OGH 10ObS75/06m

OGH10ObS75/06m27.6.2006

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Hon. Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Helmut Brandl (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und ADir. Reg.Rat Winfried Kmenta (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ernst P*****, vertreten durch Dr. Edeltraud Fichtenbauer, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Niederösterreichische Gebietskrankenkasse, Dr. Karl Renner-Promenade 14-16, 3100 St. Pölten, vertreten durch Dr. Vera Kremslehner und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Kostenerstattung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 16. Februar 2006, GZ 8 Rs 18/06k-17, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Korneuburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 9. November 2005, GZ 9 Cgs 121/05w-12, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Text

Begründung

Der Kläger ist bei der beklagten Gebietskrankenkasse krankenversichert, seine Gattin Hilda P***** ist mitversichert. Der Arzt für Allgemeinmedizin Dr. Gerald S***** verschrieb Hilde P***** am 21. 2. 2005 das Heilmittel „Thioctacid 600mg Filmtabletten", das Hilda P***** am 3. 5. 2005 bei der Apotheke „Zum heiligen L*****" in M***** um EUR 47,60 ankaufte. Bereits mit Bescheid vom 18. 3. 2005 hat die beklagte Partei den Antrag des Klägers auf Übernahme der Kosten für das Heilmittel abgelehnt.

Der Kläger begehrt von der beklagten Partei die Übernahme der Kosten für das Heilmittel in Höhe von EUR 47,60 und brachte vor, es bestehe eine zwingende Notwendigkeit für die Einnahme des Medikamentes durch Herta P*****, weil bereits vielfache Varianten der Behandlung vergeblich versucht worden seien und andere Medikamente keine Besserung gebracht hätten; es gebe kein auch nur ansatzweise gleichwertiges entsprechendes Medikament. Infusionen seien aufgrund der venösen Situation unmöglich.

Die beklagte Partei wandte ein, dass das Heilmittel nicht im Erstattungskodex enthalten sei. Es liege kein Hinweis dafür vor, dass bei Hilde P***** außer dem Heilmittel Thioctacid bereits andere, im Erstattungskodex enthaltene Schmerzmittel zum Einsatz gekommen seien und keinen Behandlungserfolg gebracht hätten.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Dabei ging es von folgendem Sachverhalt aus:

Neben Übergewicht durch übermäßige Kalorienzufuhr und Zuckerkrankheit leidet Hilda P***** an milder Polyneuropathie. Das von Hilda P***** eingenommene Heilmittel Thioctacid enthält den Wirkstoff A-Liponsäure, der für die Indikation „diabetische Neuropathien" zugelassen ist. Ein Wirkungsmechanismus ist nicht etabliert. Die bislang vorliegenden klinischen Studien über die Behandlung der diabetischen Neuropathie mit A-Liponsäure haben zum großen Teil große methodische Mängel und ergeben widersprüchliche Resultate. Die größte und methodisch akzeptable Studie konnte keine positive Wirkung der Substanz belegen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist eine Therapie mit A-Liponsäure unzureichend belegt.

Thioctacid ist im Erstattungskodex nicht angeführt. Als ein im Erstattungskodex angeführtes Arzneimittel zur Behandlung von neuropathischen Schmerzen ist Neurothin zu nennen, das bei Hilda P***** auch mit Erfolg angewendet wurde.

In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Erstgericht aus, dass das (zwischenzeitig durch den Erstattungskodex abgelöste) Heilmittelverzeichnis das Recht des Patienten auf die für die ausreichende und zweckmäßige Krankenbehandlung notwendigen Heilmittel nicht eingeschränkt habe. Demgegenüber sei nunmehr die Aufnahme eines Heilmittels in den Erstattungskodex zwingende Voraussetzung für die Aufnahme in den Leistungskatalog der Krankenbehandlung. Nach dem Wortlaut des Gesetzes schränke nämlich § 31 Abs 3 Z 12 ASVG den Sachleistungsanspruch auf Krankenbehandlung ein, soweit nicht die Ausnahmebestimmung anzuwenden sei, wonach in begründeten Einzelfällen die Erstattungsfähigkeit - trotz Nichtaufnahme des Heilmittels in den Erstattungskodex - auch dann gegeben sei, wenn die Behandlung aus zwingenden therapeutischen Gründen notwendig sei und damit die Verschreibung in diesen Einzelfällen nicht mit Arzneispezialitäten aus dem Erstattungskodex durchgeführt werden könne. Nach den Feststellungen sei auch ein im Erstattungskodex genanntes Heilmittel (Neurothin) mit Erfolg angewendet worden. Da die bei Hilda P***** angewandte Therapie wissenschaftlich unzureichend begründet sei, könne das Heilmittel „Thioctacid" nicht auf Rechnung der beklagten Partei bezogen werden, weshalb sowohl ein Sachleistungsanspruch als auch ein darauf aufbauender Kostenersatzanspruch nicht bestehe. Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es verneinte eine Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens, übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen als Ergebnis einer nachvollziehbaren Beweiswürdigung und sah die Rechtsrüge als unbegründet an. Das Berufungsvorbringen, die Behandlung mit dem Medikament Thioctacid sei bei Herta P***** zwingend notwendig, entferne sich vom festgestellten Sachverhalt. Nach diesem sei die gleiche Wirkung durch die Einnahme von Neurothin erreichbar. Die ordentliche Revision sei zulässig, da zum Erstattungskodex keine höchstgerichtliche Judikatur existiere.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der klagenden Partei aus den Revisionsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im klagsstattgebenden Sinn. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht zulässig.

Vorweg ist darauf hinzuweisen, dass der Oberste Gerichtshof zwischenzeitig in den Entscheidungen 10 ObS 12/06x und 10 ObS 22/06t zum Ausdruck gebracht hat, dass auch der Erstattungskodex - so wie früher das Heilmittelverzeichnis - den Anspruch des Versicherten auf die für eine ausreichende und zweckmäßige Krankenbehandlungen notwendigen Heilmittel nicht einschränkt; § 133 Abs 2 ASVG wurde im Zusammenhang mit der Einführung des Erstattungskodex durch das 2. SVÄG 2003 (61. ASVG-Novelle, BGBl I 2003/145) nicht geändert (vgl Näglein/Semrad, Entstehung, Aufbau- und Auswirkung des Erstattungskodex, SozSi 2006, 200).

Im Vordergrund der Revision stehen Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens. Mängel dieser Art, die vom Berufungsgericht ausdrücklich verneint wurden, können nach ständiger Rechtsprechung auch in Sozialrechtssachen im Revisionsverfahren nicht mehr mit Erfolg geltend gemacht werden (10 ObS 134/93 = SSV-NF 7/74 uva). Die Nichteinholung eines pharmakologischen Gutachtens, die behauptete Unzulänglichkeit des Gutachtens eines Sachverständigen für Neurologie und Psychiatrie, die Nichtvernehmung von zwei behandelnden Ärzten und die behauptete Verletzung der richterlichen Anleitungspflicht waren bereits Gegenstand der Mängelrüge der Berufung. Das Berufungsgericht hat sich mit diesen Ausführungen auseinandergesetzt und ist zum Ergebnis gelangt, dass Verfahrensmängel nicht vorliegen. Im Sinne der ständigen Judikatur können daher die angesprochenen Mängel des Verfahrens erster Instanz im Revisionsverfahren nicht mehr aufgegriffen werden.

Soweit die Rechtsrüge gesetzeskonform ausgeführt wurde (überwiegend entfernt sie sich von den im Revisionsverfahren unbekämpfbaren Feststellungen der Tatsacheninstanzen), ist einerseits auf die bereits angeführten höchstgerichtlichen Entscheidungen 10 ObS 12/06x und 10 ObS 22/06t zu verweisen, andererseits auf die Feststellungen, dass eine positive Wirkung der A-Liponsäure bei der Behandlung der diabetischen Neuropathie unzureichend belegt ist und bei der Gattin des Klägers zur Behandlung von neuropathischen Schmerzen erfolgreich das (im Erstattungskodex enthaltene) Heilmittel Neurothin angewendet wurde. Auf Basis dieser Feststellungen wurde der Erstattungsanspruch im Sinne der bisherigen höchstgerichtlichen Judikatur verneint (siehe etwa 10 ObS 52/96 = SZ 69/80 [Ukrain]; RIS-Justiz RS0102470). Da eine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht vorliegt, ist die ordentliche Revision des Klägers zurückzuweisen.

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