Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung
Die Klägerin und deren Eltern sind jeweils Dritteleigentümer einer Liegenschaft samt Haus, worin sich im ersten Stock die (vormalige) Ehewohnung der Streitteile befindet. Im Erdgeschoß wohnen die Eltern der Klägerin. Die Ehe der Streitteile wurde (zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung dieses Prozesses noch nicht rechtskräftig) geschieden. Das Verschulden an der Zerrüttung der Ehe trifft beide Parteien gleichteilig. Die Klägerin (wie auch die 1991 und 1993 geborenen Söhne der Streitteile) bewohnt die Ehewohnung, sie hält sich jedoch insbesondere zur Nachtzeit bei ihrem nunmehrigen Lebensgefährten auf. Auch der Beklagte nächtigt mindestens zwei- bis dreimal pro Woche bei einer Bekannten.
Aufgrund eines Antrags der Klägerin gemäß § 382b EO verbot das Landesgericht Salzburg dem (hier) Beklagten mittels einstweiliger Verfügung den Aufenthalt in der Ehewohnung (zunächst) für die Dauer von drei Monaten. Es sei im Jahr 2007 bei mehreren Anlässen im April und im Oktober zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen den Streitteilen gekommen (etwa anlässlich eines „Gezerres“ beim Streit über die Entfernung von Blumen aus der Garage), wobei die Klägerin einmal eine Handverletzung davongetragen habe. Auch habe der Beklagte das Schlafzimmer der (schlafenden) Klägerin betreten, ihr das Betttuch weggerissen und sie im Pyjama fotografiert. Diese Vorgangsweise wiederholte der Beklagte in der Folge noch ein weiteres Mal.
Die Klägerin begehrt, den Beklagten zur Räumung der vormaligen Ehewohnung sowie zur Ausfolgung der Schlüssel zu verpflichten. Der Beklagte sei bereits ausgezogen und habe kein dringendes Wohnbedürfnis an der vormaligen Ehewohnung. Er habe außerdem innerhalb eines Zeitraums von fünf Monaten drei tätliche Übergriffe gegen die Klägerin gesetzt und daher jedenfalls seinen Wohnungserhaltungsanspruch nach § 97 ABGB verwirkt.
Der Beklagte wendete insbesondere ein, dass er bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung im Aufteilungsverfahren zur Benützung der Ehewohnung berechtigt sei.
Das Erstgericht gab dem Räumungsbegehren im Wesentlichen statt. Der Beklagte habe aufgrund des über ihn gemäß § 382b EO verhängten Betretungsverbots seinen Wohnungserhaltungsanspruch nach § 97 ABGB verwirkt. Eine Überprüfung, ob der Beklagte an der Ehewohnung ein dringendes Wohnbedürfnis habe, könne daher unterbleiben.
Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. In der erlassenen und (unter anderem) bis zum rechtskräftigen Abschluss des Ehescheidungsverfahrens verlängerten einstweiligen Verfügung liege ein Verwirkungstatbestand, sodass dem Beklagten kein Anspruch iSd § 97 ABGB zukomme. Die ordentliche Revision sei zuzulassen, weil zu der über den Einzelfall hinaus bedeutsamen Frage der Verwirkung des Wohnungserhaltungsanspruchs nach § 97 ABGB aufgrund einer einstweiligen Verfügung nach § 382b Abs 1 EO außer 1 Ob 85/08v noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung vorliege.
Die Revision des Beklagten ist zur Präzisierung der Verwirkungsgründe in Bezug auf Ansprüche nach § 97 ABGB zulässig und im Sinne des Aufhebungsbegehrens auch berechtigt.
Der Revisionswerber macht geltend, dass ein (vorübergehendes) Betretungsverbot gemäß § 382b EO nichts an seinem grundsätzlichen Wohnungserhaltungsanspruch ändere. Die Auffassung des Berufungsgerichts würde bedeuten, dass immer dann, wenn ein Betretungsverbot erlassen wurde, gleichzeitig auch der Anspruch gemäß § 97 ABGB verwirkt wäre. Eine Verwirkung bedeute aber stets endgültigen Rechtsverlust. Dem österreichischen Recht sei die Verwirkung nur insoweit bekannt, als im Verhalten des Berechtigten ein stillschweigender Verzicht auf das Recht erblickt werden könnte. Ansonsten sei von Verwirkung nur im Zusammenhang mit Unterhaltsansprüchen die Rede, so beispielsweise iSd §§ 94 Abs 2 Satz 2 ABGB, 68a Abs 3 EheG und 74 EheG. Andere Verwirkungstatbestände, insbesondere im Hinblick auf Aufteilungsansprüche oder den Wohnungserhaltungsanspruch gemäß § 97 ABGB kenne das österreichische Recht nicht. Die Annahme eines solchen aufgrund eines Betretungsverbots würde die Ansprüche auf Aufteilung gemäß §§ 81 Abs 2 und 82 Abs 2 EheG unterlaufen. Ein Betretungsverbot gemäß § 382b EO hätte damit weitreichendere Folgen als vom Gesetzgeber beabsichtigt. Im Übrigen sei der Tatbestand des § 97 ABGB nicht geeignet, einen Räumungsanspruch zu begründen.
Rechtliche Beurteilung
Dazu wurde erwogen:
1. § 97 ABGB räumt dem auf die weitere Benützung einer Wohnung angewiesenen Ehegatten gegen den über diese Wohnung verfügungsberechtigten anderen Ehegatten einen familienrechtlichen Anspruch auf Erhaltung der Wohnmöglichkeit ein. Der Bestimmung liegt der Gedanke zugrunde, dass ein Ehegatte durch die Eheschließung ein Wohnrecht an der ihm nicht oder nicht allein gehörenden Wohnung, die seinem dringenden Wohnbedürfnis dient, erwirbt; § 97 ABGB soll den berechtigten Ehegatten, dessen Wohnrecht nicht durch einen anderen Rechtstitel gesichert ist, vor Willkürakten des anderen schützen und ihm den räumlichen Lebensbereich erhalten, der ihm bisher zur Deckung der den Lebensverhältnissen der Ehegatten entsprechenden Bedürfnisse diente und den er weiter benötigt (Beck in Gitschthaler/Höllwerth, EheG, § 97 ABGB Rz 1 mwN).
2. Ähnlich wie der Unterhaltsanspruch gemäß § 94 Abs 2 zweiter Satz ABGB findet auch der Anspruch des wohnungsbedürftigen Ehegatten seine Grenze im Rechtsmissbrauch (6 Ob 727/80 = JBl 1982, 593; Beck aaO Rz 24; Hopf/Kathrein, Eherecht2 § 97 ABGB Anm 12). Da sich der Wohnungserhaltungsanspruch auf die eheliche Beistandspflicht gründet, ist Rechtsmissbrauch anzunehmen, wenn der wohnungsbedürftige Ehegatte seine Beistandspflicht selbst gröblich vernachlässigt hat (Hinteregger in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang 3 § 97 ABGB Rz 25).
In einer Entscheidung des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 17. 4. 1984 (EFSlg 44.905) wurde ausgesprochen, dass jedenfalls ein Tatbestand, der gemäß § 382 Z 8 lit b (nunmehr § 382b Abs 1) EO einen Auftrag an einen Gatten zum Verlassen der Ehewohnung rechtfertige, als Verwirkung des Rechts auf Benützung der Ehewohnung durch diesen zu werten sei (so auch Schwimann/Ferrari in Schwimann, ABGB3 § 97 Rz 14). Stabentheiner in Rummel3, § 97 ABGB Rz 3, äußert hingegen wegen des provisorischen Charakters der einstweiligen Verfügung Zweifel an der Auffassung, dass der Wohnungserhaltungsanspruch schon durch Ausweisung aus der Wohnung durch einstweilige Verfügung nach § 382b Abs 1 EO untergehe.
Tatsächlich besteht der in EFSlg 44.905 angenommene „Automatismus“ nicht. Auch aus der vom Berufungsgericht zur Begründung seiner Rechtsansicht herangezogenen Entscheidung 1 Ob 85/08v kann nicht abgeleitet werden, dass die Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 382b Abs 1 EO gleichsam „automatisch“ auch zur (endgültigen) Verwirkung des Wohnungserhaltungsanspruchs des Weggewiesenen gemäß § 97 ABGB führe. In der genannten Entscheidung sprach der erste Senat aus, dass dem volljährigen und selbsterhaltungsfähigen Kind kein Anspruch auf Benützung der bisherigen Ehewohnung seiner Eltern zustehe, wenn der Elternteil, von dem es sein Recht ableite, diese Wohnung - im Gegensatz zu dem auf Räumung klagenden Elternteil - selbst nicht mehr bewohne, etwa weil er seinen Wohnungserhaltungsanspruch gemäß § 97 ABGB verwirkt habe. Ein Elternteil sei grundsätzlich (außer in Ausnahmefällen) zur „Entfernung“ eines volljährigen Kindes aus der Wohnung befugt, wenn er Hauptmieter bzw Eigentümer derselben sei und diese selbst bewohne (vgl RIS-Justiz RS0047090). Der vorliegende Fall, bei dem es nicht um einen „abgeleiteten“, sondern um einen direkten Anspruch nach § 97 ABGB geht, ist damit nicht vergleichbar.
3. Bei der von der Rechtsprechung entwickelten Fallgruppe „Verwirkung durch missbilligtes Verhalten“ setzt der Vorwurf nicht bei den Umständen des Erwerbs eines Rechts bzw einer Rechtsposition an, sondern an einem Verhalten nach diesem Zeitpunkt, das aber vor der Rechtsausübung liegt. Der typische zeitliche Ablauf gestaltet sich danach in der Weise, dass ein Recht zunächst gültig erworben wird, es aber infolge eines - mit dem Recht in sachlichem Zusammenhang stehenden - Verhaltens des Berechtigten nicht gerechtfertigt erscheint, diesem Recht auch weiterhin Unterstützung durch die Rechtsordnung zu gewähren. Diese Wertung liegt etwa § 94 Abs 2 ABGB zugrunde. Da die Berufung auf dieses Recht idR dauerhaft gehindert sein soll, liegt es nahe, einen Tatbestand des Rechtsverlusts anzunehmen (vgl Mader, Neuere Judikatur zum Rechtsmissbrauch, JBl 1998, 677 [690] mwN).
Bei der Beurteilung des Rechtsmissbrauchs nach § 94 Abs 2 Satz 2 ABGB richtet sich die an die Bejahung der Frage rechtsmissbräuchlichen Unterhaltsbegehrens anknüpfende Entscheidung, ob der Rechtsmissbrauch den Verlust oder die Minderung des Unterhaltsanspruchs zur Folge hat bzw in welchem Ausmaß der Anspruch allenfalls zu mindern ist, nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls. Es bedarf einer umfassenden Interessenabwägung, in welche neben den zur Bejahung des Rechtsmissbrauchs führenden Eheverfehlungen jedenfalls auch das Verhalten des unterhaltspflichtigen Ehepartners, die Dauer und die Gestaltung der ehelichen Lebensgemeinschaft, das Wohl vorhandener Kinder sowie der Bedarf des Unterhalt ansprechenden Ehegatten einzubeziehen sind (2 Ob 193/06f).
4. Die Beurteilung, ob die Berufung des wohnbedürftigen Ehegatten auf seinen Anspruch nach § 97 ABGB rechtsmissbräuchlich ist, bedarf ebenfalls einer umfassenden Interessenabwägung, in welcher die Gesamtumstände des Einzelfalls, auch die Wohnsituation der (vormaligen) Ehegatten, zu berücksichtigen sind.
Die zur Erfüllung eines Wegweisungstatbestands nach § 382b EO erforderlichen Sachverhaltselemente werden im Regelfall zwar gleichzeitig geeignet sein, bei der Frage des Rechtsmissbrauchs der Geltendmachung eines Wohnungserhaltungsanspruchs gemäß § 97 ABGB eine gewichtige Rolle zu spielen, sie sind aber nicht das einzige Beurteilungskriterium.
5. Die Feststellungen der Tatsacheninstanzen sind nicht ausreichend, um beurteilen zu können, ob die Berufung auf den Wohnungserhaltungsanspruch seitens des Beklagten rechtsmissbräuchlich ist. Die aus dem Verfahren nach § 382b EO übernommenen Feststellungen, die insgesamt keine massive Gewalteinwirkung des Beklagten wiedergeben - die Rede ist ua von einem „Gezerre“ und einem „Hin und Her“ - genügen zur Begründung der (endgültigen) Verwirkung des Wohnungserhaltungsanspruchs für sich allein nicht.
Das Erstgericht wird im fortzusetzenden Verfahren die Wohn- und Lebenssituation der Streitteile näher zu prüfen haben, auch um beurteilen zu können, ob der Beklagte tatsächlich ein dringendes Wohnbedürfnis an der (vormaligen) Ehewohnung hat.
Sollte das Erstgericht sodann (neuerlich) zur Auffassung gelangen, dass der Wohnungserhaltungsanspruch des Beklagten verwirkt sei oder dass es ihm am dringenden Wohnbedürfnis mangle, so wäre der familienrechtliche Titel zur Benützung der (früheren) Ehewohnung weggefallen und bestünde der Räumungsanspruch des über die Wohnung verfügungsberechtigten anderen Ehegatten - hier der Klägerin - zu Recht. Ein „Unterlaufen“ der (künftigen) Aufteilungsansprüche gemäß §§ 81 ff EheG würde damit nicht bewirkt, da die Beurteilung des Gerichts im Aufteilungsverfahren (etwa darüber, ob die Ehewohnung in die Aufteilung einzubeziehen ist [§ 82 Abs 2 EheG]) nicht von jener dieses (einen anderen Anspruch betreffenden) Verfahrens abhängt. Eine Überweisung der Rechtssache an das Außerstreitgericht (vgl RIS-Justiz RS0112737, RS0111605, RS0033075; 6 Ob 98/09v) kommt - derzeit - deshalb nicht in Betracht, weil eine rechtskräftige Beendigung des Scheidungsverfahrens nicht aktenkundig ist.
Der Revision des Beklagten war somit Folge zu geben. Die Entscheidungen der Vorinstanzen waren aufzuheben; dem Erstgericht war die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufzutragen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 ZPO.
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