OGH 14Os140/10k

OGH14Os140/10k19.10.2010

Der Oberste Gerichtshof hat am 19. Oktober 2010 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Mag. Hautz in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Jahn als Schriftführerin in der Strafsache gegen Kamel B***** wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 2 Z 3 SMG, § 15 StGB und anderer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten sowie über die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 2. Juli 2010, GZ 041 Hv 100/09p-110, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld werden zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufungen wegen des Ausspruchs über die Strafe werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Kamel B***** im zweiten Rechtsgang (zum ersten: 14 Os 33/10z) des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 2 Z 3 SMG, § 15 StGB (A) und mehrerer Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs 1 erster und zweiter Fall, Abs 2 SMG (B) schuldig erkannt.

Demnach hat er in Wien vorschriftswidrig Suchtgift

(A) von Winter 2008/2009 bis 26. Mai 2009 in einer das Fünfzehnfache der Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigenden Menge anderen

I) überlassen, indem er 179 Gramm Heroin (46,54 Gramm Heroin Reinsubstanz) und drei Gramm Kokain an im Urteilstenor namentlich genannte Abnehmer gewinnbringend verkaufte;

II) zu überlassen versucht, indem er 2,6 Gramm Heroin (0,68 +/- 0,01 Gramm reines Heroin) zum unmittelbar bevorstehenden Weiterverkauf an einen Suchtgiftabnehmer bereit hielt;

(B) und zwar Heroin und Kokain, von Anfang 2008 bis 26. Mai 2009 wiederholt zum Eigenkonsum erworben und besessen.

Gegen dieses Urteil meldete der Angeklagte am 5. Juli 2010 durch seinen Wahlverteidiger Dr. H***** „Berufung wegen Nichtigkeit sowie des Ausspruchs über Schuld und Strafe“ an, ohne konkrete Nichtigkeitsgründe zu nennen (ON 114).

Nach Zustellung der Urteilsausfertigung (ON 110) sowie einer Abschrift des Hauptverhandlungsprotokolls (ON 109) an den Verteidiger am 27. Juli 2010 (ON 110 S 33 mit Rückschein) gab dieser am 6. August 2010 schriftlich bekannt, dass das Vollmachtsverhältnis aufgelöst sei (ON 115). Am 11. August 2010 beschloss das Erstgericht unter Hinweis auf die „Verteidigerpflicht (Rechtsmittelausführung, Schöffenverfahren)“ von Amts wegen die Beigebung eines Verteidigers gemäß § 61 Abs 2 StPO (ON 1 S 3s verso). Der vom Ausschuss der Rechtsanwaltskammer Wien zur Verteidigerin bestellten Dr. W***** wurde die Urteilsausfertigung am 17. August 2010 (neuerlich) zugestellt (ON 1 S 3s verso mit Rückschein). Am 14. September 2010 gab der Angeklagte bekannt, dass er „anstelle seiner bisherigen Verteidigerin“ Dr. D***** „mit seiner Vertretung betraut“ habe, welcher unter einem die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung ausführte (ON 118).

Rechtliche Beurteilung

Die Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde ist verspätet:

Die vierwöchige Frist zur Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde (§ 285 Abs 1 StPO) hatte mit Zustellung des Urteils an den Wahlverteidiger Dr. H***** am 27. Juli 2010 zu laufen begonnen und endete demgemäß mit Ablauf des 24. August 2010.

Die Mitteilung von der Auflösung des Vollmachtsverhältnisses hatte zufolge § 63 Abs 2 erster Satz StPO (wonach der Lauf einer durch Zustellung an den Verteidiger ausgelösten Frist nicht dadurch unterbrochen wird, dass die Vollmacht des Verteidigers zurückgelegt wird) keinen Einfluss auf die bereits laufende Frist des § 285 Abs 1 StPO. Vielmehr hat der Verteidiger in diesem Fall gemäß § 63 Abs 2 zweiter Satz StPO weiterhin die Interessen des Beschuldigten (§ 48 Abs 2 StPO) zu wahren und innerhalb der Frist erforderliche Prozesshandlungen vorzunehmen, es sei denn, dieser hätte ihm dies ausdrücklich untersagt (Fabrizy, StPO10 § 63 Rz 2; Achammer, WK-StPO § 63 Rz 16; vgl § 11 Abs 2 RAO). Auch ein solches Verbot hätte allerdings bloß den Entfall dieser Verpflichtung des Anwalts zur Folge, aber keinen Einfluss auf den Lauf der Frist (14 Os 42/09s, EvBl-LS 2009/170, 1020).

Im Übrigen wäre das Gericht weder dazu verhalten gewesen, die Einhaltung der dem Wahlverteidiger gemäß § 63 Abs 2 letzter Satz StPO, § 11 Abs 2 RAO obliegenden Verpflichtung durch diesen zu überprüfen, noch dazu, innerhalb laufender Frist von Amts wegen einen Verfahrenshilfeverteidiger zu bestellen. Eine - vom EGMR nur in Betreff grober Versäumnisse des Pflichtverteidigers bejahte (vgl Pühringer, RZ 2009, 230 [233]) - Verpflichtung nationaler Behörden, in derartigen Fällen zu Gunsten des Angeklagten einzugreifen, besteht nicht, weil das Verhältnis zwischen Angeklagtem und einem Wahlverteidiger nicht unter dem Schutz des Art 6 Abs 3 MRK steht (RIS-Justiz RS0116182 [T10] und [T11]). Die tatsächliche Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers blieb ohne Einfluss auf den Lauf der Frist für die Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde, weil § 63 Abs 1 StPO nicht für Fälle bereits erfolgter Zustellung an den Wahlverteidiger gilt (13 Os 142/09w mwN; 12 Os 12/10x).

Mangels deutlicher und bestimmter Bezeichnung von Nichtigkeitsgründen bei der Anmeldung oder rechtzeitiger Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde war auf diese keine Rücksicht zu nehmen (§ 285 Abs 1 zweiter Satz StPO).

Demnach war die Nichtigkeitsbeschwerde - ebenso wie die im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht vorgesehenen Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld - bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 Z 1 StPO), woraus die Kompetenz des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufungen folgt (§ 285i StPO).

Die Kostenersatzpflicht des Angeklagten beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte