OGH 1Ob171/05m

OGH1Ob171/05m13.12.2005

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Gerstenecker als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Zechner, Univ. Doz. Dr. Bydlinski, Dr. Fichtenau und Dr. Glawischnig als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Una Nastasja N*****, über den Revisionsrekurs des Vaters Wolfgang M*****, zuletzt wohnhaft in *****, Frankreich, vertreten durch den Prozesskurator Mag. Christian Schweinzer, Rechtsanwalt in St. Pölten, gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom 25. Mai 2005, GZ 23 R 158/05s, 23 R 159/05p-U12, womit die Beschlüsse des Bezirksgerichts St. Pölten vom 2. Dezember 2004, GZ 4 P 94/98k-21, und vom 23. Februar 2005, GZ 4 P 94/98k-U3, bestätigt wurden, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Die Minderjährige sowie ihre Mutter sind serbisch-montenegrinische Staatsangehörige. Der Vater ist französischer Staatsbürger. Bevor er am 2. 6. 1997 nach Frankreich zurückkehrte, war er in Österreich unselbstständig erwerbstätig. Zum Zeitpunkt der Zustellung der Klage im Verfahren zur Feststellung der Vaterschaft stand er im französischen Militärdienst. Versuche, die vom Vater geschuldeten festgesetzten monatlichen Unterhaltsbeiträge von EUR 143,17 hereinzubringen, verliefen erfolglos, weil sein Aufenthalt durch die französischen Behörden nicht ermittelt werden konnte.

Am 26. 11. 2004 beantragte die Unterhaltsberechtigte die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG in Höhe von EUR 143,17. Mit Beschluss vom 2. 12. 2004 gab das Erstgericht diesem Antrag statt und gewährte Unterhaltsvorschüsse in der beantragten Höhe für den Zeitraum vom 1. 11. 2004 - 31. 10. 2007. Dieser Beschluss konnte dem Vater vorerst nicht zugestellt werden. Am 14. 2. 2005 begehrte die Unterhaltsberechtigte Vorschüsse für den Zeitraum vom 1. 2. 2005 - 31. 1. 2008 in Richtsatzhöhe mit der Begründung, die Voraussetzungen für eine Vorschussgewährung gemäß § 4 Z 2 UVG lägen vor. Auch diesen Antrag bewilligte das Erstgericht und gewährte monatlich Unterhaltsvorschüsse in Höhe von EUR 220. Die laufenden Titelvorschüsse wurden mit Ablauf Jänner 2005 eingestellt. Da auch dieser Beschluss dem Vater nicht zugestellt werden konnte, wurde ein Prozesskurator bestellt.

Das Rekursgericht gab dem vom Prozesskurator erhobenen Rekurs gegen die genannten Beschlüsse keine Folge und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Es sei unbestritten, dass eine Leistung wie der Unterhaltsvorschuss nach dem österreichischen UVG eine Familienleistung iSd Art 4 Abs 1 h) der VO (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. 6. 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (Wanderarbeitnehmerverordnung) in der durch die VO (EWG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. 12. 1996 geänderten und aktualisierten Fassung sei. Die im Gebiet eines Mitgliedstaates wohnenden Personen, für die diese Verordnung gelte, hätten unter denselben Voraussetzungen wie Inländer Anspruch auf eine solche im Recht dieses Mitgliedstaates vorgesehene Leistung. Serbisch-montenegrinische Staatsbürger, die sich in Österreich aufhalten, hätten daher selbst nach europarechtlichen Vorschriften nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Obersten Gerichtshofs keinen Anspruch auf die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen gehabt. Durch die VO Nr. 859/2003 des Rates vom 14. 5. 2003 sei der Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 auf Drittstaatsangehörige ausgedehnt worden, die ihren rechtmäßigen Wohnsitz in einem EG-Mitgliedstaat haben und deren Situation mit einem Element über die Grenzen eines Mitgliedstaates hinausweise. Sei also der Anspruchswerber auf Unterhaltsvorschuss ein Drittstaatsangehöriger, müsse ein grenzüberschreitender Bezug zu einem weiteren EG-Mitgliedstaat vorhanden sein. Dieser Bezug sei hier gegeben, indem der als Vater festgestellte französische Staatsbürger nach der Aktenlage zunächst in Österreich erwerbstätig gewesen und dann in sein Heimatland Frankreich zurückgekehrt sei. Es lägen keine Hinweise dafür vor, dass sich der Vater nicht mehr im „EWR-Raum" aufhielte; ebensowenig seien Anhaltspunkte dafür gegeben, dass er nicht mehr in den persönlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen könnte, weil er weder unselbstständig noch selbstständig erwerbstätig oder arbeitslos wäre. Es seien auch keine dementsprechenden Behauptungen aufgestellt worden. Dem unterhaltsberechtigten Kind wäre es zudem weder möglich noch zumutbar, das Vorliegen dieser Voraussetzungen zu bescheinigen. Den rechtmäßigen Aufenthalt des Kindes in Österreich und damit einen dauerhaften Anspruch auf Familienbeihilfe bestreite der Vater nicht. Dem Vorbringen der Unterhaltsberechtigten und der Aktenlage entsprechend müsse daher davon ausgegangen werden, dass alle Voraussetzungen für die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen gegeben seien.

Rechtliche Beurteilung

Der vom Vater erhobene Revisionsrekurs ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Nach § 2 Abs 1 UVG haben minderjährige Kinder mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich Anspruch auf Unterhaltsvorschuss, wenn sie entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind. In seiner Entscheidung vom 15. 3. 2001, Rs C-85/99 -Offermanns (Slg 2001, I-2261) qualifizierte der EuGH Leistungen nach dem österreichischem Unterhaltsvorschussgesetz als Familienleistungen iSd Art 4 Abs 1 h) der VO (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. 6. 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (Wanderarbeitnehmerverordnung). Daher haben die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnenden Personen, für die diese Verordnung gilt, gemäß deren Art 3 unter denselben Voraussetzungen wie Inländer Anspruch auf eine solche im Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehene Leistung (SZ 74/61). Die Unterscheidung zwischen eigenen und (aus der Stellung als Familienangehöriger) abgeleiteten Rechten gilt im Bereich der Familienleistungen grundsätzlich nicht. Folglich sind Kinder, die als Mitglieder der Familie eines Arbeitnehmers in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fallen, in Bezug auf Familienleistungen als Personen anzusehen, für die diese Verordnung für die Zwecke ihres Art 3 Abs 1 gilt ( EuGH Rechtssache Offermanns 15. 3. 2001, Rs C-85/99 [Slg 2001, I-2261]; RIS-Justiz RS0115844). Serbien-Montenegro ist aber kein Mitgliedstaat, sodass Kinder mit serbisch-montenegrinischer Staatsangehörigkeit, die in Österreich wohnen, nicht in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fallen und sohin allein aus dieser Verordnung heraus gemäß § 2 Abs 1 UVG keinen Anspruch auf Unterhaltsvorschuss haben. Der Anwendungsbereich der Wanderarbeitnehmerverordnung wurde aber durch Art 1 der VO Nr. 859/2003 auf Drittstaatsangehörige ausgedehnt, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter die Bestimmungen der VO aus dem Jahr 1971 fallen, sofern sie ihren rechtmäßigen Wohnsitz in einem Mitgliedsstaat haben und ihre Situation mit einem Element über die Grenze eines Mitgliedstaats hinausweist (siehe auch Erwägungsgrund 12 der VO aus 2003). Der erforderliche Gemeinschaftsbezug kann darin liegen, dass Personen, Sachverhalte oder Begehren eine rechtliche Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat aufweisen. Diese Umstände sind in der Staatsangehörigkeit, dem Wohn- oder Beschäftigungsort, dem Ort eines die Leistungspflicht auslösenden Ereignisses, sowie der vormaligen Arbeitstätigkeit unter dem Recht eines anderen Mitgliedstaats oder ähnlichen Merkmalen zu sehen (10 Ob 60/03a mwN). Beispielsweise kann dieser Gemeinschaftsbezug darin liegen, dass es sich bei dem unterhaltsberechtigten Kind um einen Angehörigen eines Arbeitnehmers mit der Staatsbürgerschaft eines EU-Staates handelt, der in einem anderen EU-Staat erwerbstätig war. Fehlt ein solcher Gemeinschaftsbezug, liegt also ein reiner Inlandsbezug vor, fallen drittstaatsangehörige Kinder nicht in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung und haben keinen Anspruch auf Unterhaltsvorschuss (RIS-Justiz RS0119548).

Im vorliegenden Fall liegt das über die Grenzen eines Mitgliedstaates hinausweisende Element nicht allein in der französischen Staatsbürgerschaft des unterhaltsverpflichteten Vaters, sondern vor allem darin, dass dieser in Ausübung seiner Freizügigkeit von Österreich nach Frankreich zurückgekehrt ist und nunmehr in einer (grenzüberschreitenden) Unterhaltsbeziehung zu dem in Österreich aufhältigen Kind steht. Damit weist die Situation des (drittstaatsangehörigen) Kindes keineswegs ausschließlich Verbindungen zu einem Drittstaat und einem einzigen Mitgliedstaat auf (siehe Erwägungsgrund 12 der VO Nr. 859/2003 ).

Das Revisionsrekursvorbringen, aus Art 73 der VO Nr. 1408/71 ergebe sich, dass das Kind zwar Ansprüche nach französischem Recht, nicht jedoch auf Vorschussgewährung in Österreich haben könnte, steht mit den in den Art 75 und 76 der VO Nr. 1408/71 enthaltenen Koordinierungsregeln nicht in Einklang. Aus diesen ergibt sich, dass im Falle des Zusammentreffens von Ansprüchen in mehreren Mitgliedstaaten der Anspruch im Wohnsitzstaat vorgeht und die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gegebenenfalls geschuldeten Familienleistungen bis zur Höhe des durch die Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaates des Kindes vorgesehenen Betrags „ausgesetzt werden" (9 Ob 157/02g). Ob das Kind als Familienangehöriger Anspruch auf Unterhalt bzw Vorschüsse nach französischem Recht hat, braucht daher nicht geprüft werden.

Da die Unterhaltsvorschüsse für nach dem 1. Juni 2003 liegende Zeiträume beantragt wurden, unterfällt der vorliegende Sachverhalt dem in Art 2 Abs 1 der Verordnung Nr. 859/2003 normierten zeitlichen Geltungsbereich.

Nach dem Vorbehalt Österreichs im Anhang zur VO Nr. 859/2003 findet diese Verordnung nur auf Drittstaatsangehörige Anwendung, die die Voraussetzungen des österreichischen Rechts für einen dauerhaften Anspruch auf Familienbeihilfe erfüllen. Dass diese Voraussetzungen erfüllt sind, hat der Revisionsrekurswerber nie bestritten, weshalb das Rekursgericht ausdrücklich vom Bestehen eines solchen dauerhaften Anspruchs ausgegangen ist (S 7 der Rekursentscheidung). Auch im Revisionsrekurs erhebt der Vater insoweit nur den Einwand, nach § 2 des FamLAG sei jene Person anspruchsberechtigt, bei der sich das minderjährige Kind aufhalte und nicht das Kind selbst. Dies ist nicht relevant, weil - wie bereits dargelegt - nach ständiger Judikatur die Unterscheidung zwischen eigenen und abgeleiteten Rechten im Bereich der Familienleistungen nicht gilt.

Dem Revisionsrekurs ist sohin ein Erfolg zu versagen.

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