OGH 4Ob126/08w

OGH4Ob126/08w26.8.2008

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Zechner als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Schenk und die Hofräte Dr. Vogel, Dr. Jensik und Dr. Musger als weitere Richter in der Sachwalterschaftssache der am 22. August 1919 geborenen Leopoldine H*****, über den Revisionsrekurs des Verfahrenssachwalters und einstweiligen Sachwalters Dr. Michael A*****, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 21. April 2008, GZ 43 R 229/08g-17, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Leopoldstadt vom 29. Februar 2008, GZ 32 P 101/04h-10, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sachwalterschaftssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung

Die 1919 geborene Betroffene wohnt seit 17. 2. 2004 in einem Pflegeheim. Die Heimleitung teilte dem Erstgericht mit, die Betroffene könne sich um ihre finanziellen Belange nicht mehr selbst kümmern.

Das Erstgericht führte eine Erstanhörung durch und bestellte den Revisionsrekurswerber zum einstweiligen Sachwalter zwecks Vertretung der Betroffenen im Verfahren, in dem die Notwendigkeit der Bestellung eines Sachwalters geprüft wird. Zugleich wurde er zum einstweiligen Sachwalter zur Verwaltung von Einkünften, Vermögen und Verbindlichkeiten und zur Vertretung bei Bankgeschäften im Zusammenhang mit der Einkommens- und Vermögensverwaltung bestellt. Das Erstgericht führte aus, nach Aktenlage und Anhörung scheine die Betroffene nicht in der Lage, alle ihre Angelegenheiten ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst zu besorgen.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Trotz unterbliebener Anhörung des Rechtsmittelwerbers sei die erstgerichtliche Entscheidung zu bestätigen, weil seine Rekursargumente zu keiner anderen Entscheidung geführt hätten. Die ihm als einstweiligen Sachwalter nach §§ 119 und 120 AußStrG 2005 übertragenen Aufgaben hielten sich im Rahmen seiner üblichen Tätigkeit als Rechtsanwalt und seien daher normalen Bürgerpflichten im Sinn des Art 4 Abs 3 lit d EMRK vergleichbar. Ein Verstoß gegen die in § 279 ABGB festgelegten Prioritäten liege nicht vor. Die Kontaktaufnahme zur einzigen namentlich bekannten Angehörigen der Betroffenen - ihrer Nichte - sei nicht gelungen, andere geeignete nahestehende Personen seien nicht aktenkundig. Aus gleichgelagerten Fällen sei bekannt, dass der in Betracht kommende Verein derzeit keine Kapazität für die Übernahme von Sachwalterschaften habe, deren Übernahme ablehne und somit gleichfalls nicht in Betracht komme. Nach der Aktenlage sei auch eine andere geeignete Person im Sinn des § 279 Abs 3 ABGB nicht vorhanden, sodass nur die Bestellung einer rechtskundigen Person in Betracht komme. Als Anwalt sei der Rechtsmittelwerber überdies grundsätzlich zur Übernahme von Sachwalterschaften verpflichtet. Die im Rekurs geltend gemachten Gründe (Rechtsanwaltskanzlei, Sorgepflicht für drei Kinder und Ausübung der Funktion eines Vizepräsidenten der Rechtsanwaltskammer) reichten nicht aus, um die Unzumutbarkeit der (vorerst nur einstweiligen) Sachwalterschaft zu begründen.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zu den erst am 1. 7. 2007 in Kraft getretenen Bestimmungen fehle.

Der Revisionsrekurswerber macht geltend, der Bestellungsbeschluss verstoße gegen die in § 279 ABGB festgelegten Prioritäten. Das Erstgericht habe ihn ohne ausreichende Ermittlungen sofort zum Sachwalter bestellt. Das Rekursgericht sei aktenwidrig vom Fehlen anderer geeigneter Personen ausgegangen. Unter Berücksichtigung seiner ehrenamtlichen Funktion als (nunmehriger) Präsident der Rechtsanwaltskammer Wien sei ihm die Sachwalterschaft auch nicht zumutbar. Diese Tätigkeit sei gerichtsbekanntermaßen zeitintensiv, was auch für die zuvor ausgeübte Funktion eines Vizepräsidenten dieser Kammer zutreffe; auf diese Funktion habe er bereits in seinem Rekurs gegen den erstgerichtlichen Beschluss hingewiesen. Im Übrigen bestünden gegen die in § 274 Abs 2 ABGB geregelte grundsätzliche Verpflichtung eines Rechtsanwalts zur Übernahme von Sachwalterschaften verfassungsrechtliche Bedenken.

Die Betroffene hat sich am Revisionsrekursverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs des einstweiligen Sachwalters ist zulässig und im Sinn des darin enthaltenen Aufhebungsantrags auch berechtigt.

1. Der Oberste Gerichtshof hat die vom Revisionsrekurswerber aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen (Verstoß gegen das Verbot der Zwangs- und Pflichtarbeit, Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes) bereits wiederholt geprüft. Er hält die Rechtslage für verfassungskonform (3 Ob 19/08b mwN; mit eingehender Begründung 10 Ob 18/08g = RIS-Justiz RS0123296; zuletzt 7 Ob 105/08d).

2. Bei Auswahl des Sachwalters kommt dem Gericht - unter gleichzeitiger Bedachtnahme auf die Bedürfnisse des Betroffenen und dessen Wohl (§ 279 Abs 1 Satz 1 und Satz 2 ABGB) - zwar ein Ermessensspielraum zu (RIS-Justiz RS0048291 [T3]; Maurer, Das österreichische Sachwalterrecht in der Praxis, § 279 ABGB Rz 14), § 279 ABGB in der seit 1. 7. 2007 anzuwendenden Fassung benennt jedoch jene Personen, die - in der dort angeführten Reihenfolge - für eine Bestellung als Sachwalter potenziell in Frage kommen (Hopf in KBB² § 279 Rz 2). Dass der in dieser Bestimmung vorgesehene „Stufenbau" bei der Sachwalterbestellung einzuhalten ist, hat der Oberste Gerichtshof schon in seiner Entscheidung 10 Ob 18/08g aufgezeigt. Danach ist primär eine von der betroffenen Person selbst gewählte oder von einer nahestehenden Person empfohlene Person (§ 279 Abs 1 Satz 2 ABGB) heranzuziehen. Sekundär (mangels Wahl bzw Anregung oder bei fehlender Eignung der vorgeschlagenen Person) ist ein der betroffenen Person nahestehender Mensch zum Sachwalter zu bestellen (§ 279 Abs 2 ABGB). Ist eine solche geeignete Person nicht verfügbar, ist - mit dessen Zustimmung - der örtlich zuständige Sachwalterverein nach § 1 VSPAG zu bestellen (§ 279 Abs 3 Satz 1 ABGB). Ist ein Vereinssachwalter - etwa mangels freier Kapazitäten - nicht verfügbar, so ist ein Rechtsanwalt (Rechtsanwaltsanwärter) oder Notar (Notariatskandidat) oder - mit ihrer Zustimmung - eine andere geeignete Person zu bestellen (§ 279 Abs 3 Satz 2 ABGB; Maurer aaO Rz 17 und 18).

Rechtsanwälte und Notare trifft nach Maßgabe des § 274 Abs 2 ABGB die Verpflichtung, Sachwalterschaften zu übernehmen (Hopf aaO Rz 3).

Nur wenn die Besorgung der Angelegenheiten der betroffenen Person besondere Fachkenntnisse erfordert, ist von vornherein - je nach den notwendigen Kenntnissen - ein Rechtsanwalt oder Notar bzw ein Sachwalterverein zum Sachwalter zu bestellen (§ 279 Abs 4 ABGB). Zu derartigen Angelegenheiten zählen die Gesetzesmaterialien (RV 1420 BlgNR 22. GP 18) etwa rechtliche Angelegenheiten wie die Geltendmachung eines Anspruchs.

3. Die Entscheidungen der Vorinstanzen weichen von diesen Grundsätzen ab. Nach dem Akteninhalt erfordern die Bedürfnisse der hier betroffenen Partei und deren Wohl nicht von vornherein die Bestellung eines rechtskundigen Sachwalters. Schon 2004 hatte die Heimleitung die Bestellung eines Sachwalters mit der Begründung angeregt, die Betroffene sei nicht mehr imstande, Bank- bzw Behördenwege selbständig zu tätigen, die Verpflegungskosten seien ausständig. 2004 war das Verfahren zur Bestellung eines Sachwalters eingestellt worden, nachdem eine Nichte der Betroffenen - Name, Anschrift und Telefonnummer sind dem Gerichtsakt zu entnehmen - einen „Abschöpfungsauftrag" eingerichtet hatte. Anlass des nunmehr anhängigen Verfahrens war die Nichterledigung des Einziehungsauftrags für Februar 2008. Das Erstgericht hat vor Bestellung des Revisionsrekurswerbers zum Sachwalter zwar (vergeblich) versucht, jene namentlich und ihrer Anschrift nach bekannte Nichte telefonisch zu erreichen, eine schriftliche Kontaktaufnahme unterblieb aber ebenso wie eine Kontaktaufnahme mit einer weiteren, dem Gericht (und der Heimleitung) namentlich bekannten Nichte der Betroffenen. Auch eine Anfrage an den örtlich zuständigen Sachwalterverein unterblieb.

Der Revisionsrekurswerber hat eine Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens in seinem Rekurs gegen dessen Beschluss gerügt. Das Rekursgericht behandelte die Mängelrüge nur insoweit, als es eine Verletzung des rechtlichen Gehörs deshalb verneinte, weil der Rechtsmittelwerber sein Vorbringen im Rekurs nachholen konnte. Mit dem Vorwurf unterlassener schriftlicher Kontaktaufnahme mit der dem Gericht dem Namen und der Anschrift nach bekannten Nichte der Betroffenen beschäftigte es sich jedoch nicht. Unrichtig ist ferner die Annahme des Rekursgerichts, dass weitere der Betroffenen nahestehende Personen nicht „aktenkundig" seien, ist doch noch eine weitere, namentlich bekannte Nichte der Betroffenen im Amtsvermerk vom 29. 2. 2008 (ON 9) festgehalten. Dem Revisionsrekurswerber ist es daher nicht verwehrt, die von ihm im Rekurs gerügte Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz (neuerlich) geltend zu machen. Bereits dieser Verfahrensmangel muss zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen führen.

4. Bei Anwendung der Prioritätsregelung des § 279 iVm § 274 Abs 2 ABGB unterließen die Vorinstanzen auch Feststellungen zur beruflichen Belastung des Revisionsrekurswerbers, sodass sich eine Ergänzung des Verfahrens auch deshalb als erforderlich erweist.

Das Erstgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren (§ 13 AußStrG 2005) vor Bestellung eines Rechtsanwalts zum Sachwalter zunächst mit den beiden Nichten der Betroffenen in Kontakt treten und - sollten auch schriftliche Anfragen ergebnislos bleiben - an den örtlich zuständigen Sachwalterverein herantreten müssen. Der Hinweis des Rekursgerichts auf eine gerichtsbekannte Überlastung des Vereins greift einer Ablehnung vor und lässt die Möglichkeit unberücksichtigt, dass der Verein eine konkrete Sachwalterschaft trotz Überlastung übernehmen könnte, wenn - wie im vorliegenden Fall - nur eine Vertretung im Verfahren zur Bestellung des Sachwalters und bei Maßnahmen der Einkommens- und Vermögensverwaltung zu erfolgen hat. Sollte der Verein zur Übernahme der Sachwalterschaft nicht bereit sein, so wäre die Ablehnung durch den Verein selbst auszusprechen, sie darf vom Gericht nicht vorweggenommen werden (10 Ob 18/08g).

Erst dann, wenn weder die Nichten der Betroffenen noch der Verein als Sachwalter tätig werden können, könnte ein Rechtsanwalt (Rechtsanwaltsanwärter) oder ein Notar (Notariatskandidat) zum Sachwalter bestellt werden.

5. Sollte das Erstgericht im fortgesetzten Verfahren neuerlich die Bestellung des Revisionsrekurswerbers ins Auge fassen, so wird - wie bereits unter 4. erwähnt - § 274 Abs 2 ABGB zu beachten sein.

Der Revisionsrekurswerber hat als Gründe für die Unzumutbarkeit einer Sachwalterschaft durch ihn unter anderem die mit seiner Tätigkeit als Vizepräsident (und nunmehr Präsident) der Rechtsanwaltskammer Wien verbundene Belastung geltend gemacht. Das Erstgericht wird anhand geeigneter Feststellungen zu beurteilen haben, ob die geschilderte zusätzliche (berufliche) Belastung in Verbindung mit seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt und Familienvater insgesamt weit über jene Belastung hinausgeht, die im Allgemeinen mit dem Beruf eines Rechtsanwalts und Familienvaters verbunden ist.

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