OGH 2Ob259/04h

OGH2Ob259/04h2.3.2006

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Baumann als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Tittel, Hon. Prof. Dr. Danzl, Dr. Veith und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofes Dr. Grohmann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei A* GmbH, *, vertreten durch Dr. Martin Holzer, Rechtsanwalt in Bruck an der Mur, gegen die beklagte Partei W* Aktiengesellschaft, *, vertreten durch Dr. Michael Augustin und Mag. Peter Haslinger, Rechtsanwälte in Leoben, wegen EUR 46.300,‑- sA, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht vom 23. September 2004, GZ 3 R 122/04t‑46, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Leoben vom 19. April 2004, GZ 7 Cg 234/02v‑40, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2006:E79939

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Der Revision der klagenden Partei wird Folge gegeben und das Urteil des Erstgerichtes wiederhergestellt.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit EUR 2.971,08 (darin enthalten EUR 495,18 USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens sowie die mit EUR 2.250,44 (darin enthalten EUR 198,44 USt und EUR 1.061,‑- Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

 

Am 17. 7. 2001 ereignete sich gegen 22.00 Uhr auf der Bundesstraße B 113 im Gemeindegebiet von St. Michael ein Verkehrsunfall, an dem ein von Erwin F* gelenkter PKW Audi Kombi Quattro RS 4 und ein von Darko G* gelenkter und bei der beklagten Partei haftpflichtversicherter PKW Audi A 6 beteiligt waren.

Die Klägerin begehrt von der Beklagten zuletzt die Zahlung von EUR 46.300 sA. Der Lenker des bei der beklagten Partei versicherten Fahrzeuges sei aus seinem Alleinverschulden auf das Klagsfahrzeug aufgefahren. Erwin F* habe bei Annäherung an einen Kreisverkehr bremsen müssen, weil ein Radfahrer entgegen der zulässigen Fahrtrichtung einen Radfahrerübergang habe überqueren wollen.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Die unfallsbeteiligten Lenker hätten den Verkehrsunfall in Schädigungsabsicht der beteiligten Versicherungen herbeigeführt. Es habe keinen Anlass für ein abruptes Bremsmanöver gegeben, weil kein Radfahrer die Fahrbahn gequert habe. Den Lenker des Klagsfahrzeuges treffe ein Mitverschulden, weil er für den nachfolgenden Lenker des bei der beklagten Partei haftpflichtversicherten Fahrzeuges abrupt und unerwartet abgebremst habe. Das Fahrzeug der klagenden Partei habe sich mit überhöhter Geschwindigkeit der Radfahrerüberfahrt genähert.

Das Erstgericht sprach im ersten Rechtsgang der Klägerin EUR 46.300,‑- sA zu und wies das weitere Klagebegehren (unbekämpft) ab. Dieses Urteil wurde mit Beschluss des Berufungsgerichtes aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Im zweiten Rechtsgang sprach das Erstgericht der Klägerin neuerlich EUR 46.300,‑- sA zu.

Es ging dabei von nachstehenden wesentlichen Feststellungen aus:

Die Unfallstelle befindet sich auf der Bundesstraße 113 im Kreuzungsbereich mit der Bundesstraße 116 im Ortsgebiet von St. Michael, wobei der Kreuzungsbereich als Kreisverkehr ausgebildet ist. Der Einmündungsbereich der Bundesstraße 113 ist durch Verkehrsinseln in zwei Fahrstreifen geteilt. Im Bereich der Bundesstraße 113 ist eine Radfahrerüberfahrt markiert. Für die Einfahrt aus der Bundesstraße 113 in den Kreisverkehr ist das Straßenverkehrszeichen „Vorrang geben" aufgestellt. Weiters befindet sich dort ein Hinweiszeichen für die Radfahrerüberfahrt und ein Hinweiszeichen für den Fußgängerübergang.

Der Geschäftsführer der klagenden Partei fuhr auf der B 113 in Richtung Kreisverkehr und beschleunigte das Fahrzeug auf ca 60 km/h; der Lenker des bei der beklagten Partei versicherten Fahrzeuges versuchte aufzuholen. In der Folge näherte sich der Geschäftsführer der klagenden Partei mit einer Geschwindigkeit von rund 50 km/h dem Kreisverkehr. Als er sich unmittelbar vor der nördlich des Kreisverkehrs befindlichen Radfahrerüberfahrt befand, nahm er westlich von ihm einen Radfahrer wahr. Da er den Eindruck hatte, dass dieser Radfahrer die Radfahrerüberfahrt Richtung Ost überqueren wollte, leitete er eine Notbremsung ein und konnte sein Fahrzeug mit dessen Front auf Höhe der südlichen Begrenzung des Radfahrerüberganges zum Stillstand bringen. Der hinter Erwin F* fahrende Darko G* regierte verspätet auf das Aufleuchten der Bremslichter am Fahrzeug der klagenden Partei und fuhr mit seinem PKW Audi A 6 auf das Fahrzeug auf. Die Anstoßgeschwindigkeit des PKW Audi A 6 betrug etwa 50 km/h und beschleunigte das im Stillstand befindliche Fahrzeug der Klägerin auf eine Geschwindigkeit von etwa 30 km/h. Darko G* prallte infolge des Auffahrens mit seinem Kopf auf die Windschutzscheibe, die einen Berstungsbruch erlitt.

Die Höhe der notwendigen Reparaturkosten, Garagierungskosten und der eingetretenen Wertminderung wurde außer Streit gestellt.

Es konnte nicht festgestellt werden, dass es zwischen den am Unfall beteiligten Lenker eine Absprache dahingehend gegeben habe, dass der vorliegende Unfall „gestellt" werde.

Rechtlich erörterte das Erstgericht, den Lenker des bei der beklagten Partei haftpflichtversicherten Fahrzeuges treffe das Alleinverschulden am vorliegenden Unfall, weil er verspätet auf die Notbremsung des vor ihm fahrenden Fahrzeuges reagiert habe.

Das von der beklagten Partei angerufene Berufungsgericht gab deren Berufung teilweise Folge und verpflichtete die beklagte Partei zur Zahlung von EUR 23.150,‑- sA. Das Mehrbegehren von EUR 23.150,‑- sA wies es ab. Es sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Das Berufungsgericht übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes. Diesen Sachverhalt beurteilte es rechtlich dahingehend, dass auch den Lenker des Klagsfahrzeuges ein Verschulden am Zustandekommen des Unfalles treffe, weil er eine überhöhte Geschwindigkeit (50 km/h) bei Annäherung an den Radfahrerübergang eingehalten und somit gegen die Bestimmung des § 9 Abs 2 StVO verstoßen habe. Den Lenker des bei der beklagten Partei haftpflichtversicherten Fahrzeuges treffe ein Verschulden, weil er verspätet reagiert habe.

Die ordentliche Revision sei mangels der im § 502 Abs 1 ZPO normierten Voraussetzungen unzulässig.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der klagenden Partei mit dem Antrag sie dahingehend abzuändern, dass dem Klagebegehren zur Gänze stattgegeben werde. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung das Rechtsmittel der Gegenseite zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht die Rechtslage verkannt hat; sie ist auch berechtigt.

Nach § 9 Abs 2 StVO hat der Lenker eines Fahrzeuges, das kein Schienenfahrzeug ist, einem Fußgänger oder Rollschuhfahrer, der sich auf einem Schutzweg befindet oder diesen erkennbar benützen will, das unbehinderte und ungefährdete Überqueren der Fahrbahn zu ermöglichen. Zu diesem Zweck darf sich der Lenker eines solchen Fahrzeuges einem Schutzweg bzw einer Radfahrerüberfahrt nur mit einer solchen Geschwindigkeit nähern, dass er das Fahrzeug vor dem Schutzweg bzw der Radfahrerüberfahrt anhalten kann und er hat, falls erforderlich, davor anzuhalten. Diese Bestimmung normiert demnach Pflichten für das Verhalten von Fahrzeuglenkern an ungeregelten Schutzwegen/Radfahrerüberfahrten, wobei die Pflichten des zweiten Satzes (Annäherungsgeschwindigkeit, Anhaltepflicht) der Durchsetzung der Grundpflicht dienen, nämlich Fußgängern/Radfahrern das unbehinderte und gefahrlose Überqueren von Schutzwegen/Radfahrerüberfahrten zu ermöglichen (Dittrich/Stolzlechner, Österreichisches Straßenverkehrsrecht § 9 StVO Rz 27, 29, 45 f). Der Schutzzweck dieser Norm liegt daher im Schutz von Fußgängern und Radfahrern, die einen entsprechend gekennzeichneten Übergang überqueren (RIS‑Justiz RS0073436).

Hingegen hatte der Lenker des bei der beklagten Partei versicherten Fahrzeuges die Bestimmung des § 18 StVO zu befolgen und einen solchen Abstand vom nächsten vor ihm fahrenden Fahrzeug einzuhalten, dass ihm jederzeit das rechtzeitige Anhalten möglich ist, auch wenn das vordere Fahrzeug plötzlich abgebremst wird. Wenn nämlich ein Fahrzeug von hinten auf ein anderes auffährt, so hat dies in der Regel der Lenker des Fahrzeuges zu verantworten, das aufgefahren ist. Lediglich dann, wenn das vordere Fahrzeug stark und ohne zwingenden Grund abgebremst wurde, ohne dass dies für die Lenker nachfahrender Fahrzeuge den Umständen nach vorherzusehen war, ist ein Verschulden des Lenkers des vorderen Fahrzeuges in Erwägung zu ziehen. Mit einem starken Abbremsen muss aber der Lenker eines nachfahrenden Fahrzeuges vor allem vor geregelten Kreuzungen, in Ortsgebieten, auf kurvenreichen und unübersichtlichen Straßenstellen rechnen (vgl die Gesetzesmaterialien bei Grundtner, Österreichische Straßenverkehrsordnung § 18 StVO; RIS‑Justiz RS0074244). Da sich der Lenker des bei der beklagten Partei versicherten Fahrzeuges hinter dem Fahrzeug der Klägerin einer Kreuzung im Ortsgebiet näherte, hätte er mit einem plötzlichen Abbremsen des vor ihm fahrenden Fahrzeuges rechnen müssen.

Selbst wenn man den Rechtswidrigkeitszusammenhang bejahen wollte, fällt ein allfälliger Verstoß gegen § 9 Abs 2 StVO gegenüber dem Verhalten des Lenkers des auffahrenden Fahrzeuges nicht ins Gewicht und ist bei einer Verschuldenszuweisung zu vernachlässigen.

Es war daher das Urteil des Erstgerichtes wiederherzustellen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

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