Spruch:
Die Revision der beklagten Partei wird zurückgewiesen. Der Revision der klagenden Partei wird Folge gegeben. Das angefochtene Urteil wird dahingehend abgeändert, dass die Entscheidung insgesamt zu lauten hat wie folgt:
1. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei den Betrag von EUR 1.750 samt 4 % Zinsen seit 1. 12. 2004 binnen 14 Tagen zu bezahlen.
2. Es wird zwischen den Parteien festgestellt, dass die beklagte Partei der klagenden Partei für sämtliche zukünftigen unfallkausalen Schäden aus dem Vorfall vom 17. 1. 2003 im Stadtgebiet von V*****, bei welchem die Klägerin im Zuge des Schiebens ihres Rollstuhls durch Anita W***** aus dem Rollstuhl fiel und im Gesicht, insbesondere im Bereich der Zähne, verletzt wurde, haftet.
3. Das Mehrbegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei weitere EUR 1.800 samt 4 % Zinsen seit 1. 12. 2004 zu bezahlen, wird abgewiesen.
4. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit EUR 2.756,76 (darin EUR 329,12 USt) bestimmten Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens, die mit EUR 212 (Barauslagen) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens sowie die mit EUR 741.79 (darin EUR 175 Barauslagen und EUR 94.47 USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin begehrte EUR 3.500 Schmerzengeld, EUR 50 für pauschale Unkosten sowie die Feststellung der Haftung der beklagten Partei für weitere Schäden. Sie sei seit ihrer Geburt wegen einer spastischen Lähmung schwer behindert. Am 17. 1. 2003 sei sie von einer Mitarbeiterin der Beklagten im Rollstuhl sitzend auf einem Gehsteig geschoben worden. Dabei habe sich der Rollstuhl bei einer Eisklippe verhakt, wodurch sie kopfüber nach vorne gestürzt sei und sich erhebliche Verletzungen, insbesondere an ihren Zähnen, zugezogen habe. Die erlittenen Verletzungen würden das begehrte Schmerzengeld rechtfertigen. Durch die Abwicklung des Vorfalls seien ihr pauschale Unkosten von EUR 50 entstanden.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Dabei ging es im Wesentlichen von folgendem Sachverhalt aus:
Die Klägerin wurde auf dem Gehsteig, welcher eine Breite von 1,5 bis 2 m aufweist, geschoben. Der Gehweg weist keine Verunreinigungen, Schneematsch oder Eisverkrustungen auf. Während der Fahrt kam es plötzlich dazu, dass sich der Rollstuhl in einer einzelnen Eiskruste verhakte bzw die Klägerin nach vorne kippte. Die Klägerin wurde mit dem Gesicht auf den Gehsteig geschleudert, wodurch sie sich Verletzungen im Bereich der Lippe zuzog und ein Zahn ausgeschlagen wurde.
Spätfolgen seien nicht zu erwarten. Die fragliche Wurzelspitzenentzündung am Zahn 1 Freiraum 1 (zentraler rechter oberer Schneidezahn) wäre „bei Bestätigung" als direkte Unfallsfolge zu werten.
Die beklagte Partei treffe keinerlei Verschulden am Vorfall, sodass das Klagebegehren abzuweisen sei.
Das Berufungsgericht gab der Berufung teilweise Folge und sprach EUR
1.700 Schmerzengeld zu, bestätigte jedoch die Abweisung des Mehrbegehrens. Der Auffassung des Erstgerichtes, die beklagte Partei treffe kein Verschulden, sei nicht beizupflichten. Anita W*****, die den Rollstuhl schob, sei verpflichtet gewesen, die Klägerin fachmännisch zu betreuen. Die Ursache des Vorfalls liege jedenfalls in einem Fehlverhalten der Betreuerin, weil von dieser zu fordern sei, die erforderliche Sorgfalt an den Tag zu legen, dass die im Rollstuhl sitzende, schutzbedürftige Person wie die Klägerin weder mit dem Rollstuhl zu Sturz komme noch aus diesem falle. Nur dann, wenn dieser Sturz auf einen Zufall zurückzuführen wäre, zB auf ein unvorhersehbares Gebrechen am Rollstuhl, wäre die Betreuerin exkulpiert. Dies sei aber weder behauptet noch festgestellt worden. Da eine Feststellung über unfallkausale pauschale Unkosten nicht vorliege, seien solche nicht zuzusprechen. Im Übrigen sei ein Feststellungsmangel nicht gerügt worden.
Das Feststellungsbegehren sei abzuweisen, weil keine Spätfolgen zu erwarten seien.
Unter Bedachtnahme auf die festgestellten Schmerzen von acht Tagen leichten Schmerzen und drei Tagen mittleren Schmerzen sei ein Schmerzengeldbegehren von EUR 1.700 berechtigt.
Mit Beschluss vom 20. 12. 2006 erklärte das Berufungsgericht in Abänderung des ursprünglichen Zulässigkeitsausspruchs die ordentlichen Revisionen beider Parteien für zulässig. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichtes zum Verschulden der beklagten Partei einer verschuldensunabhängigen Garantiehaftung gleichkomme, welche nicht der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs entspreche. Die Abweisung des Feststellungsbegehrens stünde in Widerspruch zur Entscheidung 4 Ob 46/06b.
Zur Revision der beklagten Partei:
Rechtliche Beurteilung
Die Frage, welche Sorgfaltspflicht bei einem bestimmten Arbeitsvorgang einzuhalten ist, kann wegen ihrer Einzelfallbezogenheit nicht als erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO gewertet werden (3 Ob 222/04z; RIS-Justiz RS0026535 [T8]; RIS-Justiz RS0026541 [T4]). In der Auffassung des Berufungsgerichtes, ein Rollstuhlführer habe den Rollstuhl derart zu führen, dass der Insasse nicht herauskippe, ist eine im Interesse der Rechtssicherheit vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbeurteilung nicht zu erblicken. Dies gilt auch für die Schlussfolgerung des Berufungsgerichtes, wonach das Fehlen eines technischen Gebrechens oder einer anderen der beklagten Partei nicht zuzurechnenden Ursache einen Sorgfaltsverstoß der Rollstuhlführerin indiziere. Der nach § 1298 ABGB der beklagten Partei obliegende Entlastungsbeweis ist ihr somit nicht gelungen. Damit wirft die Revision der beklagten Partei aber keine Rechtsfragen der in § 502 Abs 1 ZPO geforderten Qualität auf, sodass die Revision spruchgemäß zurückzuweisen war.
Zur Revision der klagenden Partei:
Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht angeführten Grund
zulässig; sie ist auch berechtigt.
Zutreffend zeigt die Klägerin auf, dass die Verneinung eines Feststellungsinteresses durch das Berufungsgericht nicht mit der neueren Judikatur des Obersten Gerichtshofs in Einklang steht. Der Oberste Gerichtshof vertritt nunmehr in ständiger Rechtsprechung, dass der bloße Umstand, dass Spät- bzw Dauerfolgen „nicht zu erwarten" sind, zur Verneinung des Feststellungsinteresses im Sinne des § 228 ZPO nicht ausreicht (2 Ob 119/04w; 2 Ob 40/04b; 4 Ob 46/06b; 2 Ob 232/06s; 10 Ob 79/05y; 7 Ob 278/06t ua). Auf diese Entscheidungen, denen der erkennende Senat folgt, kann hier verwiesen werden.
Im vorliegenden Fall ging das Erstgericht bei seinen Feststellungen zwar in Anlehnung an das Sachverständigengutachten davon aus, dass Spätfolgen „nicht zu erwarten" seien; lediglich die fragliche Wurzelspitzenentzündung an einem Zahn wäre als direkte Unfallsfolge zu werten. Diese Ausführungen sind jedoch im Zusammenhalt mit dem Gutachten des Sachverständigen zu lesen, wonach der radiologische Befund für den Verdacht einer Wurzelspitzenentzündung spricht, bei der es sich um eine direkte Folge der Frontzahnverletzung handle. Außerdem wies der Sachverständige auf die zeitlich begrenzte Haltbarkeit von Zahnprothesen hin, sodass die Notwendigkeit einer Neuherstellung des Zahnersatzes in späteren Jahren „andenkbar" sei. Damit kann aber keine Rede davon sein, dass Spätfolgen im Sinne der zitierten Judikatur ausgeschlossen wären.
Zu Recht wendet sich die Klägerin auch gegen die Bestätigung der Abweisung des Begehrens auf Zahlung von EUR 50 aus dem Titel der pauschalierten Generalunkosten durch das Berufungsgericht. Die Klägerin hat hierzu vorgebracht, diese Unkosten seien ihr für Wege zum Arzt und zur Versicherung sowie im Zusammenhang mit unfallkausalen Telefonaten entstanden (AS 12 = S 4 in ON 5). Die beklagte Partei hat das diesbezügliche Vorbringen der Klägerin nicht konkret bestritten. Gegen die Angemessenheit des begehrten Betrages bestehen keine Bedenken, sodass der Klägerin in Abänderung der angefochtenen Entscheidung zusätzlich gemäß § 273 ZPO EUR 50 an pauschalierten Unkosten zuzusprechen waren.
Im Hinblick auf die Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen war auch die Kostenentscheidung neu zu fassen. Diese gründet sich auf §§ 43, 50 ZPO. Damit hat die Klägerin im Verfahren erster Instanz gemäß § 43 Abs 2 ZPO Anspruch auf Ersatz ihrer gesamten Verfahrenskosten auf Basis des ersiegten Betrages, sohin von EUR
1.750 bzw - ab der Klagsausdehnung um das Feststellungsbegehren - von EUR 2.750.
Im Berufungsverfahren kommt der Klägerin jedoch die Bestimmung des § 43 Abs 2 ZPO nicht mehr zugute, weil hier die ratio des § 43 Abs 2 ZPO, dem Kläger die mit der Bezifferung des Klagebegehrens verbundenen Schwierigkeiten abzunehmen (vgl dazu M. Bydlinski in Fasching/Konecny² § 43 ZPO Rz 18), nicht zum Tragen kommt. Vielmehr lagen zu diesem Zeitpunkt nicht nur das medizinische Sachverständigengutachten, sondern auch die - insoweit von der Klägerin gar nicht bekämpften - Feststellungen des Erstgerichtes zu Art, Dauer und Intensität der Schmerzen vor, sodass die Einschätzung der Höhe des Schmerzengeldbegehrens keine besonderen Schwierigkeiten mehr bereitete. Daher war insoweit nach § 43 Abs 1 ZPO (iVm § 50 ZPO) vorzugehen. Die Klägerin hat im Berufungsverfahren zu rund 50 % obsiegt, sodass mit Kostenaufhebung vorzugehen war. Hingegen hat die Klägerin gemäß § 43 Abs 1 letzter Satz ZPO Anspruch auf Ersatz der halben Pauschalgebühr.
Im Revisionsverfahren ist die Klägerin zur Gänze durchgedrungen und hat daher Anspruch auf Ersatz ihrer gesamten Kosten; die beklagte Partei hat die Kosten ihrer erfolglosen Revision sowie der Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.
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