OGH 10ObS112/05a

OGH10ObS112/05a22.12.2005

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Hon. Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Prof. Mag. Dr. Günther Schön (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Herbert Böhm (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Renate H*****, Pensionistin, *****, vertreten durch Dr. Hubert Just, Rechtsanwalt in Kirchdorf an der Krems, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Adalbert Stifter-Straße 65, 1200 Wien, vertreten durch Dr. Vera Kremslehner und andere, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 13. Juli 2005, GZ 11 Rs 42/05h-14, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Steyr als Arbeits- und Sozialgericht vom 19. November 2004, GZ 24 Cgs 222/04z-10, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Urteil des Berufungsgerichtes wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichtes wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin erlitt am 31. 1. 2003 bei einem Sturz im Gebäude S***** Nr 15 schwere Verletzungen. In diesem Gebäude sind im Erdgeschoss die Geschäftsräumlichkeiten des Installationsbetriebes ihres Gatten, der Firma H***** & Co, in dem die Klägerin beschäftigt war, untergebracht. Das erste und das zweite Obergeschoss werden ausschließlich privat genutzt: Im 1. Stock befinden sich die Wohnräume der Kinder und im 2. Stock die Wohnräume der Klägerin und ihres Gatten. Zu den Wohnungen gibt es keinen gesonderten Eingang, man muss durch die Geschäftsräumlichkeiten gehen, wenn man zu den Wohnungen gelangen will. Die beiden Wohnungen sind jeweils mit einer Zimmertüre vom Treppenaufgang getrennt.

Am 31. 1. 2003 arbeitete die Klägerin nachmittags im Geschäft, das von 14.30 Uhr bis 18.00 Uhr geöffnet war. Gegen 16.30 Uhr musste sie das WC aufsuchen. Da das WC im Parterre (für die Beschäftigten und die Kunden) gerade besetzt war, begab sie sich in ihre Wohnung in den 2. Stock und verrichtete am dortigen WC ihre Notdurft. Noch bevor sie diese beendet hatte, rief bereits ihr Gatte über die Sprechanlage nach oben und teilte ihr mit, dass Kundschaft im Geschäft sei. Die Klägerin hat sich daraufhin beeilt, um schnell wieder in die Verkaufsräumlichkeiten zur Kundenbetreuung zu gelangen. Auf dem Weg von der Wohnung zurück in die Verkaufsräumlichkeiten rutschte sie bei der Stiege vom 2. in den 1. Stock aus und stürzte die Treppe hinunter. Dabei erlitt sie folgende Verletzungen: Bruch des 12. Brustwirbels, Kopfprellung mit Hautabschürfung an der Stirne links, Prellung der Lendenwirbelsäule, Brustkorbprellung, Beckenprellung sowie Schulterprellung links mit Hautabschürfung. Die Verletzungen sind abgeheilt; unfallkausal bestehen noch eine gewisse Buckelbildung im Bereich der Verletzungsstelle sowie endlagige Bewegungseinschränkungen der Brust- und der Lendenwirbelsäule. Die subjektiven Beschwerden sind auch durch die Osteoporose verstärkt.

Die Minderung der Erwerbsfähigkeit aufgrund des Unfallereignisses vom 31. 1. 2003 beträgt vom 1. 2. 2003 bis 31. 10. 2003 20 vH und ab 1. 11. 2003 10 vH. Nach dem Ereignis vom 31. 1. 2003 war die Klägerin bis 21. 5. 2003 im Krankenstand. Für die Zeit vom 31. 1. bis 30. 3. 2003 hatte sie Anspruch auf Entgeltfortzahlung und bezog vom 31. 3. bis 10. 5. 2003 ein tägliches Krankengeld von EUR 30,18 und vom 11. 5. bis 21. 5. 2003 ein tägliches Krankengeld von EUR 60,35.

Mit Bescheid vom 6. 7. 2004 sprach die beklagte Allgemeine Unfallversicherungsanstalt aus, dass der Unfall der Klägerin vom 31. 1. 2003 nicht als Arbeitsunfall gemäß § 175 ASVG anerkannt wird und ein Anspruch auf Leistungen gemäß § 173 ASVG nicht bestehe. Der Unfall habe sich im Wohnbereich ereignet und sei daher ausschließlich der privaten bzw eigenwirtschaftlichen Interessens- und Risikosphäre zuzuordnen.

Das Erstgericht wies die dagegen erhobene Klage ab. Der Versicherungsschutz für Unfälle, die sich auf einem mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung zusammenhängenden Weg zur oder von der Arbeitsstätte ereignen, beginne bzw ende an der Außenfront des Wohnhauses, also in der Regel an dem ins Freie führenden Haustor oder Garagentor. Die innerhalb des Wohnhauses zurückgelegten Wege des Versicherten seien schon nach dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht als Weg "zur oder von der Arbeitsstätte" anzusehen. Der Versicherte sei innerhalb des Wohnhauses auch nicht den für einen Arbeitsweg typischen Gefahren ausgesetzt, gegen die er in der Unfallversicherung geschützt werden solle, sondern es gingen die Gefahren auf die Umstände des Privatbereichs zurück. Diese Grundsätze, die für Unfälle auf einem Weg zu einer außerhalb des Wohnhauses gelegenen Arbeitsstätte entwickelt worden seien, könnten aber auf den Weg der Klägerin deshalb nicht unmittelbar angewendet werden, weil sich die Arbeitsstätte und der Wohnbereich im selben Gebäude befänden. In diesem Fall beginne der Schutz der Unfallversicherung grundsätzlich erst an der Tür der Arbeitsstätte und komme dem auf dem Weg zur Arbeitsstätte oder von der Arbeitsstätte auf der Treppe Verunglückten nicht zu. Befänden sich in einem Haus neben den nur dem betrieblichen Bereich und den nur dem persönlichen Bereich zuzuzählenden Räumen auch gemischt genutzte Räume, so beginne der Versicherungsschutz, wenn der rein persönliche Bereich verlassen werde und ein wesentlich betrieblichen Zwecken dienender Teil des Gebäudes betreten werde. Unfälle auf der Treppe eines Hauses, in dem sich zugleich Wohnung und Betriebsstätte befänden, würden daher nur dann in den Schutzbereich der Unfallversicherung fallen, wenn die Treppe in rechtlich wesentlichem Umfang für betriebliche Zwecke benutzt worden sei. Aufgrund des festgestellten Sachverhalts seien die Wohnräume im 1. und 2. Obergeschoss und die diese verbindende Treppe ausschließlich der privaten Sphäre zuzuordnen, weshalb die Unfallstelle nicht unter Unfallversicherungsschutz stehe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin teilweise Folge und sprach aus, dass der Anspruch der Klägerin auf Versehrtenrente im Ausmaß von 20 vH der Vollrente für die Zeit vom 22. 5. 2003 bis zum 31. 10. 2003 dem Grunde nach zu Recht bestehe. Die beklagte Partei wurde verpflichtet, bis zur Erlassung des die Höhe der Versehrtenrente festsetzenden Bescheides eine vorläufige Zahlung von monatlich EUR 250,-- für die Zeit vom 22. 5. 2003 bis 31. 10. 2003 zu leisten.

Das Berufungsgericht sah den Unfall der Klägerin als Arbeitsunfall nach § 175 Abs 2 Z 7 ASVG (Unfälle, die sich auf einem Weg von der Arbeits- oder Ausbildungsstätte ereignen, den der Versicherte zurücklegt, um während der Arbeitszeit, einschließlich der in der Arbeitszeit liegenden gesetzlichen sowie kollektivvertraglichen oder betrieblich vereinbarten Arbeitspausen, in der Nähe der Arbeits- oder Ausbildungsstätte oder in seiner Wohnung lebenswichtige persönliche Bedürfnisse zu befriedigen, anschließend auf dem Weg zurück zur Arbeits- oder Ausbildungsstätte sowie bei dieser Befriedigung der lebensnotwendigen Bedürfnisse, sofern sie in der Nähe der Arbeits- oder Ausbildungsstätte, jedoch außerhalb der Wohnung des Versicherten erfolgt). Ausgeschlossen vom Unfallversicherungsschutz nach dieser Gesetzesstelle seien nur Unfälle bei der Befriedigung lebensnotwendiger Bedürfnisse im eigenen häuslichen Bereich, weil dies den immanenten Grenzen einer berufs- bzw. betriebsbezogenen Unfallversicherung widersprechen würde. Aus den Worten "lebenswichtig" und "lebensnotwendig" im Sinne dieser Gesetzesstelle sowie aus der Beschränkung auf die Nähe zur Arbeits- und Ausbildungsstelle, sei zu schließen, dass darunter nur solche Bedürfnisse zu verstehen seien, deren Befriedigung keinen größeren Aufschub dulde. Im Vordergrund stünden dabei die Einnahme von Mahlzeiten, die Verrichtung der Notdurft und dergleichen. Der Unfall, den die Klägerin am 31. 1. 2003 im Zusammenhang mit der Verrichtung der Notdurft in ihrer Wohnung auf dem Stiegenabgang von der Wohnung zur Betriebsstätte erlitten habe, erfülle sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen des § 175 Abs 2 Z 7 ASVG. Es würde einen Wertungswiderspruch bedeuten, wenn ein solcher Unfall nur deshalb kein Arbeitsunfall wäre, weil die Klägerin zum Verrichten der Notdurft ihre im selben Haus gelegene Wohnung aufsuchte, wohingegen der Unfallversicherungsschutz nach dieser Gesetzesstelle gegeben wäre, wenn sie etwa zur Verrichtung ihrer Notdurft die Toilette eines im Nebenhaus gelegenen Kaffeehauses aufgesucht hätte. Dafür, dass § 175 Abs 2 Z 7 ASVG dann nicht gelten sollte, wenn Betriebsstätte und Wohnung des Versicherten - durchaus voneinander abgegrenzt - im selben Haus gelegen seien, gebe es keinen sachlich gerechtfertigten Grund.

Die ordentliche Revision sei gemäß § 502 Abs 1 ZPO zulässig, weil zur Frage, ob ein Wegunfall iSd § 175 Abs 2 Z 7 ASVG auch dann vorliegen könne, wenn der Wohnort des Versicherten und die Betriebsstätte im selben Haus lägen, noch keine höchstgerichtliche Judikatur vorliege.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der beklagten Parteien aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Wiederherstellung des Ersturteils. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die klagende Partei beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus den vom Berufungsgericht genannten Gründen zulässig; und auch berechtigt.

Der mit der 32. ASVG-Novelle (BGBl 1976/704) eingeführte und ursprünglich auf den Weg zur Einnahme der Mittagsmahlzeit eingeschränkte § 175 Abs 2 Z 7 ASVG wurde mit der 34. Novelle (BGBl 1979/530) erweitert. Nach den Materialien (RV 92 BlgNR. 15. GP. 17) stellt die Novellierung eine Reaktion auf eine Entscheidung des OLG Wien, des seinerzeitigen Höchstgerichtes in Leistungsstreitsachen, dar, wonach die Einnahme des Mittagessens nicht unter Unfallversicherungsschutz steht (OLG Wien 35 R 29/79). Gleichzeitig wurde der Unfallversicherungsschutz allgemein auf den Weg zur und von der Befriedigung „lebenswichtiger" persönlicher Bedürfnisse sowie auf die Befriedigung „lebensnotwendiger" Bedürfnisse selbst ausgedehnt, letztere allerdings nur im Bereich außerhalb der Wohnung des Versicherten. Auch wenn sich weder im Gesetzestext noch in den Materialien Hinweise darauf finden, was im Einzelnen unter der Befriedigung persönlicher Bedürfnisse zu verstehen ist, unterliegt es keinem Zweifel, dass die Verrichtung der Notdurft ebenso wie die in § 175 Abs 2 Z 7 ASVG idF vor der 34. ASVG-Novelle genannte Einnahme der Mittagsmahlzeit darunter fällt.

Nach dem Wortlaut bezieht sich der letzte Halbsatz der Bestimmung ("soferne sie in der Nähe der Arbeits- oder Ausbildungsstätte, jedoch außerhalb der Wohnung des Versicherten erfolgt") eindeutig auf die zuvor genannte "Befriedigung der lebensnotwendigen Bedürfnisse", die überdies "in der in der Nähe der Arbeits- oder Ausbildungsstätte" erfolgen muss. Die örtliche Nähe spielt auch eine Rolle für den Unfallversicherungsschutz auf dem Weg ("um während der Arbeitszeit ... in der Nähe der Arbeits- oder Ausbildungsstätte oder in seiner Wohnung lebenswichtige persönliche Bedürfnisse zu befriedigen"). Demnach wird danach differenziert, dass der in die Wohnung zwecks Bedürfnisbefriedigung zurückgelegte Weg unter Unfallversicherungsschutz steht (ebenso der Weg zurück zur Arbeitsstätte), nicht aber die „Befriedigung der lebensnotwendigen Bedürfnisse" selbst, soferne sie in der Wohnung des Versicherten erfolgt. Zutreffend hat das Berufungsgericht bereits darauf hingewiesen, dass ein Unfallversicherungsschutz bei der in der Wohnung vorgenommenen Bedürfnisbefriedigung den immanenten Grenzen einer berufs- bzw. betriebsbezogenen Unfallversicherung widersprechen würde (wie es auch die Gesetzesmaterialien zum Ausdruck bringen: 92 BlgNR. 15. GP. 17).

Daraus ergibt sich bereits eine zeitliche Einschränkung des Unfallversicherungsschutzes, sodass die Frage zu beantworten ist, wann die Unterbrechung des Schutzes beginnt und wann sie endet. Dabei ist zu bedenken, dass § 175 Abs 2 ASVG in den Z 1 - 10 im Einzelnen aufgezählte Wege schützt, die in einem Zusammenhang mit der versicherten Beschäftigung stehen. Der Oberste Gerichtshof hat bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass die innerhalb eines Wohnhauses, in dem sich Wohnung und betrieblich genützte Räume befinden, zurückgelegten Wege des Versicherten nicht als Wege zur bzw von der Arbeitsstätte iSd § 175 Abs 2 Z 1 ASVG anzusehen sind. Innerhalb des Wohnraumes ist der Versicherte nicht den für einen Arbeitsweg typischen Gefahren ausgesetzt, gegen die er in der Unfallversicherung geschützt werden soll. Vielmehr gehen die Gefahren auf die Umstände des Privatbereichs zurück, die dem Versicherungsschutz im Allgemeinen nicht unterliegen (10 ObS 275/01s = SSV-NF 15/115 mwN). In der zuletzt genannten Entscheidung wurde auch schon ausgesprochen, dass im Fall des § 175 Abs 2 Z 7 ASVG ein Unfallversicherungsschutz nicht in Betracht kommt, wenn sich der Unfall in der Wohnung der versicherten Person ereignet. Der Unfallversicherungsschutz setzt erst dann ein, wenn ein wesentlich betrieblichen Zwecken dienender Teil des Gebäudes betreten wird (10 ObS 359/01v = SSV-NF 15/132), was an der Stelle, an der die Klägerin verunglückte, noch nicht der Fall war. Auch dann, wenn die Klägerin beispielweise das Geschäftshaus verlassen hätte, um zur Befriedigung eines lebenswichtigen persönlichen Bedürfnisses das benachbarte Wohnhaus aufzusuchen, wäre der dabei zurückzulegende Weg nur bis zur Hauseingangstür des Wohnhauses geschützt gewesen (10 ObS 76/01a = SSV-NF 15/42), nicht aber beispielsweise der Weg über eine Treppe im Inneren des Hauses. Dieser Aspekt hat - entgegen der Ansicht des Berufungsgerichtes - nicht nur im Anwendungsbereich des § 175 Abs 2 Z 1 ASVG, sondern auch des § 175 Abs 2 Z 7 ASVG Gültigkeit, worauf im Übrigen auch die Einschränkung des Versicherungsschutzes am Ende dieser Bestimmung hinweist. Da auch keine Hinweise auf einen Schutz auf der Grundlage des § 175 Abs 1 ASVG vorliegen, stand der Unfall der Klägerin somit nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.

Der Revision ist daher im Sinne einer Wiederherstellung des klagsabweisenden Ersturteils Folge zu geben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte