OGH 13Os59/10s

OGH13Os59/10s19.8.2010

Der Oberste Gerichtshof hat am 19. August 2010 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Ratz als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher, Dr. Lässig, Dr. Nordmeyer und Mag. Hautz in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Bayer als Schriftführerin in der Strafsache gegen Ing. Wilfried G***** wegen Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB und anderer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Schöffengericht vom 1. Dezember 2009, GZ 40 Hv 7/08z-64, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Innsbruck zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil, das auch einen rechtskräftigen Freispruch enthält, wurde Ing. Wilfried G***** mehrerer Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB schuldig erkannt.

Danach hat er vom Jänner 2001 bis zum Sommer 2004 in Götzis und Hall in Tirol außer dem Fall des § 206 StGB geschlechtliche Handlungen an einer unmündigen Person vorgenommen und von ihr an sich vornehmen lassen, indem er in zahlreichen Angriffen die Brüste und die Scheide der am 8. Jänner 1993 geborenen Karoline W***** betastete und massierte und in einem Fall deren Hand zu seinem Penis führte und sie veranlasste, diesen anzugreifen und zu streicheln.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen aus Z 4, 5 und 5a des § 281 Abs 1 StPO erhobene Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten geht fehl.

Vorweg sei festgehalten, dass das Urteil nach dem ungerügten Protokoll über die Hauptverhandlung (ON 63) nicht - wie in der schriftlichen Ausfertigung offenbar irrtümlich angeführt (US 23) - am 30. November 2009, sondern am 1. Dezember 2009 verkündet wurde (ON 63 S 91), sodass die Anmeldung der Nichtigkeitsbeschwerde innerhalb der dreitägigen Frist des § 284 Abs 1 StPO erfolgte (ON 66 S 1).

Entgegen der Verfahrensrüge (Z 4) wiesen die Tatrichter den Antrag auf Vertagung der Hauptverhandlung zwecks Beiziehung einer Person mit besonderem Fachwissen zur Befragung der psychologischen Sachverständigen (ON 63 S 3 iVm ON 62) ohne Verletzung von Verteidigungsrechten ab (ON 63 S 3):

Nach der Aktenlage verfügte das Erstgericht am 27. Juli 2009 die Zustellung des schriftlichen Gutachtens der Sachverständigen Dipl. Psych. A***** über die Aussageehrlichkeit der Zeugin Karoline W***** (ON 48) an den Verteidiger (ON 50 S 1). Sodann wurde die Hauptverhandlung am 29. Juli 2009 für den 21. September 2009 anberaumt (ON 51), am 16. September 2009 über Ersuchen des Beschwerdeführers (ON 55) auf den 16. November 2009 verlegt (ON 55 S 2) und schließlich über Verfügung vom 18. November 2009 am 30. November 2009 fortgesetzt (ON 59). Im Rahmen des Hauptverhandlungstermins am 16. November 2009 (ON 58a) legte die Sachverständige ihr Gutachten mündlich dar (ON 58a S 15 bis 21), der Fortsetzungstermin (ON 63) diente der Erörterung der Expertise (ON 63 S 3 bis 83) und wurde (ua) vom Verteidiger und vom Beschwerdeführer am 16. November 2009 unter Ladungsverzicht zur Kenntnis genommen (ON 58a S 22).

§ 249 Abs 3 StPO ermöglicht dem Angeklagten, zur Befragung eines Sachverständigen eine Person mit besonderem Fachwissen beizuziehen. Hingegen kommt ihm nicht das Recht auf Vertagung der Hauptverhandlung zwecks Stelligmachung einer solchen Hilfsperson zu, soweit er - was wie dargesellt hier der Fall ist - rechtzeitig von der Aufnahme des Sachverständigenbeweises in Kenntnis gesetzt worden ist (15 Os 131/08s; Danek, WK-StPO § 276 Rz 16). Der Sonderfall der unabwendbaren Verhinderung eines vom Angeklagten bereits beigezogenen Fachmanns, der die Akten studiert und die vom Gutachten betroffene Person befundet hat (13 Os 132/08y), liegt hier schon nach dem Antragsvorbringen nicht vor. Dieses ist vielmehr ausschließlich darauf gerichtet, die Expertise der gerichtlich bestellten Sachverständigen im Rahmen der Hauptverhandlung zu hinterfragen und behauptete methodische Defizite aufzuzeigen (ON 63 S 3 iVm ON 62 S 2; vgl auch NB S 6 f).

Die Frage an die Sachverständige zu differierenden Aussagen der Zeugin Karoline W***** in Bezug auf einen der gegenständlichen Angriffe (ON 63 S 58) ließ das Erstgericht mit Recht nicht zu (ON 63 S 59), weil die Sachverständige auf die angesprochene Abweichung zuvor ohnedies schon eingegangen war (ON 58a S 15 iVm ON 48 S 531; vgl auch ON 63 S 71).

Auch die Fragen nach dem sogenannten deliktspezifischen Realkennzeichen hat die Sachverständige in der Hauptverhandlung beantwortet, womit das Unterbinden (ON 63 S 70) weiterer Fragestellung hiezu (ON 63 S 69) dem durch § 232 Abs 2 StPO normierten, in Art 6 Abs 1 MRK verfassungsrechtlich vorgegebenen Gebot des Strebens nach Prozessökonomie entsprach (vgl Danek, WK-StPO § 232 Rz 8).

Der Antrag auf „Einholung eines weiteren aussagepsychologischen Gutach-tens/Glaubwürdigkeitsgutachtens“ (ON 63 S 87) verfiel ebenfalls zu Recht der Abweisung (ON 63 S 88 f), weil die Zeugin Karoline W***** (durch ihren Vertreter) ausdrücklich bekanntgab, sich einer neuerlichen Begutachtung nicht unterziehen zu werden (ON 63 S 88; vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 350). Die Mitwirkung der zu Begutachtenden an der Befundaufnahme ist aber hier - entgegen dem begründungslos vorgetragenen Antragsvorbringen - unumgänglich. Der Zweck eines Gutachtens über die Aussageehrlichkeit einer Person liegt nämlich darin, seelisch-geistige Vorgänge darzustellen und zu bewerten, die das Gericht mangels hinreichenden psychologischen Fachwissens nicht beurteilen kann (vgl § 126 Abs 1 StPO). Es geht also nicht um die abstrakte Plausibilität einer Aussage, sondern um deren psychologische Hintergründe, die ohne unmittelbare Befragung der betreffenden Person nicht herausgearbeitet werden können.

Der Vollständigkeit halber sei festgehalten, dass das Erfordernis, eine Expertise anhand eines anderen Gutachtens zu überprüfen, an den Kriterien des § 127 Abs 3 StPO zu messen ist, die aber hier nicht erfüllt sind. Die Verteidigung hat die Sachverständige im Rahmen der Hauptverhandlung - mit einigen kurzen Unterbrechungen - mehr als acht Stunden hindurch befragt (ON 63 S 3, 83). Nachdem die Gutachterin alle Fragen beantwortet hatte und Verteidiger, Staatsanwältin sowie Privatbeteiligtenvertreter erklärt hatten, keine weiteren Fragen stellen zu wollen, wurde sie entlassen (ON 63 S 83). Selbst in den erst danach erhobenen „Einwendungen“ (ON 63 S 83 bis 87) brachte die Verteidigung keineswegs eine unzureichende Beantwortung ihrer Fragen vor, vielmehr beschränkte sie sich darauf, unter inhaltlicher Wiederholung dieser Fragen die Methodik des Gutachtens anzuzweifeln, ohne dabei anhand der Ergebnisse des Beweisverfahrens Umstände aufzuzeigen, die den Befund unbestimmt oder das Gutachten widersprüchlich oder sonst mangelhaft erscheinen ließen.

Schließlich folgten die Tatrichter auch dem Begehren, die Zeugin Hermine G***** zum Nachweis dafür, „dass sie entgegen der Angaben der Zeugin Karoline W***** nicht einmal mit dieser im Zimmer mit dem Angeklagten Wilfried G***** in Götzis nächtigte, sondern zumindest zehn Mal“ (ON 45 S 334), ergänzend zu vernehmen, zu Recht nicht (ON 63 S 88, 90), weil es sich nicht auf schuld- oder subsumtionsrelevante Umstände bezog. Hinzu kommt, dass das erkennende Gericht den unter Beweis zu stellenden Umstand ohnedies als gegeben ansah (ON 63 S 90), womit es auch aus diesem Grund insoweit keiner weiteren Beweisführung bedurfte (RIS-Justiz RS0099135).

Das die Beweisanträge ergänzende Beschwerdevorbringen hat aufgrund des im Verfahren bei Nichtigkeitsbeschwerden bestehenden Neuerungsverbots auf sich zu beruhen.

Der Einwand der Mängelrüge (Z 5), das Erstgericht habe „das Gutachten der SV MMag. DDr. Esther K***** vom 12. 3. 2009 und das Gutachten der SV Dr. Monika Ay***** vom 2. 11. 2009“ nicht gewürdigt (Z 5 zweiter Fall), entzieht sich einer inhaltlichen Erwiderung, weil es nicht erkennen lässt, welchen Feststellungen die angesprochenen - im Übrigen nicht durch den gebotenen Hinweis auf die diesbezüglichen Fundstellen spezifizierten (RIS-Justiz RS0124172) - Urkunden erörterungsbedürftig entgegenstehen sollen.

Zudem ist festzuhalten, dass das Ziehen von Schlüssen in der Hauptverhandlung gerichtlich beigezogenen Gutachtern vorbehalten ist, aus welchem Grund Privatgutachten nicht als Beweismittel taugen (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 351).

Die Behauptung, das Erstgericht habe nicht begründet, warum es trotz in Detailbereichen widersprüchlicher Angaben der Zeugin Karoline W***** von der Glaubwürdigkeit deren Aussage ausgegangen ist (Z 5 vierter Fall), entfernt sich von der Aktenlage (US 9, 11 bis 14).

Indem die Beschwerde aus den Umständen, dass zwischen dem Beschwerdeführer und Karoline W***** Kontakte stattgefunden haben, ohne dass es dabei zu sexuellen Übergriffen gekommen sei, dass Karoline W***** mitunter freiwillig die Nähe des Beschwerdeführers gesucht habe und dass es ihr freigestanden wäre, an anderen Orten zu nächtigen, aus weitwendigen Überlegungen zu zeitlichen Zusammenhängen sowie aus Details der Aussage der Zeugin Hermine G***** anhand eigener Beweiswerterwägungen für den Beschwerdeführer günstige Schlüsse ableitet, wendet sie sich nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht vorgesehenen Schuldberufung in unzulässiger Weise gegen die tatrichterliche Beweiswürdigung.

Soweit die Tatsachenrüge (Z 5a) die Forderung nach dem Einholen eines weiteren Sachverständigengutachtens auch unter Berufung auf die Pflicht zu amtswegiger Wahrheitsforschung erhebt, verkennt sie die unter dem Aspekt der Sachverhaltsermittlung bestehende Subsidiarität des herangezogenen Nichtigkeitsgrundes gegenüber jenem der Z 4 (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 479).

Auch das übrige Vorbringen zur Z 5a entzieht sich einer meritorischen Erledigung, weil die Beschwerde dabei nicht auf konkrete, in der Hauptverhandlung vorgekommene Verfahrensergebnisse Bezug nimmt, sondern bloß den beweiswürdigenden Überlegungen der Tatrichter eigene Hypothesen entgegenstellt.

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher gemäß § 285d Abs 1 StPO schon bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Berufung kommt somit dem Oberlandesgericht zu (§ 285i StPO).

Der Kostenausspruch beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

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