OGH 5Nc22/11x

OGH5Nc22/11x7.11.2011

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Danzl als Vorsitzenden und die Hofrätin Dr. Hurch sowie den Hofrat Mag. Wurzer als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen 1.) E*****, geboren am *****, 2.) S*****, geboren am *****, und 3.) S*****, geboren am *****, AZ 4 P 235/11x des Bezirksgerichts Innsbruck, infolge Vorlage zur Genehmigung der Übertragung gemäß § 111 JN an das Bezirksgericht Wiener Neustadt den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die mit Beschluss des Bezirksgerichts Innsbruck vom 19. Juli 2011, GZ 4 P 235/11x-9, gemäß § 111 Abs 1 JN verfügte Übertragung der Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Wiener Neustadt wird genehmigt.

Text

Begründung

Zwischen den Eltern der Minderjährigen ist zu 1 C 29/11f des Bezirksgerichts Telfs ein Scheidungsverfahren anhängig.

Bereits im April 2011 zog die Mutter mit den drei Kindern wegen häuslicher Gewalt zunächst in das Tiroler Frauenhaus. In der Folge stellte sie beim Bezirksgericht Innsbruck den Antrag, ihr die (einstweilige) alleinige Obsorge über die Minderjährigen zu übertragen.

Der Vater sprach sich gegen den Antrag der Mutter aus und beantragte beim Bezirksgericht Innsbruck, ihm ein Besuchsrecht zu den Minderjährigen einzuräumen.

Das Bezirksgericht Innsbruck veranlasste zu diesen Anträgen Erhebungen durch den für Innsbruck zuständigen Jugendwohlfahrtsträger. Aus der Stellungnahme des Jugendwohlfahrtsträgers ergaben sich Anhaltspunkte dafür, dass die Mutter ihren Aufenthaltsort mit den Minderjährigen von Innsbruck in den „Wiener Raum“ verlegte. Weiteren Erhebungen des Bezirksgerichts Innsbruck zufolge wohnt die Mutter mit den Minderjährigen nunmehr im Sprengel des Bezirksgerichts Wiener Neustadt, wo sie auch zu bleiben beabsichtigt.

Das Bezirksgericht Innsbruck übertrug mit seinem (rechtskräftigen) Beschluss vom 19. 7. 2011 die Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Wiener Neustadt. Das Bezirksgericht Wiener Neustadt verweigerte die Übernahme der Zuständigkeit (ON 11).

Das übertragende Gericht legte aufgrund dieser Weigerung den Akt dem Obersten Gerichtshof als gemeinsam übergeordnetem Gericht zur Entscheidung gemäß § 111 Abs 2 JN vor.

Rechtliche Beurteilung

Die Übertragung ist berechtigt.

Gemäß § 111 Abs 1 JN kann das Pflegschaftsgericht seine Zuständigkeit einem anderen Gericht übertragen, wenn dies im Interesse des Minderjährigen gelegen erscheint, insbesondere wenn dadurch die wirksame Handhabung des pflegschaftsgerichtlichen Schutzes voraussichtlich gefördert wird. Nach Abs 2 dieser Bestimmung ist die Übertragung nur dann wirksam, wenn das andere Gericht die Zuständigkeit übernimmt oder im Falle der Weigerung des anderen Gerichts eine Genehmigung durch das den beiden Gerichten zunächst übergeordnete gemeinsame höhere Gericht - hier der Oberste Gerichtshof - erfolgt.

Ausschlaggebendes Kriterium für die Übertragung der Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache für Minderjährige ist immer das Kindeswohl (RIS-Justiz RS0047074). Nach ständiger Rechtsprechung wird der pflegschaftsgerichtliche Schutz in der Regel am besten durch das Gericht gewährleistet, in dessen Sprengel sich das Kind aufhält (RIS-Justiz RS0047300). Offene Anträge sprechen im Allgemeinen nicht gegen eine Zuständigkeitsübertragung, sofern nicht dem übertragenden Gericht für die ausstehende Entscheidung besondere Sachkenntnis zukommt (RIS-Justiz RS0047032).

Die Rechtsprechung steht zwar einer Zuständigkeitsübertragung im Allgemeinen ablehnend gegenüber, wenn ein Obsorgeantrag unerledigt ist, sofern das Gericht bereits über entsprechende Sachkenntnisse verfügt oder jedenfalls in der Lage ist, sich diese Kenntnisse leichter zu verschaffen als das andere Gericht. Das gilt jedoch dann nicht, wenn noch Erhebungen zur Mutter und deren Lebensverhältnissen am neuen Wohnsitz offen sind (RIS-Justiz RS0047027 [T3, T4]).

Die Prüfung der Zweckmäßigkeit der Zuständigkeitsübertragung während eines aufrechten Obsorgestreits hat sich ganz allgemein daran zu orientieren, welches Gericht die für die Entscheidung maßgeblichen Umstände sachgerechter und umfassender beurteilen kann. Sind - wie hier - die aktuelle Lebenssituation der Mutter und ihre derzeitigen Zukunftspläne unbekannt, können diese für die Obsorgeentscheidung besonders bedeutsamen Umstände effizienterweise nur vom nunmehrigen Wohnsitzgericht der Mutter und der Kinder erhoben werden (6 Nd 508/00; 5 Nc 103/02w). Ob und wie lange sich das bisher zuständige Gericht um die Ermittlung von Sachverhaltsgrundlagen - im vorliegenden Fall erschöpften sich diese in der Einholung einer Stellungnahme des zunächst zuständigen Jugendwohlfahrtsträgers - bemüht hat, ist hingegen nicht entscheidend (vgl RIS-Justiz RS0047027 [T7]).

Der Lebensmittelpunkt der Mutter sowie der drei Minderjährigen liegt nunmehr im Sprengel des Bezirksgerichts Wiener Neustadt. Diesem Gericht ist die Erhebung der für die Obsorgeentscheidung maßgeblichen derzeitigen Lebensverhältnisse im Allgemeinen leichter möglich, sodass die Übertragung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht des Aufenthaltsorts der Kinder ungeachtet der offenen Anträge zu genehmigen ist.

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