OGH 7Ob220/10v

OGH7Ob220/10v24.11.2010

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schaumüller, Dr. Hoch, Dr. Kalivoda und Dr. Roch als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei K***** K*****, vertreten durch Dr. Horst Mayr, Rechtsanwalt in Vorchdorf, gegen die beklagte Partei R***** AG, *****, vertreten durch Pressl Endl Heinrich Bamberger Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, wegen 8.177,44 EUR (sA), über die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesgerichts Wels als Berufungsgericht vom 11. August 2010, GZ 22 R 204/10x-33, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Gmunden vom 19. April 2010, GZ 3 C 220/09b-28, infolge Berufung der Beklagten abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Der Kläger ist schuldig, der Beklagten die mit 744,43 EUR (darin enthalten 124,07 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung

Der Kläger zog sich am 26. 5. 2006 bei einem Sprung von einem LKW einen Kreuzbandriss und einen Innenmeniskusriss im rechten Knie zu. Er war zum Unfallszeitpunkt bei der Beklagten unfallversichert. Die Versicherungssumme für dauernde Invalidität betrug 146.000 EUR. Dem Versicherungsvertrag lagen die Allgemeinen Bedingungen für die Unfallversicherung (AUVB 2003) zugrunde. Da sich die Parteien über die Höhe der aus den Unfallsfolgen resultierenden Invalidität nicht einigen konnten, wurde - wie in den AUVB 2003 für einen solchen Fall vorgesehen - ein Ärztekommissionsverfahren durchgeführt. Die Ärztekommission kam mehrheitlich zur Feststellung, dass die Invalidität 5 % (des vollen Beinwerts von 70 %) betrage. Das vom Kläger nominierte Kommissionsmitglied schätzte die Invalidität hingegen mit 10 % ein. Entsprechend der Bewertung der Ärztekommission leistete die Beklagte dem Kläger eine Zahlung von 5.110 EUR.

Mit der Behauptung, die betreffende Feststellung der Ärztekommission sei nicht verbindlich, weil sie erheblich von der wirklichen Sachlage abweiche, begehrte der Kläger im vorliegenden Verfahren unter Zugrundelegung einer unfallskausalen Invalidität von 10 % zuletzt (nach Klagsausdehnung um eine Kostenersatzforderung) weitere 8.177,44 EUR.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Es stellte, dem Gutachten des von ihm beigezogenen ärztlichen Sachverständigen folgend, die Invalidität des Klägers mit 10 % fest.

Das Berufungsgericht änderte die erstinstanzliche Entscheidung in klagsabweisendem Sinn ab. Eine Feststellung des Invaliditätsgrads durch das Gericht setze voraus, dass die betreffende Feststellung der Ärztekommission erheblich von der wirklichen Sachlage abgewichen sei. Ein solches erhebliches Abweichen des Ergebnisses der Ärztekommission liege hier bei einer Differenz von 5 % (des Beinwerts von 70 %) aber nicht vor.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil es eine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage, wann eine Abweichung von der wirklichen Sachlage im Sinn des § 184 Abs 1 VersVG im Zusammenhang mit Invaliditätseinschätzungen erheblich sei, nicht auffinden habe können. Auch wenn diese Frage letztlich von den Umständen des Einzelfalls abhängig sei, sei es im Sinn der Rechtssicherheit und Einheitlichkeit der Rechtsprechung doch erforderlich, dass die Grenzen des Rechtsbegriffs „erheblich“ vom Höchstgericht abgesteckt würden.

Rechtliche Beurteilung

Entgegen diesem den Obersten Gerichtshof gemäß § 508a Abs 1 ZPO nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts ist die vom Kläger gegen das Urteil der zweiten Instanz erhobene Revision mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig:

Die in den AUVB 2003 zugunsten beider Parteien zum Zweck der Herbeiführung einer raschen und kostengünstigen Entscheidung über die Höhe des Invaliditätsgrads fakultativ vorgesehene Einrichtung einer Ärztekommission (RIS-Justiz RS0116382) stellt einen Schiedsgutachtervertrag im Sinn des § 184 Abs 1 VersVG (vgl auch § 64 Abs 1 VersVG) dar (RIS-Justiz RS0081371). § 184 Abs 1 VersVG bestimmt, dass eine von der Ärztekommission getroffene Feststellung (nur dann) nicht verbindlich ist, wenn sie offenbar von der wirklichen Sachlage erheblich abweicht. (Nur) In diesem Fall hat die Feststellung durch gerichtliches Urteil zu erfolgen, während die Einrichtung einer Ärztekommission ansonsten im Sinn der angestrebten Kosten- und Zeitersparnis eine Gerichtsentscheidung erübrigen soll (vgl 7 Ob 184/06v ua). „Offenbar“ im Sinn der zitierten Bestimmung weicht eine Sachverständigenfeststellung nach ständiger Rechtsprechung von der Wirklichkeit nur dann ab, wenn sich ihre Unrichtigkeit dem Sachkundigen aufdrängt. Es muss zwar der Fehler nicht schnell erkennbar sein, aber offen zutage treten, sodass er sich bei einer durch Sachkundige vorgenommenen Prüfung mit Deutlichkeit ergibt (7 Ob 79/03y, VersE 2010; vgl [zu dem im Wesentlichen wortgleichen § 64 Abs 1 VersVG] 7 Ob 46/81, SZ 54/167 = VersR 1984, 696 ua; RIS-Justiz RS0080431). Von einem solchen Fehler der Ärztekommission kann im vorliegenden Fall keine Rede sein:

Die von den einzelnen Mitgliedern der Kommission und von dem vom Gericht beigezogenen Sachverständigen jeweils nach persönlichen Untersuchungen des Klägers getroffenen Feststellungen über die unfallskausalen Verletzungsfolgen weichen nur um Nuancen voneinander ab und stellen keinen Streitpunkt dar. Strittig ist allein die Festlegung der Gesamtinvalidität, die vom Erstgericht mit 10 %, von der Ärztekommission hingegen mit 5 % (des Beinwerts von 70 %) angenommen wurde. Entgegen der Ansicht des Revisionswerbers kann darin ein „offenbarer“ Fehler der Ärztekommission im aufgezeigten Sinn nicht gesehen werden. Richtig hat schon das Berufungsgericht darauf hingewiesen, dass der Grad der Invalidität üblicherweise in 5 %-Schritten angegeben wird, sodass eine Differenz von 5 % die geringstmögliche Abweichung von der wahren Sachlage darstellt. In der Entscheidung 7 Ob 79/03y, in der - wie hier - allein die Höhe der aus den Unfallsfolgen resultierenden Invalidität strittig war, wurde ein offenbar von der wirklichen Sachlage abweichendes Ergebnis bei einer (möglichen) Abweichung von 10 % verneint; der Versicherungsnehmer meinte dort, 25 % sei richtig, während die Ärztekommission seine Invalidität mit 15 % eingeschätzt hatte.

Die Frage, ob von der Ärztekommission getroffene Feststellungen über das Maß der durch den Unfall herbeigeführten Einbuße an der Erwerbsfähigkeit (Invalidität) unverbindlich sind, weil sie offenbar von der wirklichen Sachlage erheblich abweichen, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Diese Einzelfallbezogenheit erlaubt keine Festlegung auf einen Prozentsatz, bei dessen Überschreitung eine offenbare erhebliche Abweichung regelmäßig anzunehmen wäre. Diese Frage ist daher nur dann revisibel, wenn dem Berufungsgericht - anders als hier - eine Fehlbeurteilung unterlaufen ist, die aus Gründen der Rechtssicherheit einer Korrektur durch den Obersten Gerichtshof bedarf.

Die demnach mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage nach § 502 Abs 1 ZPO unzulässige Revision muss zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41 und 50 ZPO. Die Beklagte hat auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels ihres Prozessgegners hingewiesen, der ihr daher die Kosten der Revisionsbeantwortung zu ersetzen hat.

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