OGH 11Os141/10k

OGH11Os141/10k16.11.2010

Der Oberste Gerichtshof hat am 16. November 2010 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher, Dr. Schwab, Mag. Lendl und Dr. Bachner-Foregger als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Fries als Schriftführer, in der Strafsache gegen DI Friedrich B***** und andere Angeklagte wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3, 148 zweiter Fall StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 35 Hv 117/07s des Landesgerichts St. Pölten, über den Antrag des Angeklagten Manfred R***** auf Erneuerung des Strafverfahrens nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Text

Gründe:

In der Strafsache gegen DI Friedrich B***** und andere Angeklagte wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3, 148 zweiter Fall StGB und des Vergehens des Kartellmissbrauchs nach § 129 Abs 1 KartellG (Art V Abs 6 BGBl I 62/2002), AZ 35 Hv 117/07s des Landesgerichts St. Pölten, wurde mit Beschluss des Vorsitzenden des Schöffengerichts vom 15. April 2009 (ON 260) DDr. Gerhard A***** „unter Enthebung des Sachverständigen Dr. Matthias K*****“ mit dem Auftrag zum Sachverständigen bestellt, Befund und Gutachten (zur Höhe des hypothetischen Wettbewerbspreises hinsichtlich der in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft St. Pölten vom 4. Juli 2007, ON 200 der Hv-Akten, zu Punkt A./ inkriminierten Ausschreibungsvorgänge) zu erstatten.

In der nach Vorliegen des schriftlichen Gutachtens des zuletzt bestellten Sachverständigen (ON 277) gemäß § 276a zweiter Satz StPO wiederholten Hauptverhandlung vom 17. Juni 2010 - zu welcher der Sachverständige DDr. A***** krankheitshalber entschuldigt nicht erschienen war - beantragte der Staatsanwalt „die Beiziehung eines weiteren Sachverständigen gemäß § 127 Abs 3 StPO im Hinblick darauf, dass zwei absolut widersprüchliche Gutachten vorliegen“ (ON 295 S 6). Sämtliche Verteidiger stellten hierauf den Antrag auf „eine sofortige Entscheidung darüber, dass das Gutachten des DDr. A***** erörtert wird, bevor über einen Antrag der Staatsanwaltschaft entschieden wird“ (ON 295 S 8). Das Schöffengericht fasste den Beschluss auf „Vertagung der Hauptverhandlung auf unbestimmte Zeit zur Einholung eines Gutachtens gemäß § 127 Abs 3 StPO und Ladung eines neuen Sachverständigen, der sich mit den widersprüchlichen Methoden und Schlussfolgerungen der Gutachten von DDr. A***** und Dr. K***** auseinandersetzt“ (ON 295 S 8 f).

Rechtliche Beurteilung

Gegen diesen Beschluss des Schöffengerichts richtet sich, gestützt auf die Behauptung einer Verletzung im Grundrecht auf ein faires Verfahren nach Art 6 Abs 1 sowie Art 6 Abs 3 lit d MRK, der Antrag des Angeklagten Manfred R***** auf Erneuerung des Strafverfahrens nach § 363a StPO per analogiam (RIS-Justiz RS0122228).

Der Erneuerungswerber sieht eine Verletzung des in Art 6 Abs 1 MRK statuierten Fairnessgebots durch eine unangemessen lange Verfahrensdauer in der Vertagung der Hauptverhandlung auf unbestimmte Zeit zur Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens anstelle der (und ohne die) sofortige(n) Vernehmung des Sachverständigen DDr. A***** zu seinem schriftlichen Gutachten. Dadurch sei er zugleich in dem durch Art 6 Abs 3 lit d MRK garantierten Grundrecht des Angeklagten, Fragen an den Sachverständigen (vgl dazu Grabenwarter, EMRK4 § 24 Rz 113) zu stellen, verletzt.

Für einen - wie hier - nicht auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gestützten Erneuerungsantrag, bei dem es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf handelt, gelten alle gegenüber dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 Abs 1 bis Abs 3 MRK sinngemäß. Damit ist ua die Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs (Art 35 Abs 1 MRK) ein Zulässigkeitskriterium. Diesem Erfordernis wird dann entsprochen, wenn von allen effektiven Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht wurde (vertikale Erschöpfung) und die geltend gemachte Konventionsverletzung zumindest der Sache nach und in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften im Instanzenzug vorgebracht wurde (horizontale Erschöpfung; RIS-Justiz RS0122737 [T2 und T13]; Grabenwarter, EMRK4 § 13 Rz 23 und 31).

Der Fristsetzungsantrag nach § 91 GOG ist ein wirksamer und ausreichender Rechtsbehelf zur Verhütung einer unangemessen langen Dauer des Verfahrens bzw zur Hintanhaltung ungebührlicher Verzögerungen und damit effektiver Rechtsbehelf im Sinn der erwähnten (vertikalen) Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs (12 Os 125/08m, EvBl 2009/49, 325 mwN aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte; RIS-Justiz RS0122737 [T7 und T18]).

Da der Erneuerungswerber nach der in Rede stehenden Beschlussfassung (zur Unzulänglichkeit früherer Fristsetzungsanträge vgl ON 299) die Stellung eines auf die unverzügliche Anberaumung einer Hauptverhandlung zwecks [auch die Ausübung des Fragerechts der Angeklagten ermöglichender] Durchführung der in § 127 Abs 3 erster Satz StPO bei Bedenken gegen Befund oder Gutachten vor Beiziehung eines weiteren Sachverständigen zwingend vorgeschriebenen Befragung (12 Os 134/04; 11 Os 90/05b; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 351) abzielenden Fristsetzungsantrags nach § 91 GOG unterlassen hat, mangelt es dem Erneuerungsantrag schon an der Zulässigkeitsvoraussetzung der (vertikalen) Rechtswegerschöpfung.

Er war daher - wie schon die Generalprokuratur zutreffend ausführte - bereits bei nichtöffentlicher Beratung zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 Z 3 StPO).

Dem weiteren Einwand des - mangels Beeidigung der Schöffen - Fehlens einer Beschlussfassung durch ein „auf Gesetz beruhendes Gericht“ (Art 6 Abs 1 MRK) genügt der Hinweis, dass nach dem Inhalt des - auf Antrag des Erneuerungswerbers mit unbekämpft gebliebenem Beschluss des Vorsitzenden des Schöffengerichts vom 20. August 2010 (ON 300) berichtigten - Protokolls der Hauptverhandlung vom 17. Juni 2010 die beiden Schöffen bereits vorher beeidet waren (ON 295 S 2).

Warum schließlich durch Beiziehung eines weiteren Sachverständigen das Fragerecht gegenüber einem bereits beigezogenen anderen gefährdet sein sollte, bleibt unerfindlich. Dieses wird zudem durch das Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde garantiert, das dem Erneuerungsantrag, ebenso wie Fristsetzungsantrag und Grundrechtsbeschwerde, vorgeht (vgl 11 Os 132/06f).

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