OGH 12Os160/08h (12Os180/08z)

OGH12Os160/08h (12Os180/08z)15.1.2009

Der Oberste Gerichtshof hat am 15. Jänner 2009 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Holzweber als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Schroll, Dr. Schwab und Dr. T. Solé sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Trebuch als Schriftführer, in der Strafsache gegen MMag. Kemal C***** wegen des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 1 StGB, AZ 38 Hv 30/07m des Landesgerichts Wiener Neustadt, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 9. September 2008, AZ 20 Bs 183/08w (ON 37 der Hv-Akten), erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes und über den Antrag des Verurteilten auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwältin Dr. Sperker, des Verurteilten und dessen Verteidigerin Dr. Stuefer zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Das Urteil des Oberlandesgerichts Wien vom 9. September 2008, AZ 20 Bs 183/08w (GZ 38 Hv 30/07m-37 des Landesgerichts Wiener Neustadt), verletzt § 34 Abs 2 StGB, soweit im Zuge der Entscheidung über die Berufung gegen den Strafausspruch von einer rechtsirrig ermittelten Dauer des Verfahrens ausgegangen wurde.

Das genannte Urteil wird aufgehoben und dem Oberlandesgericht Wien die neuerliche Entscheidung über die Berufung des Angeklagten aufgetragen.

Mit seinem Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 27. März 2008, GZ 38 Hv 30/07m-30, rechtskräftig mit Urteil des Oberlandesgerichts Wien vom 9. September 2008, AZ 183/08w (ON 37 der Hv-Akten), wurde MMag. Kemal C***** des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 1 StGB schuldig erkannt und unter Anwendung des § 37 Abs 1 StGB nach § 84 Abs 1 StGB zu einer Geldstrafe von 300 Tagessätzen à 2 Euro verurteilt.

Danach hat er am 3. Juli 2005 in Ebreichsdorf Mahsuni S***** durch Faustschläge und Fußtritte vorsätzlich am Körper verletzt, wobei die Tat eine länger als 24 Tage dauernde Gesundheitsschädigung zur Folge hatte und die erlittene Verletzung - ein Bruch des linken Oberarms - an sich schwer war.

Vom gegenständlichen Strafverfahren wurde der Verdächtige anlässlich seiner niederschriftlichen Vernehmung als Beschuldigter durch die Polizei am 23. Juli 2005 (S 31) in Kenntnis gesetzt.

Nachdem der Versuch eines diversionellen Vorgehens gemäß § 90g StPO nach einem Bericht von Neustart vom 5. Mai 2006 (ON 8) ohne Erfolg geblieben war (S 1), brachte die Staatsanwaltschaft am 12. Mai 2006 einen Strafantrag ein (ON 9).

Nach Durchführung der am 19. Mai 2006 (S 1) für 7. September 2006 anberaumten Hauptverhandlung, in der neben dem Beschuldigten sechs Zeugen vernommen wurden, erfolgte ein strafantragskonformer Schuldspruch des Einschreiters.

Das Oberlandesgericht Wien gab der dagegen am 22. Dezember 2006 eingebrachten Berufung mit Urteil vom 7. Mai 2007, AZ 20 Bs 4/07w (ON 17 der Hv-Akten), Folge, hob das angefochtene Urteil auf und verwies die Strafsache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht.

Die am 29. Juni 2007 für 14. August 2007 anberaumte Hauptverhandlung (S 3a umseits) wurde nach Vernehmung des Angeklagten und von sechs Zeugen (ON 21) zur Ausforschung und Vernehmung zweier weiterer Zeuginnen auf unbestimmte Zeit vertagt (S 215). Nach Bekanntgabe von Namen und Adressen dieser Zeuginnen am 28. August 2007 (ON 24) fand die nächste Hauptverhandlung am 6. November 2007 statt, in der eine Zeugin befragt wurde (ON 27). Die Vernehmung einer weiteren Zeugin war wegen zweimaligen Entschuldigungen erst in der am 27. März 2008 durchgeführten Hauptverhandlung (ON 29) möglich. Danach erfolgte neuerlich ein Schuldspruch des Angeklagten wegen §§ 83 Abs 1, 84 Abs 1 StGB.

Auch dagegen erhob der Angeklagte Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe und monierte erstmalig unter anderem eine überlange Verfahrensdauer. Der letztlich nur gegen den Ausspruch über die Strafe aufrecht erhaltenen Berufung gab das Oberlandesgericht mit Urteil vom 9. September 2008 nicht Folge (AZ 20 Bs 183/08w; ON 37).

In seiner Begründung führte das Oberlandesgericht unter Zugrundelegung eines knapp zweieinhalbjährigen Zeitraums zwischen Gerichtsanhängigkeit des Verfahrens ab 12. Mai 2006 und dem rechtskräftigen Schuldspruch aus, dass neben den im Übrigen geringfügig korrigierten Strafzumessungsgründen jener der unverhältnismäßig langen Dauer des Verfahrens im Sinne des Art 6 Abs 1 MRK iVm § 34 Abs 2 StGB nicht vorliege.

Das Berufungsurteil wurde dem Verurteilten am 18. September 2008 zugestellt (ON 38).

Am 20. Oktober 2008 stellte MMag. Kemal C***** durch seinen Verteidiger einen Antrag auf Erneuerung des gegenständlichen Strafverfahrens, weil er in seinem Grundrecht auf gerichtliche Entscheidung innerhalb angemessener Frist gemäß Art 6 Abs 1 MRK verletzt sei.

Rechtliche Beurteilung

Das Urteil des Oberlandesgerichts Wien vom 9. September 2008, AZ 20 Bs 183/08w, ON 37 der Hv-Akten, steht - wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde vom 4. Dezember 2008 zutreffend ausführt - mit dem Gesetz nicht in Einklang.

Die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer ist nach der Rechtsprechung des EGMR nicht abstrakt, sondern im Lichte der besonderen Umstände jedes einzelnen Falles zu beurteilen. Diese ergeben sich aus dem Verhältnis und der Wechselwirkung verschiedener Faktoren, die die Verfahrensdauer beeinflussen, nämlich die Schwierigkeit des Falles, das Verhalten des Angeklagten und der staatlichen Behörden im bemängelten Verfahren sowie die Bedeutung der Sache für den letztlich Verurteilten (vgl Grabenwarter, EMRK³ § 24 Rz 69 f).

Soweit ein Strafzumessungsgrund (als rechtliche Kategorie: sog Strafzumessungstatsache) vom Gericht tatsächlich in Anschlag gebracht, mit anderen Worten über deren Vorliegen oder Nichtvorliegen rechtlich abgesprochen wurde, ist dieser Ausspruch des Gerichts einer Rechtskontrolle zugänglich und nicht mehr bloß die Möglichkeit gegeben, das geübte Ermessen durch dasjenige der Rechtsmittelinstanz zu ersetzen.

Stehen ordentliche Rechtsmittel offen, kann das Absprechen über einen Strafzumessungsgrund (die Entscheidung, über das Vorliegen der Strafbemessungskategorie zu erkennen oder nicht) zwar in der Regel nur mit Berufung geltend gemacht werden und ist solcherart einer Rechtskontrolle entzogen (Ausnahmen sind nach Maßgabe der Reichweite des § 281 Abs 1 Z 11 dritter Fall StPO möglich, etwa dann, wenn behauptete Tatprovokation durch staatliche Organe schlicht übergangen wird). Hat das Gericht zum Zwecks der Sanktionsfindung indes über Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Strafbemessungskategorie rechtlich abgesprochen, war diese also tatsächlich bei der Sanktionsfindung maßgeblich, ist die darauf fußende Rechtsanwendung auch einer Kontrolle mit Nichtigkeitsbeschwerde (§ 281 Abs 1 Z 11 zweiter Fall StPO) und Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zugänglich (Fabrizy, StPO10 § 23 Rz 3; Ratz, WK-StPO § 292 Rz 8), weil Z 11 zweiter Fall, ebenso wie Z 5, jedoch im Gegensatz zu Z 5a des § 281 Abs 1 StPO, rechtsfehlerhaftes Handeln anspricht, das vom Obersten Gerichtshof übrigens auch bejaht wird, wenn die Sachverhaltsgrundlagen für die Strafbemessung durch ein Berufungsgericht willkürlich ermittelt wurden.

Vorliegend wurde die Frage, ob der Strafbemessungsgrund des § 34 Abs 2 StGB dem Angeklagten zustatten kommt oder nicht, bei der Sanktionsfindung in Rechnung gestellt, war also maßgeblich. Sie wurde jedoch rechtsfehlerhaft beantwortet.

Der für die Beurteilung einer konventionskonformen Verfahrensdauer maßgebliche Zeitraum läuft entgegen den Ausführungen des Oberlandesgerichts Wien nicht ab Gerichtsanhängigkeit, sondern beginnt bereits mit dem In-Kenntnis-Setzen des Verdächtigen von der Tatsache, dass gegen ihn wegen des Verdachts einer strafbaren Handlung ermittelt wird (vgl die bei Grabenwarter, EMRK³ § 24 Rz 68, in FN 319 zitierte Judikatur des EGMR; weiters Frowein/Peukert, EMRK² Art 6 Rz 138; Meyer-Ladewig, Hk-EMRK Art 6 Rz 76 - je mit zusätzlicher Judikatur der Straßburger Instanzen - sowie VfGH VfSlg 16.385/2001 mwN, jüngst B 1381/07; letztlich EGMR vom 22. Mai 2007, Donner gegen Österreich, Nr 32.407/04), gegenständlich also dem 23. Juli 2005 und endet mit Eintritt der Rechtskraft des verurteilenden Erkenntnisses am 9. September 2008; er beträgt damit hier richtig drei Jahre, einen Monat und siebzehn Tage.

Die Entscheidung des Berufungsgerichts vom 9. September 2008 verletzt im dargelegten Umfang § 34 Abs 2 StGB zum Nachteil des Verurteilten.

Angesichts dessen sah sich der Oberste Gerichtshof zur Aufhebung dieses Urteils veranlasst. Das Oberlandesgericht wird somit die Frage der Anwendung von § 34 Abs 2 StGB neuerlich - unter Zugrundelegung der rechtsrichtig ermittelten Verfahrensdauer - zu prüfen haben.

Dazu sei lediglich angemerkt, dass die Bestreitung des Tatvorwurfs an sich nicht unter den Ausnahmesatz in § 34 Abs 2 StGB fällt (vgl Grabenwarter, EMRK² § 24 Rz 69 3. Anstrich).

Das Unterlassen einer Antragstellung nach § 91 GOG schließt die Anwendung von § 34 Abs 2 StGB nicht aus, weil § 34 Abs 2 StGB - anders als § 363a StPO (11 Os 132/06f, EvBl 2008/8, 32) - keine Rechtswegsausschöpfung verlangt (vgl zu den Zulässigkeitskriterien nach § 363a StPO 12 Os 71/08w, EvBl 2008/166, 858; 15 Os 22/08m; jüngst 12 Os 125/08m sowie die dort zitierten Judikatur des EGMR zu § 91 GOG als wirksamem Rechtsbehelf, zusätzlich das bereits erwähnte Donner -Urteil, Nr. 32.407/04, Rz 44).

Angesichts der einen festgestellten Gesetzesverletzung (vgl Ratz, WK-StPO § 292 Rz 26) sei bloß noch festgehalten, dass das weitere Vorbringen der Beschwerdeführerin zu Bewertung und Gewichtung einzelner Verfahrensabläufe (Einlassung des Angeklagten und Umfang des Beweisverfahrens, zeitliche Aspekte der Ladung von Zeugen durch Polizei und Gericht, Entscheidungsausfertigungsdauer) und deren Einfluss auf die Anwendung von § 34 Abs 2 StGB keinen rechtsfehlerhaften Ermessensgebrauch des Oberlandesgerichts (s S 4 des angefochtenen Urteils) aufzuzeigen vermag (vgl Ratz, WK-StPO § 292 Rz 6, 7; 11 Os 18/07t).

Da der vom Erneuerungswerber angestrebte Erfolg bereits durch die Entscheidung über den von der Generalprokuratur genützten Rechtsbehelf erzielt wurde, war auf den Antrag nach § 363a StPO meritorisch nicht einzugehen.

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