antragsgegner als Vater der Antragstellerin auszuschließen ist bzw wie hoch der Grad der Vaterschaftswahrscheinlichkeit ist.

Mit Beschluss vom 14. Juli 2011 verpflichtete das Erstgericht die Bundespolizeidirektion Wien, „bei der Befundaufnahme, insbesondere an der notwendigen Gewinnung von Gewebeproben, Körperflüssigkeiten und Blutproben insofern mitzuwirken, als sie DNA-Probenmaterial des Antragsgegners bzw Auswertungen (genetische Informationen) darüber dem Sachverständigen zur Verfügung zu stellen hat“.

Die Feststellung der Abstammung sei ein elementares Grundrecht jedes Menschen; sie dürfe nicht an der ungerechtfertigten Weigerung beteiligter Personen scheitern. Das Interesse des Kindes an der Feststellung der Abstammung, aber auch das öffentliche Interesse daran und das gesellschaftspolitische Anliegen seien höher zu bewerten als mögliche Interessen des Antragsgegners, seien sie datenschutz- oder unterhaltsrechtlicher Natur. Im Übrigen müsste es auch im Interesse des Antragsgegners liegen, durch ein DNA-Gutachten weitestgehende Sicherheit über die Abstammung zu erlangen, weil eine mögliche Feststellung der Vaterschaft nach § 163 Abs 2 ABGB drohe und ihm mangels Gutachtens der Gegenbeweis nach § 163 Abs 2 letzter Satz ABGB nicht gelingen könnte. Aus diesem Grund sei § 85 AußStrG, der seiner Intention nach auch Stellen wie die Bundespolizeidirektion Wien als „Person“ im weiteren Sinn umfasse, als Ergänzung zu den einschlägigen Bestimmungen des SPG bzw der StPO zu verstehen, die es erlaube und gebiete, genetische Information im Abstammungsverfahren dem Sachverständigen zur Verfügung zu stellen. Für dieses Ergebnis spreche auch die im Lichte des Art 8 EMRK gebotene verfassungskonforme Interpretation dieser Bestimmungen.

Über Rekurs der Republik Österreich (Bundespolizeidirektion Wien) änderte das Rekursgericht den erstgerichtlichen Beschluss im Sinne einer ersatzlosen Behebung ab.

Entscheidend sei das Verhältnis von § 85 Abs 4 AußStrG zu § 67 SPG. Nach § 85 Abs 4 AußStrG könne das Gericht von jedermann die Herausgabe notwendiger Gewebeproben, Körperflüssigkeiten und Blutproben der in § 85 Abs 1 AußStrG genannten Personen verlangen, soweit dem nicht besondere gesetzliche Bestimmungen entgegenstehen. § 67 Abs 2 SPG erlaube eine Auswertung genetischer Information, die durch erkennungsdienstliche Maßnahmen ermittelt worden sei, ausschließlich für Zwecke des Erkennungsdienstes. Der Gesetzgeber habe in der Regierungsvorlage zum AußStrG ausdrücklich klargestellt, dass (etwa) Proben nach § 67 SPG unter den Gesetzesvorbehalt des § 85 Abs 4 AußStrG fallen, weshalb diesbezüglich ein „Herausgabeanspruch des Gerichts“ ausgeschlossen sei. Da eine gesetzliche Grundlage für die vom Erstgericht angeordnete Mitwirkung der Bundespolizeidirektion Wien nicht gefunden werden könne, erübrige sich ein Eingehen auf die Frage, ob die erstgerichtliche Anordnung auch nach anderen Normen (B‑VG, DSG 2000) unzulässig sei.

Der Revisionsrekurs sei zulässig, weil das Erstgericht beachtliche Argumente für eine gegenteilige Sicht mit dem Hinweis auf Art 8 EMRK aufgezeigt habe. Letztlich würde das Recht des Kindes auf Kenntnis der wahren Abstammung mit dem Datenschutzrecht konkurrieren. Die endgültige Entscheidung dieser Wertungsfrage müsse dem ‑ bisher nicht mit der Frage konfrontierten ‑ Höchstgericht überlassen bleiben.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs der Antragstellerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Wiederherstellung des erstinstanzlichen Auftrags.

Die Republik Österreich (Bundespolizeidirektion Wien) beantragt, dem Revisionsrekurs nicht Folge zu geben. Der Antragsgegner hat sich am Revisionsrekursverfahren nicht beteiligt.

Der Revisionsrekurs ist aus den vom Rekursgericht genannten Gründen zulässig, jedoch nicht berechtigt.

In ihrem Revisionsrekurs macht die Antragstellerin im Wesentlichen geltend, dass durch die Herausgabe des DNA-Materials keine schutzwürdigen Interessen des Antragsgegners beeinträchtigt würden. Es sei nicht Aufgabe des Datenschutzes, den flüchtigen Antragsgegner insbesondere vor unterhaltsrechtlichen Konsequenzen einer Vaterschaftsfeststellung zu schützen; das Recht des ‑ unter dem besonderen Schutz der Gesetze stehenden ‑ Kindes auf Feststellung seiner Abstammung gehe schon im Hinblick auf Art 8 EMRK vor.

Im Übrigen würde der mutmaßliche Vater, der flüchtig sei, gegenüber einem mutmaßlichen Vater mit bekanntem Aufenthalt bevorzugt. Letzterer könne bei Verweigerung der Mitwirkung an der Abstammungsfeststellung unter Mithilfe der Organe der öffentlichen Sicherheit zur Mitwirkung gezwungen werden. Daran zeige sich, dass die Rechtsordnung das Interesse des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung höher stelle als die Entscheidungsfreiheit des potenziellen Vaters, am Abstammungsverfahren nicht mitwirken zu wollen.

In ihrer Revisionsrekursbeantwortung erwidert die Republik Österreich (Bundespolizeidirektion Wien), dass auf einfachgesetzlicher Ebene klar geregelt sei, dass eine Heranziehung von im Rahmen des SPG gewonnenen DNA‑Proben zur Identifikation eines mutmaßlichen biologischen Vaters im Zuge eines Abstammungsverfahrens nach dem AußStrG nicht zulässig sei. Da der Gesetzgeber in den Gesetzesmaterialien klargestellt habe, dass er gerade diesen Fall bewusst bedacht und in Abwägung der kollidierenden Grundrechte eine wertende Entscheidung getroffen habe, fehle es an einer Regelungslücke im Gesetz. Auf der Ebene des Verfassungsrechts stehe einer Herausgabe des DNA-Materials das Recht des Vaters auf Schutz besonders schutzwürdiger Daten (§ 1 DSG 2000) entgegen. Für eine Beschränkung dieses Anspruchs des Vaters auf Datenschutz fehle es im konkreten Fall an einer gesetzlichen Grundlage sowie an einem wichtigen öffentlichen Interesse. Letztlich verletze der gerichtliche Auftrag das Prinzip der Gewaltentrennung: Ein ordentliches Gericht könne nicht eine Verwaltungsbehörde in deren hoheitlichen Zuständigkeitsbereich zu einem bestimmten Verhalten verpflichten.

Rechtliche Beurteilung

Dazu wurde erwogen:

1. Zum grundrechtlich geschützten Recht auf Feststellung der Abstammung:

Nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art 8 EMRK gehört zur Entwicklung der Person das Recht, notwendige Informationen über wesentliche Aspekte der eigenen Identität und der ihrer Eltern zu erhalten. Jedermann hat ein geschütztes Interesse daran, Auskünfte zu erhalten, die notwendig sind, die Kindheit und frühe Entwicklung zu verstehen. Dazu gehört auch die Möglichkeit der Gewinnung von Informationen über die Identität der Eltern (EGMR 1. April 2010, Bsw 57.813/00, S. H. ua/Österreich, EF‑Z 2012/7, 24 [ Bernat ], mwN in Rz 83).

Beschränkungen des grundrechtlich geschützten Anspruchs müssen nach Art 8 Abs 2 EMRK gerechtfertigt werden; zur Prüfung ihrer Notwendigkeit ist eine umfassende Interessenabwägung nötig ( Meyer-Ladewig , Europäische Menschenrechtskonvention 3 [2011] Art 8 Rz 22 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des EGMR).

Bei dieser Interessenabwägung müssen auch die Interessen Dritter berücksichtigt werden. Der EGMR hat in seiner Entscheidung vom 13. Juli 2006 im Fall Jäggi/Schweiz (Bsw 58.757/00 = NL 2006, 196 = FamRZ 2006, 1354) ausgesprochen, dass die Notwendigkeit des Schutzes von Rechten Dritter die Möglichkeit ausschließen kann, jemanden zu einer medizinischen Analyse wie einem DNA-Test zu zwingen. In dem vom EGMR entschiedenen Fall ging es um die Exhumierung eines Verstorbenen, der als Vater vermutet wurde, zum Zweck der Entnahme einer DNA-Probe; abzuwägen war zwischen dem Interesse an der Feststellung der Abstammung und dem Interesse an der körperlichen Unversehrtheit des Verstorbenen, der zu Lebzeiten eine Feststellung der Vaterschaft verweigert hatte. Der EGMR sprach aus, dass eine DNA-Probenentnahme ein relativ geringer Eingriff sei, weshalb die Ablehnung eines Privatgutachtens zur Vaterschaftsfeststellung als Verletzung von Art 8 EMRK zu qualifizieren sei.

In dem nun zu entscheidenden Fall ist der „Eingriff“ zur Entnahme einer DNA-Probe jedoch bereits erfolgt, sodass die genannte EGMR-Entscheidung nicht unmittelbar übertragbar ist. Festzuhalten ist nochmals, dass nach der Rechtsprechung des EGMR bei der Prüfung, ob Beschränkungen des grundrechtlich geschützten Anspruchs auf Informationen, die die Feststellung der Abstammung ermöglichen, notwendig sind, eine umfassende Interessenabwägung erforderlich ist.

2. Zur einfachgesetzlichen Rechtslage:

Nach § 85 Abs 4 AußStrG kann das Gericht im Abstammungsverfahren ‑ subsidiär gegenüber anderen Beweisen ‑ von jedermann die Herausgabe notwendiger Gewebeproben, Körperflüssigkeiten und Blutproben der in § 85 Abs 1 AußStrG genannten Personen (selbst wenn diese bereits verstorben sind) verlangen, soweit dem „besondere gesetzliche Bestimmungen nicht entgegenstehen“. § 85 Abs 1 AußStrG normiert Mitwirkungspflichten und nimmt dabei auf „die Parteien und alle Personen, die nach den Ergebnissen des Verfahrens zur Aufklärung des Sachverhalts beitragen können“, Bezug.

In den Gesetzesmaterialien (RV 224 BlgNR 22. GP 66) wird mehrfach auf die dem § 85 AußStrG zugrunde liegende grundrechtliche Abwägung Bezug genommen und auch darauf hingewiesen, dass die Feststellung der Abstammung ein elementares Grundrecht jedes Menschen ist, weshalb sie nicht an der ungerechtfertigten Weigerung beteiligter Personen scheitern darf. Speziell zu § 85 Abs 4 AußStrG wird ausgeführt, die Bestimmung solle „die Verwendung aufbewahrter Proben dadurch ermöglichen, dass ein diesbezüglicher Herausgabeanspruch des Gerichtes geschaffen wird. Auf diese Regelung wird sich gegebenenfalls auch die Exhumierung zur Probenentnahme stützen lassen. Von der Regelung sind aber Proben ausgenommen, die nach besonderen Vorschriften nicht herausgegeben oder nicht zweckwidrig verwendet werden dürfen, etwa Proben nach § 67 Sicherheitspolizeigesetz im Hinblick auf dessen Abs. 2“.

Der Gesetzgeber hatte also genau den hier vorliegenden Fall im Auge, in dem genetische Informationen bereits durch erkennungsdienstliche Maßnahmen ermittelt worden waren; diese dürfen gemäß § 67 Abs 2 SPG ausschließlich für Zwecke des Erkennungsdienstes ausgewertet werden. Der Gesetzgeber nahm also unter Einbeziehung des Art 8 EMRK bewusst eine Interessenabwägung zugunsten der datenschutzrechtlichen Regelung des § 67 Abs 2 SPG vor, weshalb es nicht möglich ist, die Wortfolge „und besondere gesetzliche Bestimmungen nicht entgegenstehen“ in § 85 Abs 4 AußStrG so zu interpretieren, dass sie sich nicht auf § 67 Abs 2 SPG bezieht.

Das Gericht kann daher nicht die Herausgabe der bereits entnommenen DNA‑Proben verlangen.

3. Somit erübrigt sich ein Eingehen auf die Frage, ob auch eine Verwaltungsbehörde unter den in § 85 Abs 1 AußStrG angesprochenen Personenkreis fällt, sowie auf die Frage, ob und inwieweit das Gericht einer Verwaltungsbehörde Aufträge erteilen darf.

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