OGH 7Ob82/11a

OGH7Ob82/11a18.5.2011

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schaumüller, Dr. Hoch, Dr. Kalivoda und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei J***** G*****, vertreten durch Vogl Rechtsanwalt GmbH in Feldkirch, gegen die beklagte Partei U***** AG, *****, vertreten durch Pressl Endl Heinrich Bamberger Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, wegen 7.551,80 EUR (sA), über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 17. Februar 2011, GZ 4 R 449/10y‑71, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Silz vom 10. September 2010, GZ 3 C 549/07z‑67, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Urteil des Berufungsgerichts wird dahin abgeändert, dass das Ersturteil wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 3.063,52 EUR (darin enthalten 304,92 EUR USt und 1.234 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 24. 12. 2005 rutschte die Klägerin auf einer Eisplatte aus und stürzte auf ihre rechte Schulter. Dabei erlitt sie einen Bruch des rechten Oberarms. Sie war damals im Frühstückshotel ihres Ehemanns angestellt. Ihr Aufgabenbereich umfasste das Aufdecken, Abräumen und Verabreichen des Frühstücks, das Säubern des Frühstücksraums, die Mithilfe beim Aufräumen der Zimmer, Waschen und Bügeln der Zimmer‑ und Tischwäsche und das Kochen für die Angestellten sowie sämtliche Büroarbeiten, die 10 % der Gesamttätigkeit ausmachten. Die Klägerin war vom 25. 12. 2005 bis 7. 4. 2006 und nach der Entfernung von im verletzten Arm operativ eingesetzten Metallteilen ab 19. 7. 2006 weitere 14 Tage lang unfallskausal zu 100 % arbeitsunfähig. Zwischen 7. 4. 2006 und 19. 7. 2006 konnte sie lediglich Büroarbeiten, die eine mittellagige Schulterbewegung erforderten, wie Schreibarbeiten, die Betätigung des Computers und das Telefonieren im Wesentlichen schmerzfrei verrichten. Sie konnte mit leichten Lasten bis 5 kg manipulieren. Überkopftätigkeiten, wie das Herabholen eines schweren Ordners, waren ihr mit der rechten Hand nicht möglich.

Bei der Klägerin verblieb unfallskausal eine Armwertminderung von 7,5 %.

Die Klägerin war zum Unfallszeitpunkt bei der Beklagten unfallversichert. Dem Versicherungsvertrag lagen die „Klipp‑ & Klar-Bedingungen für die Unfallversicherung ‑ Fassung 02/2001 U 800“ (im Folgenden UVB) zugrunde, deren Art 9 lautet:

„Taggeld bezahlen wir bei dauernder oder vorübergehender Invalidität. Die Leistung erfolgt für die Dauer der vollständigen Arbeitsunfähigkeit im Beruf oder in der Beschäftigung des Versicherten für längstens 365 Tage innerhalb von 2 Jahren ab dem Unfalltag.“

Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits sind allein die der Klägerin gebührenden Taggelder. Die Beklagte ist der Ansicht, der Klägerin stehe nur für die Zeit ihrer 100%igen Arbeitsunfähigkeit Taggeld von (unstrittig) 61,90 EUR pro Tag zu. Sie zahlte der Klägerin daher für 118 Tage insgesamt 7.304,20 EUR und vertritt den Standpunkt, damit sei der Anspruch auf Taggeld abgegolten. Die Klägerin begehrt hingegen auch für die Zeiträume vom 7. 4. 2006 bis einschließlich 19. 7. 2006 und vom 3. 8. 2006 bis einschließlich 20. 8. 2006 (insgesamt für 122 Tage) weiteres Taggeld von 7.551,80 EUR. Die Aufnahme einer Arbeitstätigkeit sei ihr auch in diesen Zeiträumen nicht zumutbar und unmöglich gewesen.

Das Erstgericht schloss sich der Ansicht der Beklagten an und wies das Klagebegehren ab.

Das von der Klägerin angerufene Berufungsgericht änderte das Urteil im Sinn einer Klagsstattgebung ab. Entscheidend sei, was unter dem Begriff der vollständigen Arbeitsunfähigkeit nach Art 9 der UVB zu verstehen sei. Zu dessen Auslegung könne entgegen der Ansicht der Parteien nicht auf die zur Betriebsunterbrechungsversicherung ergangene Judikatur zurückgegriffen werden, da diese freiberuflich Tätige betroffen habe. Bei unselbständig Beschäftigten ‑ wie die Klägerin ‑ könne auf Grund der Nähe des Regelungszwecks § 120 Abs 1 Z 2 ASVG (Versicherungsfall der Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit) herangezogen werden. Danach liege Arbeitsunfähigkeit vor, wenn der Erkrankte nicht oder doch nur mit der Gefahr, seinen Zustand zu verschlimmern, fähig sei, seiner bisher ausgeübten Erwerbstätigkeit nachzugehen. Das sozialversicherungsrechtliche Krankengeld habe zwar eine Lohnersatzfunktion und solle den Unterhalt des Versicherten während der Zeit der Arbeitsunfähigkeit sicherstellen, während das Taggeld eine Leistung betreffe, die unabhängig vom Nachweis eines konkreten Vermögensnachteils in voller Höhe gebühre. Da Arbeitsunfähigkeit eines unselbständig Beschäftigten aber nur vorliege, wenn der Erkrankte nicht oder doch nur mit der Gefahr, seinen Zustand zu verschlimmern, fähig sei, seiner bisher ausgeübten Erwerbstätigkeit nachzugehen, sei der Zusatz „vollständige“ Arbeitsunfähigkeit in Art 9 UVB missverständlich und entbehrlich. Diese Definition der Arbeitsunfähigkeit lasse nämlich nur den Fall der Arbeitsfähigkeit oder den der Arbeitsunfähigkeit zu und gebe keinen Spielraum für dazwischen liegende Abstufungen. Auch sei ein Arbeitgeber nicht gehalten, die Arbeitsleistung von nur teilweise arbeitsfähigen Beschäftigten, die die dienstvertraglich geschuldeten Verpflichtungen auf Grund ihrer Erkrankung nicht (vollständig) erbringen könnten, anzunehmen und dafür Lohn zu zahlen, obwohl den Beschäftigten in dieser Zeit entsprechende Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung zustünden. Werde die Auslegung der Begriffsfolge „vollständige Arbeitsunfähigkeit“ in diesem Sinn vorgenommen, liege bei der Klägerin auch für den strittig verbliebenen Zeitraum eine (vollständige) Arbeitsunfähigkeit vor, weil sie nur einen geringfügigen Teil (Bürotätigkeiten) ihrer arbeitsrechtlich geschuldeten Leistungen (und auch diese wiederum nur eingeschränkt) erbringen habe können. Die Entscheidung des Erstgerichts sei daher im Sinn einer gänzlichen Klagsstattgebung abzuändern.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil zur Frage der Auslegung der Wortfolge „vollständige Arbeitsunfähigkeit“ in den UVB keine oberstgerichtliche Rechtsprechung vorliege.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten, die unrichtige rechtliche Beurteilung geltend macht und beantragt, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass das Klagebegehren abgewiesen (und damit das Ersturteil wiederhergestellt) werde. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin beantragt in der Revisionsbeantwortung, das Rechtsmittel ihrer Prozessgegnerin zurückzuweisen oder ihm keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; sie ist auch berechtigt.

Nach ständiger Rechtsprechung sind Allgemeine Versicherungsbedingungen nach Vertragsauslegungsgrund-sätzen (§§ 914 f ABGB) auszulegen. Die Auslegung hat sich am Maßstab eines durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers zu orientieren (RIS‑Justiz RS0050063). Die einzelnen Klauseln sind, wenn sie ‑ wie hier ‑ nicht auch Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf ihrem Wortlaut auszulegen (RIS‑Justiz RS0008901). Stets ist der einem objektiven Beobachter erkennbare Zweck einer Bestimmung der Versicherungsbedingungen zu berücksichtigen (RIS-Justiz RS0112256). Nach objektiven Gesichtspunkten als unklar aufzufassende Klauseln müssen daher so ausgelegt werden, wie sie ein durchschnittlich versierter Versicherungsnehmer verstehen musste, wobei Unklarheiten im Sinn des § 915 ABGB zu Lasten des Verwenders der Bedingungen, regelmäßig also des Versicherers, gehen (RIS‑Justiz RS0050063 [T3]).

Ausgehend von diesen im Wesentlichen auch schon vom Berufungsgericht wiedergegebenen Grundsätzen ist dessen Ansicht, die Auslegung der vorliegenden Klausel habe sich an § 120 Abs 1 Z 2 ASGG zu orientieren, nicht zu teilen. Wie der Oberste Gerichtshof zu wortgleichen Taggeldklauseln (Art 8 III AUVB 1979, Art 9 USVB 1999, Art 6.3 AUVB 1994) bereits wiederholt ausführte, hat Taggeld, auch wenn seine Funktion darin zu erblicken ist, unfallsbedingte Einkommensverluste abzudecken (7 Ob 2393/96d, VR 1998, 173 = ecolex 1999, 456 [Ertl] und 7 Ob 316/04b, SZ 2005/27 = VersR 2006, 1711 = VR 2006/727, jeweils mwN; Mangen in Beckmann/Matusche‑Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch § 47 Rn 204), keinen Unterhaltscharakter (RIS‑Justiz RS0107257; 7 Ob 316/04b; 7 Ob 19/11m). Es kommt beim Anspruch auf Taggeld nicht darauf an, ob und wie sich das Einkommen des Versicherten unfallskausal tatsächlich verringert hat. Taggeld wird auch gewährt, wenn die Behinderung der Arbeitsfähigkeit keinerlei Vermögensnachteil brachte (7 Ob 2393/96d). Beim Anspruch auf Taggeld handelt es sich also um eine Summenversicherung (vgl RIS‑Justiz RS0081358), da die Leistung unabhängig vom Nachweis eines konkreten Vermögensnachteils in voller Höhe gebührt (7 Ob 2393/96d; 7 Ob 316/04b; 7 Ob 19/11m; vgl BGH VersR 1974, 184; Schauer, Versicherungsvertragsrecht3 505; Grimm, Unfallversicherung4 2 Rn 52; Mangen aaO). Deshalb ist entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts der Begriff der Arbeitsunfähigkeit nicht der Definition nach dem ASVG entsprechend dahin zu interpretieren, dass eine „abgestufte“ Arbeitsunfähigkeit im Sinne einer - in der gesetzlichen Unfallversicherung vorgesehenen - prozentuellen Aufsplitterung zu verneinen sei (vgl Schober in Sonntag, ASVG2 § 138 Rz 7); unabhängig von ihrem Ausmaß hätte dann jede unfallsbedingte, die Erwerbstätigkeit im Sinn der sozialversicherungsrechtlichen Regelung verhindernde Beeinträchtigung des invaliden Versicherten den vollen Anspruch auf Taggeld zur Folge. Eine Risikobegrenzung dahin, dass nur vollständige, also jede Beschäftigung im Rahmen der bisherigen Erwerbstätigkeit verhindernde Arbeitsunfähigkeit den an keinen Vermögensnachteil gebundenen, vollen Anspruch auf Taggeld auslösen soll, ist daher naheliegend. Ein anderer Weg der Risikoeinschränkung wurde in Deutschland gewählt. Dort sehen die AUB 2008 Nr 2.3 eine Abstufung des Taggeldes nach dem Grad der unfallsbedingten Beeinträchtigung der Berufstätigkeit oder Beschäftigung des Versicherten ausdrücklich vor. Knappmann weist in Prölss/Martin 28 AUB 2008 Nr 2 Rn 49 darauf hin, dass damit eine Diskrepanz zur gesetzlichen Krankenversicherung bestehe, die eine graduelle Arbeitsunfähigkeit nicht kenne.

Die nach Ansicht des Berufungsgerichts vorzunehmende „teleologische Reduktion“ des Art 9 UVB durch Streichung des Wortes „vollständigen“ ist daher abzulehnen. Nach dem klaren Wortlaut dieser Bestimmung setzt der Anspruch auf Taggeld neben einer dauernden oder vorübergehenden Invalidität die vollständige Unfähigkeit des Versicherten voraus, seine Berufstätigkeit oder Beschäftigung auszuüben. Nicht anders wird ein durchschnittlich versierter Versicherungsnehmer diese Bestimmung verstehen.

Darauf, ob die Klägerin in den fraglichen Zeiträumen in dem ihr möglichen, sehr eingeschränkten Umfang gearbeitet hat oder ob, wie sie behauptet, im Hinblick auf ihre eingeschränkte Einsatzfähigkeit eine als unzumutbar angesehene Arbeitstätigkeit ganz unterblieb oder etwa auch von ihrem Arbeitgeber (und Ehemann) abgelehnt wurde, kommt es nicht an. Entscheidend ist vielmehr nur, ob die Klägerin vollständig unfähig war, Tätigkeiten ihres beruflichen Aufgabenbereichs zu verrichten. Diese Voraussetzung ist nach den erstgerichtlichen Feststellungen nicht erfüllt, da die Klägerin in den fraglichen Zeiträumen in der Lage war, Bürotätigkeiten und die Manipulation mit leichten Lasten und damit einen Teil ihrer beruflichen Gesamttätigkeit durchzuführen.Demnach hat das Erstgericht das Begehren auf Zahlung von (weiterem) Taggeld zu Recht abgewiesen. Der Revision ist daher stattzugeben und das erstinstanzliche Urteil wiederherzustellen.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungs‑ und des Revisionsverfahrens gründet sich auf die §§ 50 Abs 1 und 41 ZPO.

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