OGH 10ObS171/11m

OGH10ObS171/11m17.1.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Werner Rodlauer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wolfgang Cadilek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei J*****, vertreten durch Dr. Peter Gregorich, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. August 2011, GZ 10 Rs 115/11x-29, womit das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 19. April 2011, GZ 7 Cgs 122/10x-26, teilweise aufgehoben wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Die am 25. 7. 1955 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt und war in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag bis 1998 als Bedienerin beschäftigt.

Aufgrund ihres Gesundheitszustands sind der Klägerin über den 31. 10. 2010 hinaus leichte körperliche Arbeiten im Sitzen sowie Tätigkeiten, die nicht mehr als zweidrittelzeitig gehend und/oder stehend verrichtet werden müssen, in der üblichen Arbeitszeit mit den üblichen Arbeitspausen möglich. Arbeiten, die längerdauerndes Sitzen mit vorgeneigter Zwangshaltung und gebückte und vorgebeugte Körperhaltung erfordern, sind auszuschließen. Regelmäßige kniende und/oder hockende Arbeiten, Arbeiten über Schulterniveau, häufiges Besteigen von Treppen oder Stiegen, mehr als zweidrittelzeitig Bildschirmarbeit über den ganzen Tag verteilt und übermäßige Kälte- und Nässeexposition müssen ebenfalls vermieden werden.

Die Klägerin ist für Arbeiten mit einfachem psychischem Anforderungsprofil unterweisbar. Durchschnittlicher, drittelzeitig auch überdurchschnittlicher Zeitdruck ist der Klägerin zumutbar. Die Team- und Kommunikationsfähigkeit ist für Arbeiten in kleinen Gruppen ausreichend. Mengenleistungen und Aufsichtstätigkeiten sind möglich. Die Fingerfertigkeit ist ungestört. Der Anmarschweg zur Arbeitsstätte ist nicht eingeschränkt.

Die Klägerin ist aufgrund ihres Gesundheitszustands nicht mehr in der Lage, als Reinigungskraft zu arbeiten. Sie kann jedoch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch die Verweisungstätigkeit einer Hilfsarbeiterin im Bereich der Leichtwarenverpackung in Handels- und Produktionsbetrieben (dabei sind im Rahmen von Tischarbeiten Erzeugnisse wie elektronische Artikel, Plastikgeschirr etc nach Kriterien wie Artikelart, Farbe, Bestimmungsort usw zu ordnen, danach in vorbereitete Kartons oder Schachteln einzuschlichten, mit Schutzhüllen zu versehen, bei Bedarf Garantie- und/oder Benützungsanleitungen beizulegen und Verklebe- und Verheftungsarbeiten durchzuführen) sowie einer Wäschewarenlegerin (dabei wird Leichtwäsche zum Zweck der Qualitätskontrolle geöffnet und danach fachgerecht wieder zusammengelegt, eventuell mit Schutzfolien versehen und schließlich in Leichtkartons händisch eingeschlichtet; fallweise werden auch Preisetiketten angebracht) verrichten. Auf dem Arbeitsmarkt sind diese angeführten Verweisungstätigkeiten in ausreichender Anzahl vorhanden.

Mit Bescheid vom 24. 9. 2010 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin auf Weitergewährung der mit 31. 10. 2010 befristeten Invaliditätspension ab.

Das Erstgericht wies das von der Klägerin dagegen erhobene und auf die Gewährung der abgelehnten Leistung über den 31. 10. 2010 hinaus gerichtete Klagebegehren ab. Es beurteilte den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht dahin, dass eine Invalidität der Klägerin iSd § 255 Abs 3 ASVG nicht vorliege, weil sie noch die angeführten Verweisungstätigkeiten verrichten könne. Die Härteklausel des § 255 Abs 3a ASVG komme nicht in Betracht, weil der Klägerin drittelzeitig auch überdurchschnittlicher Zeitdruck zumutbar sei.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin teilweise Folge. Es bestätigte das Ersturteil - unangefochten - im Umfang der Abweisung des Klagebegehrens für den Zeitraum 1. 11. 2010 bis 31. 12. 2010 als Teilurteil, hob es im übrigen Umfang (Leistungszeitraum ab 1. 1. 2011) auf und verwies die Sozialrechtssache insoweit zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück. Den Aufhebungsbeschluss begründete es im Wesentlichen wie folgt:

Hinsichtlich des Leistungszeitraums ab 1. 1. 2011 komme eine Anwendung der Härtefallregelung des § 255 Abs 3a ASVG in Betracht. Das Erstgericht habe dazu zwar zutreffend ausgeführt, dass das festgestellte Leistungskalkül der Klägerin die in § 255 Abs 3b ASVG genannten Anforderungen schon deshalb überschreite, weil die Klägerin in der Lage sei, zumindest drittelzeitig auch mit einem überdurchschnittlichen Zeitdruck zu arbeiten. Allerdings beschreibe die Definition der Tätigkeiten mit dem geringsten Anforderungsprofil in § 255 Abs 3b ASVG nicht das medizinische (Rest-)Leistungskalkül, sondern jene Tätigkeiten unter allen in Frage kommenden Verweisungstätigkeiten, die das leichteste Anforderungsprofil erfüllen. Um den Anspruchsvoraussetzungen der Härtefallregelung zu genügen, dürfe der Pensionswerber daher nur mehr in der Lage sein, die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Tätigkeiten und sonst keine weitere Verweisungstätigkeit auszuüben.

Das Erstgericht habe hinsichtlich der festgestellten Verweisungsberufe kein konkretes Anforderungsprofil festgestellt, sondern durch den Verweis auf das medizinische Leistungskalkül lediglich zu erkennen gegeben, dass diese Mindestvoraussetzungen nicht überschritten werden. Damit bleibe jedoch unklar, ob diese Tätigkeiten den Voraussetzungen des § 255 Abs 3b ASVG entsprechen und ob für die Klägerin auch noch andere Verweisungsberufe in Betracht kommen. Das Verfahren sei daher sekundär mangelhaft geblieben, sodass die Aufhebung des angefochtenen Urteils für den Zeitraum ab 1. 1. 2011 erforderlich sei.

Das Erstgericht werde im fortzusetzenden Verfahren ergänzende Feststellungen über die Anforderungen der bereits festgestellten Verweisungsberufe sowie darüber zu treffen haben, ob und allenfalls welche weiteren Verweisungsberufe für die Klägerin in Betracht kommen. Sollte sich herausstellen, dass nur Verweisungstätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil iSd § 255 Abs 3a ASVG zur Verfügung stehen, werden auch Feststellungen darüber erforderlich sein, ob zu erwarten sei, dass die Klägerin einen Arbeitsplatz in einer ihrer psychischen und physischen Beeinträchtigung entsprechenden Entfernung von ihrem Wohnort innerhalb eines Jahres erlangen könne. Obwohl nach der bisherigen Aktenlage die übrigen Voraussetzungen des § 255 Abs 3a (Z 1 bis 3) ASVG vorzuliegen scheinen, werden dennoch im fortzusetzenden Verfahren, sollten diese Umstände nicht ohnedies unstrittig sein, auch darüber entsprechende Feststellungen nachzuholen sein.

Der Rekurs sei gemäß § 519 Abs 2 ZPO iVm § 502 ZPO zulässig, weil noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu der Härtefallregelung des § 255 Abs 3a und Abs 3b ASVG vorliege.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der Rekurs der beklagten Partei mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung des Berufungsgerichts aufzuheben und das das Klagebegehren zur Gänze abweisende Ersturteil wiederherzustellen.

Die Klägerin hat keine Rekursbeantwortung erstattet.

Der Rekurs ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Die beklagte Partei macht geltend, wenn auch durch die Definition der Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil in § 255 Abs 3b ASVG vorrangig nicht das medizinische Leistungskalkül bzw Restleistungskalkül des Versicherten beschrieben werde, sondern auf Verweisungstätigkeiten abgestellt werde, eröffne diese Definition keinen Raum für eine weitere Bewertung des Wortlauts „... bei durchschnittlichem Zeitdruck …“. Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil seien demnach nicht solche, für deren Erbringung ein - wenn auch nur „zeitweise“ - überdurchschnittlicher Zeitdruck erforderlich sei. Es werde daher eine Reihe von Verweisungsberufen, die mit zumindest zeitweise überdurchschnittlichem Zeitdruck einhergehen, von der Härtefallregelung nicht erfasst. Es entspreche nun der gängigen Gerichtspraxis, das sogenannte Mengenleistungsberufe, wie sie die im gegenständlichen Fall als Verweisungstätigkeiten genannten Tischarbeiten darstellen, mit einer Zeitdruckbelastung verbunden seien, welche sich außerhalb des in § 255 Abs 3b ASVG dargelegten Rahmens bewege. Tischarbeiten stellten daher keine Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil dar, weshalb die Voraussetzungen für die Anwendung der Härtefallregelung des § 255 Abs 3a und Abs 3b ASVG nicht erfüllt seien.

Rechtliche Beurteilung

Der erkennende Senat hat dazu Folgendes erwogen:

1. Nach § 255 Abs 3a ASVG idF BudgetbegleitG 2011 (BGBl I 2010/111) gilt eine versicherte Person auch dann als invalid, wenn sie

1. das 50. Lebensjahr vollendet hat,

2. mindestens zwölf Monate unmittelbar vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2) als arbeitslos iSd § 12 AlVG gemeldet war,

3. mindestens 360 Versicherungsmonate, davon mindestens 240 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit, erworben hat und

4. nur mehr Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet sind, ausüben kann und zu erwarten ist, dass ein Arbeitsplatz in einer der physischen und psychischen Beeinträchtigung entsprechenden Entfernung von ihrem Wohnort innerhalb eines Jahres nicht erlangt werden kann.

1.1 Unter den Tätigkeiten nach § 255 Abs 3a Z 4 ASVG sind nach der Legaldefinition des § 255 Abs 3b ASVG leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen, zu verstehen.

1.2 Die Bestimmung des § 255 Abs 3a iVm Abs 3b ASVG trat gemäß der Schlussbestimmung des § 658 Abs 1 ASVG mit 1. 1. 2011 in Kraft und wird mit Ablauf des 31. 12. 2015 wieder außer Kraft treten (§ 658 Abs 2 ASVG).

1.3 Nach den Gesetzesmaterialien (RV 981 BlgNR 24. GP 205) soll mit dieser neuen Härtefallregelung für stark leistungseingeschränkte ungelernte ArbeitnehmerInnen und für bestimmte selbständig Erwerbstätige (nämlich Bäuerinnen und Bauern), die das 50. Lebensjahr erreicht bzw überschritten, aber das 57. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder die die Voraussetzungen für den besonderen Berufsschutz etwa nach § 255 Abs 4 ASVG nicht erfüllen, ein spezieller Verweisungsschutz die derzeit judizierte weite Verweisung auf den gesamten Arbeitsmarkt zu einer Verweisbarkeit in einem engen Segment einschränken und so diesen Menschen einen Zugang zu einer Invaliditäts- oder Erwerbsunfähigkeitspension bzw zu einer entsprechenden Rehabilitation öffnen. Ziel der vorgeschlagenen Regelung ist es also, jene Berufsverweisungen, die bisher zu Härtefällen geführt haben, zu vermeiden. Unter Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil sind leichte Tätigkeiten vorwiegend in sitzender Haltung und bei durchschnittlichem Zeitdruck zu verstehen, wobei ein Haltungswechsel möglich sein muss. Die neue Härtefallregelung wird in der Praxis für Bäuerinnen und Bauern sowie ungelernte ArbeiterInnen, die ein sehr stark medizinisch eingeschränktes Leistungskalkül haben (dh nur mehr leichte Tätigkeiten im Sitzen oder in einem nicht kontinuierlichen Arbeitsablauf ausüben können), relevant werden und soll auf eine sehr kleine Zahl von Härtefällen beschränkt bleiben.

2. Im Recht der Pensionsversicherung gilt der Grundsatz der „abstrakten Verweisung“, wonach es für die Frage der Invalidität ohne Bedeutung ist, ob der Versicherte im Verweisungsberuf auch tatsächlich einen Dienstposten finden wird (stRsp seit 10 ObS 50/87, SSV-NF 1/23). Ungelernte Arbeiter müssen sich gemäß § 255 Abs 3 ASVG auf alle Tätigkeiten des (allgemeinen) Arbeitsmarkts verweisen lassen, die sie aufgrund ihres Leistungskalküls noch ausüben können. Ungelernten Arbeitern gebührt somit erst dann eine Pension, wenn sie sämtliche der am allgemeinen Arbeitsmarkt angebotenen Tätigkeiten nicht (mehr) ausüben können. Dazu gehören auch leichte Tätigkeiten wie beispielsweise Botengänger, Museumswärter oder Parkgaragenkassier. Insbesondere bei schwereren gesundheitlichen Beeinträchtigungen sinken naturgemäß die Chancen, eine Beschäftigung zu erlangen oder weiterbeschäftigt zu werden. So ist mehr als die Hälfte der Invaliditätspensionswerber am Pensionsstichtag bereits längere Zeit arbeitslos oder im Krankenstand. Bei schweren Erkrankungen ist der Anteil noch höher.

2.1 Die Härtefallregelung des § 255 Abs 3a ASVG sieht nunmehr vor, dass auch Versicherte, die noch in der Lage sind, am allgemeinen Arbeitsmarkt Verweisungstätigkeiten, von diesen jedoch nur mehr die besonders leichten (Tätigkeiten mit dem „geringstem Anforderungsprofil“) zu verrichten, künftig als invalid (erwerbsunfähig) gelten (Ivansits/Weissensteiner, Die Härtefallregelung - Zugangserleichterungen in die Invaliditätspension für Versicherte ab 50, DRdA 2011, 175 ff).

2.2 Die Definition der „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ erfolgt in § 255 Abs 3b ASVG. Danach handelt es sich dabei um leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen. Diese Tätigkeiten wurden somit nach ihrem Schweregrad, dem mit ihnen verbundenen Zeitdruck und der Körperhaltung umschrieben. Es handelt sich dabei nach den bereits zitierten Ausführungen in der Regierungsvorlage (981 BlgNR 24. GP 206) um leichte Tätigkeiten vorwiegend in sitzender Haltung und bei durchschnittlichem Zeitdruck, wobei ein Haltungswechsel möglich sein muss. Ziel der Härtefallregelung ist die Gewährung einer Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit an Personen, die - wie bereits oben ausgeführt - ein sehr stark eingeschränktes medizinisches Leistungskalkül haben. Die Definition in Abs 3b beschreibt allerdings nach zutreffender Rechtsansicht des Berufungsgerichts nicht das medizinische (Rest-)Leistungskalkül von Versicherten, sondern jene Tätigkeiten unter allen in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten, die das leichteste Anforderungsprofil erfüllen. Anders ausgedrückt: Um den Anspruchsvoraussetzungen der Härtefallregelung zu genügen, darf der Pensionswerber nur mehr in der Lage sein, die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Tätigkeiten und sonst keine weiteren Verweisungstätigkeiten auszuüben (Ivansits/Weissensteiner aaO DRdA 2011, 177).

2.3 Eine (Verweisungs-)Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil kann daher nach § 255 Abs 3b ASVG nur dann vorliegen, wenn sie leicht ist, bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden kann und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglicht. Die Formulierung „und/oder“ deutet auf das Vorliegen kumulativer, aber auch alternativer Anspruchsvoraussetzungen hin. Eine (Verweisungs-)Tätigkeit mit dem geringsten Anforderungsprofil ist demnach eine leichte körperliche Tätigkeit, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt wird und (kumulativ) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglicht (erste Fallgruppe). Das Wort „oder“ für die zweite Fallgruppe ist nicht als Alternative zu leichten Tätigkeiten oder zu Tätigkeiten unter durchschnittlichem Zeitdruck, sondern als Alternative zu vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübten Tätigkeiten zu verstehen. Es könnte daher die Härtefallregelung dahin verstanden werden, dass die zweite Fallgruppe der Tätigkeiten mit dem geringsten Anforderungsprofil eine leichte körperliche Tätigkeit, die bei durchschnittlichem Zeitdruck ausgeübt wird und mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglicht, umfasst. Bei einer solchen Auslegung würde es sich aber bei den beiden Fallgruppen im Ergebnis um keinen alternativen Kreis von Anspruchsberechtigten handeln, da der Kreis der Anspruchsberechtigten nach der ersten Fallgruppe jedenfalls von der zweiten Fallgruppe umfasst wäre. Im Übrigen würde bei einer solchen Auslegung eine grundsätzlich im Gehen ausgeübte Tätigkeit, die von einer - mitunter auch nur mehrmals täglich einzunehmenden - stehenden Tätigkeit abgelöst wird, als Tätigkeit mit dem geringsten Anforderungsprofil anzusehen und damit bereits der Härtefallregelung zu unterstellen sein. Eine solche Tätigkeit stellt jedoch nach Ansicht des erkennenden Senats keine Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil dar und es findet die gegenteilige Ansicht auch in den zitierten Gesetzesmaterialien keine Deckung.

2.4 Ivansits/Weissensteiner aaO DRdA 2011, 177 f vertreten in diesem Zusammenhang die Auffassung, dass folgende zwei Gruppen von „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ zu unterscheiden seien:

- leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und (= während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen (zB die Tätigkeit eines Parkgaragenkassiers),

- leichte (körperliche) Tätigkeiten, die vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden oder (= nicht während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals einen Haltungswechsel ermöglichen (zB die Tätigkeit einer Näherin).

Die Alternative bei dieser Auslegungsvariante stellt somit darauf ab, ob der mehrmalige tägliche Haltungswechsel während der Ausübung der Tätigkeit möglich ist oder nicht. Für diese Auslegung findet sich im Gesetzeswortlaut des § 255 Abs 3b ASVG durch die Bezugnahme auf die „ausgeübte Tätigkeit“ eine gewisse Stütze. Für diese Auslegung spricht aber auch der weitere Umstand, dass in den Gesetzesmaterialien in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf einen „nicht kontinuierlichen Arbeitsablauf“ Bezug genommen wird. Der erkennende Senat folgt daher auch in der Frage der Auslegung des Begriffs „Tätigkeiten mit dem geringsten Anforderungsprofil“ der Ansicht von Ivansits/Weissensteiner aaO, wonach es sich dabei einerseits um leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und (= während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen (erste Fallgruppe) und andererseits um leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden oder (= nicht während der Ausübung der Tätigkeit) mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen, handelt. Mit dieser Auslegung wird nach Ansicht des erkennenden Senats im Hinblick auf die vorliegende unklare Gesetzeslage der ausdrücklich erklärten Absicht des Gesetzgebers, die Härtefallregelung nur für eine sehr kleine Zahl sehr stark leistungseingeschränkter Versicherter schaffen zu wollen, sowie dem Zweck der Regelung (als „Härtefallregelung“) am ehesten Rechnung getragen.

3. Aus den dargelegten Ausführungen ergibt sich die Richtigkeit der dem Aufhebungsbeschluss zugrunde liegenden Rechtsansicht des Berufungsgerichts, wonach für eine Anwendung der Härtefallregelung iSd § 255 Abs 3a Z 4 ASVG zu prüfen ist, ob die Klägerin nur mehr in der Lage ist, die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil und sonst keine weitere Verweisungstätigkeit auszuüben. Zur Klärung dieser Frage sind nach zutreffender Rechtsansicht des Berufungsgerichts ergänzende Feststellungen über die Anforderungen in den beiden bereits festgestellten Verweisungsberufen (Hilfsarbeiterin in der Leichtwarenverpackung und Wäschewarenlegerin) erforderlich. Dabei wird auch auf das Vorbringen der beklagten Partei in ihrem Rekurs, wonach diese beiden Verweisungsberufe als Tischarbeiten mit einer Zeitdruckbelastung verbunden seien, welche sich außerhalb des in § 255 Abs 3b ASVG dargelegten Anforderungsprofils bewege, Bedacht zu nehmen sein. Tätigkeiten, für deren Erbringung ein - wenn auch nur „zeitweise“ - überdurchschnittlicher Zeitdruck erforderlich ist, könnten nämlich nach zutreffender Rechtsansicht der beklagten Partei nicht mehr als Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil iSd § 255 Abs 3a und Abs 3b ASVG qualifiziert werden.

3.1 Sollten die beiden bisher genannten Verweisungstätigkeiten hingegen als Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil im Sinne der oben dargelegten Ausführungen zu qualifizieren sein, wird zu prüfen sein, ob und allenfalls welche weiteren Verweisungstätigkeiten für die Klägerin in Betracht kommen. Sollte sich herausstellen, dass für die Klägerin nur mehr Verweisungstätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil in Betracht kommen, werden nach den zutreffenden Ausführungen des Berufungsgerichts auch Feststellungen darüber erforderlich sein, ob zu erwarten ist, dass die Klägerin einen Arbeitsplatz in einer ihrer physischen und psychischen Beeinträchtigung entsprechenden Entfernung von ihrem Wohnort innerhalb eines Jahres erlangen kann. Sollte das Vorliegen der weiteren Anspruchsvoraussetzungen nach § 255 Abs 3a Z 2 und 3 ASVG strittig sein, werden gegebenenfalls auch darüber entsprechende Feststellungen zu treffen sein.

Der Aufhebungs- und Zurückverweisungsbeschluss des Berufungsgerichts erweist sich somit insgesamt als gerechtfertigt, weshalb dem Rekurs ein Erfolg versagt werden musste.

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