OGH 1Ob32/05w

OGH1Ob32/05w24.6.2005

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Gerstenecker als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Zechner, Univ. Doz. Dr. Bydlinski, Dr. Fichtenau und Dr. Glawischnig als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Hermann W*****, Versehrtenrentner, St. Marienkirchen/Polsenz, Doppl 1, vertreten durch Dr. Götz Schattenberg und Dr. Ernst Moser, Rechtsanwälte in Linz, wider die beklagte Partei N***** GmbH, *****, vertreten durch Dr. Ulrich Schwab und Dr. Georg Schwab, Rechtsanwälte in Wels, wegen 42.861,29 EUR sA, infolge Revision der klagenden Partei (Revisionsstreitwert 10.174,20 EUR) gegen das Teilurteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 15. Dezember 2004, GZ 2 R 180/04k-115 ,womit das Urteil des Landesgerichts Wels vom 23. August 2004, GZ 2 Cg 105/97m-110, teilweise bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Teilurteil des Berufungsgerichts wird dahin abgeändert, dass die beklagte Partei schuldig ist, der klagenden Partei EUR 10.174,20 samt 4 % Zinsen seit 14. August 1992 binnen 14 Tagen zu zahlen. Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil vorbehalten.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Beklagte betrieb ein Werk, in dem Pflanzenschutzmittel hergestellt und verarbeitet wurden. Im Herbst 1991 erteilte sie einem Elektrounternehmen, dessen Mitarbeiter der Kläger war, den Auftrag, in einer Werkshalle eine Brandmelde- und Alarmanlage zu installieren. Am 1. 10. 1991 verrichtete der Kläger in diesem Zusammenhang Arbeiten in der Nähe einer Mischanlage, als diese gerade mit einem pulverförmigen, als Fungizid Verwendung findenden Stoff (Thiram) beschickt wurde. Der Kläger verlor das Bewusstsein, wurde ins Krankenhaus eingeliefert und litt danach an massiven Gesundheitsstörungen.

Am 17. 9. 1993 brachte er eine auf Feststellung gerichtete Klage ein, wonach ihm die Beklagte für alle Schäden aus dem Vorfall vom 1. 10. 1991 hafte. Mit rechtskräftigem Urteil des Oberlandesgerichts Linz wurde diesem Klagebegehren teilweise Folge gegeben und ausgesprochen, die Beklagte habe dem Kläger für alle künftigen Schäden aus dem Vorfall vom 1. 10. 1991 zu haften; das Mehrbegehren auf Feststellung der Haftung der Beklagten „für alle - auch nicht nur künftigen - Schäden aus diesem Vorfall" wurde hingegen abgewiesen. Der Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz in diesem Verfahren war am 11. 9. 1995.

Mit seiner am 13. 5. 1997 eingebrachten Leistungsklage begehrt der Kläger neben Verdienstentgang und Fahrtkosten den Zuspruch von S 140.000 (= 10.174,20 EUR) an Schmerzengeld mit dem Vorbringen, es sei ihm erst jetzt möglich, den Schmerzengeldanspruch umfassend und global bis zum fiktiven Lebensende zu beurteilen. Durch das Einatmen der mit Thiram-Staub versetzten Luft sei er irreversibel und schwer in seiner Gesundheit geschädigt worden. Er leide an neurologischen Krankheitssymptomen; aufgrund der vorfallsbedingten Hirnschädigung sei auch eine Störung des Binokularsehens eingetreten. Die Einbringung der Feststellungsklage habe die Verjährung unterbrochen. Erstmals habe er seine Schmerzengeldansprüche gegenüber der Beklagten mit Schreiben vom 12. August 1992 geltend gemacht.

Die Beklagte wendete unter anderem Verjährung aller Schmerzengeldansprüche ein. Das Ansspruchsschreiben des Klägers sei ihr am 13. August 1992 zugegangen, sodass ein allfälliger Zinsenzuspruch erst ab dem 14. August 1992 gerechtfertigt sei (Seite 4 in ON 2).

Das Erstgericht wies das Klagebegehren zur Gänze ab. Es traf über den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt hinaus zusammengefasst folgende weitere hier maßgebliche Feststellungen:

Sehe man die Acetaldehyd- Reaktion als gegeben an, habe der Kläger beim Vorfall vom 1. Oktober 1991 ein Psychosyndrom erlitten, welches bis Juni 1993 abgeklungen gewesen sei. Für die Zeit von Oktober 1991 bis Juni 1993 habe in Verbindung mit diesem „ein Äquivalent von 25 Tagen leichten körperlichen Schmerzen" bestanden. Die augenheilkundlich-optometrische Untersuchung habe als unfallskausale definitive Beeinträchtigung eine Störung des Binocularsehens mit Verlust der Fusionsfähigkeit, einer Lähmung der Konvergenz, einer Sakkadenhypometrie sowie einem Auswärtsschielen mit ständig gekreuzten Doppelbildern in allen Blickrichtungen und Distanzen ergeben. Die Doppelbilder stellten eine schwere Beeinträchtigung der Lebenqualität dar; sie seien weder durch eine Brille noch durch eine Operation ausgleichbar. Sie könnten nur durch eine Augenklappe oder eine Brillenglasoclusion verhindert werden; bei Verwendung einer Augenklappe sei der Kläger einem Einäugigen gleich zu halten. Vom augenheilkundlich-optometrischen Standpunkt aus seien eine Woche starke Schmerzen, drei Monate mittelstarke Schmerzen und dauernde leichte Schmerzen zu veranschlagen.

Rechtlich ging das Erstgericht - dem diesbezüglichen Einwand der Beklagten folgend - davon aus, der Schmerzengeldanspruch sei verjährt, da der Gesundheits- und Leidenszustand des Klägers bei Einbringung der Feststellungsklage für einen Facharzt vollständig überblickbar gewesen sei. Dass der Vorfall vom 1. 10. 1991 für den Verdienstentgang und die Fahrtkosten kausal gewesen wäre, sei nicht feststellbar.

Das Berufungsgericht bestätigte mittels Teilurteils die Abweisung des Schmerzengeldbegehrens im Umfang von EUR 10.174,20; im Übrigen, also hinsichtlich der Abweisung des restlichen Klagebegehrens von EUR 32.687,09 sA hob es das angefochtene Urteil auf. Gegen die Bestätigung der Abweisung des Schmerzengeldbegehrens ließ das Berufungsgericht die ordentliche Revision zu. Infolge Bindungswirkung des Feststellungsurteils sei davon auszugehen, dass der Kläger am 1. 10. 1991 im Betrieb der Beklagten Thiram resorbiert und dies in Verbindung mit einem bei ihm gegebenen Restalkoholspiegel eine gesundheitsschädigende Acetaldehyd-Vergiftung bewirkt habe. Die Schmerzengeldforderung sei dennoch verjährt, da dem Kläger die bis zur Einbringung der Feststellungsklage am 17. 9. 1993 (also rund zwei Jahre nach dem Vorfall) aufgetretenen Gesundheitsbeeinträchtigungen und Schmerzen „aus eigenem Erleiden" bekannt gewesen seien; die künftigen Beeinträchtigungen und Schmerzen seien schon am 17. 9. 1993 für einen Fachmann überblickbar gewesen. Darauf, ob die künftigen Beeinträchtigungen und Schmerzen auch für den Kläger als medizinischen Laien überschaubar gewesen seien, komme es nicht an. Es sei Sache des Klägers gewesen, entweder fachmännischen Rat einzuholen, um abschätzen zu können, inwieweit Schmerzengeld angemessen sei, oder eine Überklagung in Kauf zu nehmen. Maßgeblich sei die objektive Vorhersehbarkeit der Unfallfolgen. Die Berufungsausführungen würden zudem nicht klarlegen, aus welchen Ursachen die gesundheitlichen Auswirkungen des Vorfalls vom 1. 10. 1991 für den Kläger erst in der Zeitspanne zwischen Einbringung der Feststellungsklage (17. 9. 1993) und Einbringung der Leistungsklage (13. 5. 1997) vollständig überblickbar geworden sein sollten. Das Erstgericht sei daher zu Recht von einer Verjährung des Schmerzengeldanspruchs ausgegangen. Die Aufhebung hinsichtlich der Abweisung des auf Verdienstentgang und Fahrtkostenersatz gerichteten Klagebegehrens sei darin begründet, dass das Erstgericht die Bindungswirkung des Urteils im Vorprozess nicht ausreichend beachtet habe.

Die gegen das Teilurteil des Berufungsgerichts gerichtete Revision des Klägers ist zulässig und berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Vorweg ist klarzustellen, dass der erkennende Senat die generellen Ausführungen des Berufungsgerichts zur Bindungswirkung des im Vorprozess ergangenen Urteils billigt und damit ein neuerliches Aufrollen des schadensstiftenden Ereignisses ausgeschlossen ist. Demnach haftet die Beklagte dem Kläger „für alle künftigen Schäden aus dem Vorfall vom 1. 10. 1991", der Mitverschuldenseinwand der Beklagten (S 3 der Klagebeantwortung) geht demnach ins Leere. Die Vorinstanzen stellten zur zeitlichen Abgrenzung der Unterbrechungswirkung des Feststellungsurteils allein auf die im Spruch gewählte Formulierung der „künftigen bzw nicht künftigen Schäden" ab und zogen eine zeitlich punktuelle Grenze, die sie mit der Einbringung der Feststellungsklage annahmen: Vor diesem Zeitpunkt liegende Ansprüche des Klägers wären von der Bindungswirkung des Feststellungsurteils nicht umfasst, danach liegende schon. Ebenso wäre diese Formulierung aber auch dahin interpretierbar, dass sich das Wort „zukünftig" auf den Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz in diesem Verfahren bezieht, somit den 11. 9. 1995. Es ist deshalb nötig, zusätzlich die Begründung des abweislichen Teils des Feststellungsurteils im Verfahren 2 Cg 282/93k des Landesgerichts Wels miteinzubeziehen. Aus dieser ergibt sich, dass das Berufungsgericht von Amts wegen das mangelnde Feststellungsinteresse insofern wahrnahm, „als der Kläger bereits Leistungsklage erheben hätte können". Demnach sollte nicht ein bestimmter punktueller Zeitpunkt maßgeblich sein, sondern das Kriterium, welche Ansprüche der Kläger bereits mit Leistungsklage geltend machen hätte können. Nur diese Ansprüche sollten von der Unterbrechungswirkung des Feststellungsurteils ausgenommen sein. Ausgehend von diesem Interpretationsergebnis, dem der Vorzug zu geben ist, sind die Wirkungen des Feststellungsurteils auf die klagsgegenständlichen Schmerzengeldansprüche zu prüfen:

Erstmals im Leistungsprozess bringt die Beklagte in diesem Zusammenhang vor, der Kläger hätte sämtliche Schmerzengeldansprüche im Sinn einer Globalbemessung bereits zum Zeitpunkt der Einbringung der Feststellungsklage mit Leistungsklage geltend machen müssen. Da sich die Unterbrechungswirkung der Feststellungsklage auf diese global zu bemessenden und bereits zum Zeitpunkt der Einbringung der Feststellungsklage überblickbaren Schmerzengeldansprüche nicht beziehe, seien nach Meinung der Beklagten trotz des Feststellungsurteils alle Schmerzengeldansprüche des Klägers verjährt. Diesem Einwand folgend ging das Berufungsgericht davon aus, es sei unmaßgeblich, ob der Kläger seine künftigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen überschauen konnte; maßgeblich sei allein, ob dies - was hier zu bejahen sei - einem Fachmann möglich war.

Dazu ist auszuführen:

Nach stRsp stellt das Schmerzengeld eine Globalentschädigung dar, bei deren Ausmessung das Klagebegehren grundsätzlich nicht in einzelne, bestimmten Verletzungen bzw Folgeerscheinungen zuzuordnende Teilbeträge zerlegt werden kann (RIS-Justiz RS0031191). Es wird also grundsätzlich gefordert, sich die bereits bekannten und auch die absehbaren Schmerzen global auf einmal abgelten zu lassen und den hiefür angemessenen Betrag auf einmal geltend zu machen. Es ist wohl nicht daran zu zweifeln, dass der Kläger selbst die künftig auftretenden Schmerzen nicht abschätzen und schon gar nicht bewerten konnte, als er das Feststellungsurteil erwirkte, stellten doch die Vorinstanzen selbst fest, aus augenheilkundlich-optometrischer Sicht hätten dauernde leichte Schmerzen bestanden (S 20 des Ersturteils). Dem Kläger könnte das Unterlassen der Einbringung einer Leistungsklage demzufolge nur dann zum Nachteil gereichen, forderte man, dass er verhalten gewesen wäre, sich eines Sachverständigen zu bedienen, um einigermaßen verlässlich die Höhe des ihm gebührenden Schmerzengeldes ermitteln zu können. Die Grenzen einer solchen Pflicht hängen von den Umständen des Einzelfalls ab, im Allgemeinen ist aber die Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht zu fordern (1 Ob 226/04y; 5 Ob 182/02d; 6 Ob 213/02w; 10 Ob 189/02w; 8 Ob 285/00w). Auch im vorliegenden Fall bedeutete eine solche Forderung eine Überspannung der Pflichten des Geschädigten. Daraus folgt, dass der Kläger die Schmerzengeldansprüche zum Zeitpunkt der Erwirkung des Feststellungsurteils noch nicht mit Leistungsklage geltend machen konnte, sodass - im Sinne obiger Ausführungen - die Unterbrechungswirkung des Feststellungsurteils auch für seine Schmerzengeldansprüche gilt.

Die Meinung der Vorinstanzen, trotz des Feststellungsurteils seien die Schmerzengeldansprüche des Klägers verjährt, ist daher nicht zu billigen.

Die vom Erstgericht getroffenen - oben wiedergegebenen - Feststellungen zur Kausalität und zu den Schmerzperioden reichen aus, um in Abänderung des Teilurteils mit einem Zuspruch von Schmerzengeld vorzugehen:

Nach ständiger Rechtsprechung ist das Schmerzengeld nach seiner Zweckbestimmung jene materielle Entschädigung, auf die ein Verletzter zum Ausgleich der durch die Beschädigung insgesamt entstandenen körperlichen und seelischen Schmerzen, der entgangenen Lebensfreude und aller mit den Unfallverletzungen und ihren Folgen verbundenen Unbillen Anspruch hat. Bei der Bemessung des Schmerzengeldes sind die Art und Schwere der Körperverletzung, die Art, Intensität und Dauer der Schmerzen sowie die Dauer der Beeinträchtigung des Gesundheitszustands des Verletzten und die damit verbundenen Unlustgefühle zu berücksichtigen. Dem Verletzten soll (soweit möglich) damit das Gefühl der Verletzung genommen und das Gleichgewicht seiner Persönlichkeit wiederhergestellt werden. Die Entschädigung ist daher um so höher zu bemessen, je bedeutender die Körperschädigung, je länger die Heilung oder Gesundheitsstörung, je intensiver die mit der Verletzung verbundenen Schmerzen und je empfindlicher die Folgen für das Leben und die Gesundheit des Geschädigten (einschließlich seiner seelischen Schmerzen und Belastungen) sind (2 Ob 154/03s uva). Werden diese Kriterien auf das Verletzungsbild des Klägers übertragen, ist - insbesonders unter Berücksichtigung der eine Dauerfolge darstellenden Doppelbilder, die eine schwere Beeinträchtigung der Lebensqualität bedeuten - der Zuspruch des eingeklagten Schmerzengeldbetrags von EUR 10.174,20 jedenfalls gerechtfertigt.

Der Revision ist daher Folge zu geben und das angefochtene Teilurteil spruchgemäß abzuändern.

Festzuhalten ist letztlich, dass der Kläger Zinsen ab 13. August 1992 eingeklagt hat. Nach dem Parteienvorbringen ist der Beginn des Zinsenlaufs erst mit 14. August 1992 unstrittig, sodass mangels Feststellungen zum Beginn des Zinsenlaufs ein Zinsenzuspruch erst ab diesem Tag erfolgen konnte. Über das Zinsenmehrbegehren wird (allenfalls) im Endurteil zu entscheiden sein.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 2 ZPO.

Stichworte