OGH 12Os26/10f

OGH12Os26/10f6.5.2010

Der Oberste Gerichtshof hat am 6. Mai 2010 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Holzweber als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Schroll, Dr. Schwab, Dr. T. Solé und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als weitere Richter in Gegenwart der Rechtspraktikantin Mag. Wöss als Schriftführerin in der Strafsache gegen Bulat M***** wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127, 130 erster Fall StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 153 Hv 71/09x des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss dieses Gerichts vom 9. Oktober 2009, GZ 153 Hv 71/09x-54, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Oberstaatsanwältin Dr. Geymayer, und des Verteidigers .Mag. Premm zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 9. Oktober 2009, GZ 153 Hv 71/09x-54, verletzt § 53 Abs 1 zweiter Satz StGB.

Die den Angeklagten Bulat M***** betreffenden Punkte 1./ und 2./ dieses Beschlusses werden aufgehoben und es wird der Vorsitzenden im Verfahren AZ 29 Hv 29/08a des Landesgerichts Krems an der Donau aufgetragen, über den Widerruf der der diesem Angeklagten mit Beschluss des Landesgerichts Krems an der Donau vom 28. Juli 2008, AZ 19 BE 510/08h, gewährten bedingten Entlassung sowie der vom Landesgericht Krems an der Donau mit Urteil vom 15. Juli 2008, GZ 29 Hv 29/08a-85, gewährten (teil-)bedingten Strafnachsicht zu entscheiden.

Text

Gründe:

Mit (sogleich rechtskräftigem) Urteil des Landesgerichts Krems an der Donau vom 15. Juli 2008, GZ 29 Hv 29/08a-85, wurde (unter anderem) Bulat M***** des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 128 Abs 1 Z 4, 129 Z 1, 130 dritter und vierter Fall, 15 StGB schuldig erkannt und hiefür zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 21 Monaten verurteilt, wovon ein Strafteil von 14 Monaten gemäß § 43a Abs 3 StGB unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Mit Beschluss des Landesgerichts Krems an der Donau vom 28. Juli 2008, GZ 19 BE 510/08h-5, wurde Bulat M***** (nach Verbüßung von fünf Monaten und 29 Tagen) für den 29. Juli 2008 aus dem Vollzug des unbedingten Teils dieser Freiheitsstrafe bedingt entlassen und die Probezeit mit einer Dauer von drei Jahren bestimmt (ON 92 in 29 Hv 29/08a des Landesgerichts Krems an der Donau).

Mit darauf folgendem (gekürzt ausgefertigtem) Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 9. Oktober 2009, GZ 153 Hv 71/09x-54, wurde (unter anderem) Bulat M***** des Verbrechens des gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127, 130 erster Fall StGB sowie des Vergehens nach § 50 Abs 1 Z 3 WaffG schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von neun Monaten verurteilt. Zugleich fasste das Landesgericht für Strafsachen Wien (zu 1./) den Beschluss auf Widerruf der bedingten Strafnachsicht (richtig: Entlassung) zu AZ 19 BE 510/08h des Landesgerichts Krems an der Donau. Eine Entscheidung über den Widerruf der (teil-)bedingten Strafnachsicht zu AZ 29 Hv 29/08a des Landesgerichts Krems an der Donau (Freiheitsstrafe im Ausmaß von 14 Monaten) behielt es (zu 2./) „gemäß § 494a Abs 2 (analog), Abs 3 StPO“ dem Landesgericht Krems an der Donau mit der Begründung vor, mangels fallbezogen nicht möglicher Einsichtnahme in den Akt AZ 29 Hv 29/08a des Landesgerichts Krems an der Donau über keine ausreichende Entscheidungsgrundlage zu verfügen.

Dieses Urteil und die Punkte 1./ und 2./ des hiemit gemeinsam verkündeten Beschlusses blieben (ebenso wie die einen Mitangeklagten betreffende weitere Widerrufsentscheidung) unbekämpft (vgl Kopie der gekürzten Urteilsausfertigung in AZ 20 BE 775/09 des Landesgerichts Linz).

Bulat M***** wurde zuletzt mit Beschluss des Landesgerichts Linz vom 2. Februar 2010, GZ 20 BE 775/09f-5, aus dem Vollzug der Freiheitsstrafen zu AZ 153 Hv 71/09x des Landesgerichts für Strafsachen Wien (im Ausmaß von neun Monaten) und zu AZ 19 BE 510/08h des Landesgerichts Krems an der Donau (Strafrest von einem Monat und einem Tag) nach Verbüßung von sieben Monaten und 24 Tagen für den 20. April 2010 bedingt entlassen und die Probezeit mit drei Jahren bestimmt.

Eine Entscheidung über den Widerruf der (teil-)bedingten Strafnachsicht zu GZ 29 Hv 29/08a des Landesgerichts Krems an der Donau (Freiheitsstrafe im Ausmaß von 14 Monaten) erfolgte bislang nicht.

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, verletzt der mit dem Urteil verkündete Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 9. Oktober 2009, GZ 153 Hv 71/09x-54, soweit es sich auf den Angeklagten Bulat M***** bezieht, das Gesetz:

Gemäß dem durch das Strafrechtsänderungsgesetz 2008, BGBl I 2007/109, in den Rechtsbestand eingefügten zweiten Satz des § 53 Abs 1 StGB können die bedingte Nachsicht eines Teils einer Freiheitsstrafe und die bedingte Entlassung aus dem nicht bedingt nachgesehenen Strafteil nur gemeinsam widerrufen werden. Ein Widerruf der bedingten Entlassung aus dem gemäß § 43a Abs 3 oder 4 StGB nicht bedingt nachgesehenen Teil einer Freiheitsstrafe ist daher unzulässig, wenn nicht zugleich in Ansehung des bedingt nachgesehenen Teils dieser Strafe ein Widerruf ausgesprochen wird.

Vorliegend hat das Landesgericht für Strafsachen Wien jedoch in seinem nach Urteilsfällung gefassten Beschluss vom 9. Oktober 2009, GZ 153 Hv 71/09x-54, (zu 1./) den Widerruf der bedingten Entlassung des Bulat M***** aus dem verbleibenden Strafrest (im Ausmaß von einem Monat und einem Tag) zu AZ 19 BE 510/08h des Landesgerichts Krems an der Donau als Vollzugsgericht ausgesprochen, jedoch (zu 2./) die Entscheidung über den Widerruf des bedingt nachgesehenen Teils derselben Freiheitsstrafe (im Ausmaß von 14 Monaten) dem Landesgericht Krems an der Donau „vorbehalten“ und damit die Bestimmung des § 53 Abs 1 zweiter Satz StGB verletzt.

Der hier ausgesprochene, bloß partielle Widerruf von Rechtswohltaten ein- und derselben Sanktion widerspricht damit dem gesetzlich vorgesehenen Ausschluss der eigenständigen Behandlung von (bedingt nachgesehenem) Strafteil und (nach bedingter Entlassung verbliebenem) Strafrest (Jerabek in WK2 § 53 Rz 4a).

Zu den Rechtsfolgen des Unterbleibens auch des Widerrufs des bedingt nachgesehenen Strafteils führt die Generalprokuratur wie folgt aus:

Erachtet das erkennende Gericht einen Ausspruch nach § 494a Abs 1 Z 4 StPO hinsichtlich der Sanktion einer Vorverurteilung als zumindest indiziert, mangelt es aber an einem Formerfordernis nach Abs 3 erster Satz leg cit - hier: an der trotz Vorliegens einer Urteilskopie als erforderlich erachteten Einsichtnahme in den bezughabenden Vorstrafakt - so hat es entweder die Hauptverhandlung zum Zwecke der Akteneinsicht in den Vorstrafakt zu vertagen oder von der Widerrufsentscheidung insgesamt Abstand zu nehmen (vgl Jerabek, WK-StPO § 494a Rz 10).

Nach einer derartigen Abstandnahme sind - aufgrund der für diesen Fall vorgesehenen unterschiedlichen Regeln über die Zuständigkeit für die (nicht mehr gemeinsam mit dem Urteil mögliche) Entscheidung über den Widerruf der bedingten Strafnachsicht (nämlich das gemäß § 495 Abs 1 StPO zu befassende Urteilsgericht, das die bedingte Strafnachsicht ausgesprochen hat) und über den Widerruf der bedingten Entlassung (nämlich das nach den §§ 16 Abs 1 und 2 Z 12, 179 StVG zuständige Vollzugsgericht) - gegebenenfalls verschiedene Gerichte sachlich und örtlich entscheidungsbefugt, was die - vom Gesetz geforderte - gemeinsame Entscheidung im Sinne des § 53 Abs 1 zweiter StGB ausschließt.

Daran vermag auch der ausgesprochene Vorbehalt einer Entscheidung hinsichtlich der bedingten Strafnachsicht zu AZ 29 Hv 29/08a des Landesgerichtes Krems a. d. Donau (aufgrund mangelnder Einsichtnahme in den Akt) nichts zu ändern. Bei Abstandnahme von einer Widerrufsentscheidung aufgrund Fehlens eines Formerfordernisses des Abs 3 erster Satz des § 494a StPO geht die Entscheidungskompetenz schon ex lege auf das gemäß § 495 Abs 1 StPO sonst zuständige Gericht - hier das Landesgericht Krems an der Donau - über (Jerabek, WK-StPO § 494a Rz 10), welches seinerseits - aufgrund der Vorgabe des § 53 Abs 1 zweiter Satz StGB - an einer Widerrufsentscheidung gehindert ist.

Da das erkennende Gericht bei Beachtung der Bestimmung des § 53 Abs 1 zweiter Satz StGB ohne einen (hier nicht erfolgten) Widerruf des bedingt nachgesehenen Teils der Freiheitsstrafe zu GZ 29 Hv 29/08a des Landesgerichts Krems an der Donau auch vom Widerruf der bedingten Entlassung des Landesgerichts Krems an der Donau als Vollzugsgericht (19 BE 510/08h) Abstand zu nehmen gehabt hätte, gereicht die aufgezeigte Gesetzesverletzung dem Verurteilten Bulat M***** zum Nachteil.

Demzufolge wäre nicht nur die Gesetzesverletzung festzustellen, sondern auch die betroffenen Punkte 1./ und 2./ des Beschlusses des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 9. Oktober 2009, GZ 153 71/09x-54, zu beseitigen und auszusprechen, dass vom Widerruf (der bedingten Entlassung und der bedingten Strafnachsicht) abgesehen wird.

Hiezu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:

§ 53 Abs 1 zweiter Satz StGB statuiert den bloß gemeinsamen Widerruf des bedingt nachgesehenen Teils einer Freiheitsstrafe und der bedingten Entlassung aus dem nicht bedingt nachgesehenen Strafteil, ohne dass die Verfahrensordnung jener Fälle gedächte, in denen ein gemeinsamer Widerruf durch das hiezu nach § 494a StPO berufene Gericht aus verfahrenstechnischen Gründen nicht möglich, vor allem aber gemäß § 494a Abs 2 erster Satz StPO gänzlich ausgeschlossen ist. Insbesondere bei Strafteilen von über einem Jahr wäre somit bei in die Kompetenz des Bezirksgerichts fallender Nachdelinquenz jeglicher Widerruf trotz der Vorschrift des § 494a Abs 2 letzter Satz StPO, wonach das erkennende Gericht, soweit es eine Entscheidung nach Abs 1 Z 4 leg cit nicht treffen darf, auszusprechen hat, dass die Entscheidung über den Widerruf dem Gericht vorbehalten bleibt, dem sonst die Entscheidung zukäme, nicht möglich. In einem solchen Fall wären nämlich infolge der von der Generalprokuratur angeführten unterschiedlichen Regelungen über die Zuständigkeit (einerseits Urteilsgericht, andererseits Vollzugsgericht) allenfalls örtlich verschiedene Gerichte, jedenfalls aber unterschiedliche funktionell zuständige Spruchkörper (vgl RIS-Justiz RS0087497; Markel, WK-StPO Altes Vorverfahren § 1 Rz 68) entscheidungsbefugt, was die - vom Gesetz geforderte - gemeinsame Entscheidung im Sinne des § 53 Abs 1 zweiter StGB ausschließen würde.

Die aus dem Fehlen einer die Kompetenz zur gemeinsamen Entscheidung in den in Rede stehenden Fallkonstellationen regelnden Vorschrift resultierende Konsequenz der (prozessualen) Unzulässigkeit einer nach materiellem Recht möglichen Widerrufsentscheidung kann - auch mangels eines darauf hindeutenden Hinweises in den Materialien (302 BlgNR 23. GP, 9 f) - dem Gesetzgeber nicht zugesonnen werden, sodass eine durch Analogie zu schließende planwidrige Lücke vorliegt. Da außer in den Fällen des § 494a StPO über den Widerruf ua der bedingten Nachsicht einer Strafe oder eines Strafteils gemäß § 495 Abs 1 StPO grundsätzlich das Urteilsgericht zu entscheiden hat, für den Widerruf einer bedingten Entlassung nach § 16 Abs 1, Abs 2 Z 12 StVG die auch nur subsidiäre Kompetenz des Vollzugsgerichts besteht (vgl § 179 Abs 2 StVG) und im Falle des § 53 Abs 1 zweiter Satz StGB der bedingt nachgesehene Strafteil gegenüber dem Strafrest aus der bedingten Entlassung deutlich überwiegt (vgl § 43a Abs 3 bis 5 StGB), ist es sachgerecht, in den aufgezeigten Konstellationen die Zuständigkeit jenes Gerichts, das in erster Instanz die teilbedingte Strafnachsicht ausgesprochen hat, auch zur Entscheidung über die bedingte Entlassung aus dem unbedingten Strafteil anzunehmen.

Da im vorliegenden Fall nicht auszuschließen ist, dass sich die aufgezeigte Gesetzesverletzung zum Nachteil des Verurteilten ausgewirkt hat, sah sich der Oberste Gerichtshof gemäß § 292 letzter Satz StPO veranlasst, den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien in dem im Spruch bezeichneten Umfang aufzuheben. Von der Beschlussaufhebung rechtslogisch abhängige Entscheidungen und Verfügungen gelten damit gleichfalls als beseitigt (RIS-Justiz RS0100444; Ratz, WK-StPO § 292 Rz 28). Einer (auf den Gegenstand der von diesem Widerrufsbeschluss betroffenen Freiheitsstrafe bezogenen) teilweisen förmlichen Aufhebung des die bedingte Entlassung des Verurteilten anordnenden Beschlusses des Landesgerichts Linz als Vollzugsgericht vom 2. Februar 2010, GZ 20 BE 775/09f-5, als von dem zu kassierenden Widerrufsbeschluss rechtslogisch abhängiger weiterer Verfügung bedarf es somit nicht. Das Landesgericht Linz als Vollzugsgericht wird der Kassation des Widerrufsbeschlusses durch eine (beschlussmäßige) Anpassung der Entscheidungsteile, die als Folgewirkung betroffen sind, Rechnung zu tragen haben (11 Os 197/09v).

Die Vorsitzende des Landesgerichts Krems an der Donau (§ 32 Abs 3 StPO) wird - wie dargelegt - gemeinsam sowohl über die bedingte Strafnachsicht (insoweit ist die Entscheidungskompetenz bereits ex lege auf sie übergegangen; Jerabek, WK-StPO § 494a Rz 10) als auch (neuerlich) über die bedingte Entlassung aus dem unbedingten Strafteil zu entscheiden haben.

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