OGH 9ObA31/05g

OGH9ObA31/05g11.5.2005

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Rohrer als Vorsitzenden, durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Spenling und Univ. Doz. Dr. Bydlinski sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr. Friedrich Stefan und Alfred Klair als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Betriebsrat von E*****, vertreten durch Dr. Sebastian Mairhofer und Mag. Martha Gradl, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei E*****, vertreten durch Dr. Alfred Hawel, Dr. Ernst Eypeltauer, Mag. Christian Obermühlner, Rechtsanwälte in Linz, wegen Feststellung, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 15. Dezember 2004, GZ 12 Ra 109/04t-8, mit dem das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom 12. August 2004, GZ 7 Cga 52/04h-4, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit EUR 499,39 (darin EUR 83,23 an USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Bei dem Beklagten sind 107 Mitarbeiter beschäftigt, wovon mehr als drei ihr Dienstverhältnis vor dem 2. 7. 2003 aufgenommen haben. Auf die Dienstverhältnisse der Mitarbeiter fand bislang kein Kollektivvertrag Anwendung. Mittels Betriebsvereinbarung vom 1. 1. 1997, die Inhalt der Einzelverträge wurde, war geregelt, dass Gehaltserhöhungen jeweils am 1. 1. eines Jahres im Ausmaß der kollektivvertraglichen Erhöhung für die Handelsangestellten Österreichs erfolgen. Für das Jahr 2004 beträgt diese Erhöhung nach dem Handelskollektivvertrag 1,9 %.

Mit 1. 1. 2004 trat der Kollektivvertrag für Arbeitnehmerinnen der Gesundheits- und Sozialberufe (im Folgenden BAGS-KV) in Kraft, dem der Beklagte angehört. § 30a des BAGS-KV („Ist-Lohn/Gehaltserhöhungen") lautet wie folgt:

„1.) Die Ist-Löhne und -gehälter (das sind alle jene betrieblichen regelmäßigen Entgeltbestandteile, die zu Zeiten der Normalarbeitszeit gewährt werden), die ab 1. Jänner 2004 gebühren, werden mit Wirkung ab 1. Jänner 2004 um einen Prozentsatz von 1,7 % erhöht.

2.) Gleichzeitig mit Inkrafttreten von § 30a Abs 1 treten alle Entgeltanpassungen außer Kraft, die sich vertraglich oder durch Übung an anderen kollektiven Regelungen (Kollektivverträge, Regelungen des öffentlichen Dienstes etc) bisher orientiert haben."

In § 41 („Übergangsbestimmungen") ist unter anderem Folgendes geregelt:

„B) Bestehende Arbeitsverhältnisse

Für Arbeitnehmerinnen, deren Arbeitsverhältnis vor In Kraft treten dieses Kollektivvertrages begründet wurde, gilt dieser Kollektivvertrag mit Ausnahme der Bestimmungen des

§ 8 Abs 3 lit d), e): Vergütung der Nachtarbeitsbereitschaft,

§ 9 Abs 1 und 2: Nachtarbeit-Zuschlag/Pauschale,

§ 10 Abs 6 und 7: Überstundenzuschläge/Mehrarbeits-

vergütung,

§ 13 Abs 1: Rufbereitschaft,

§ 26) Urlaubszuschuss und

Weihnachtsremuneration,

§ 28) Verwendungsgruppen,

§ 29) Gehaltstabelle,

§ 30) Allgemeine Entgeltregelungen,

§ 31) Zulagen und Zuschläge und

§ 32) Anrechnung von Vordienstzeiten

für Gehalt

Jede Arbeitnehmerin hat einmalig, einseitig das Recht, sich innerhalb von sechs Monaten nach In Kraft treten dieses KV zu entscheiden, ob sie auch in die oben angeführten Bestimmungen dieses KV optiert oder in ihren bisherigen Entgeltbestimmungen verbleibt. Gibt die Arbeitnehmerin keine Optierungserklärung ab, so verbleibt sie in ihren bisherigen Entgeltbestimmungen. ..."

Der Beklagte erhöhte das Gehalt jener Arbeitnehmer, die bereits vor dem 1. 1. 2004 bei ihr beschäftigt waren, für das Jahr 2004 um 1,7 %.

Der Kläger begehrte nun - soweit dies für das Berufungsverfahren noch von Interesse ist - die Feststellung, dass die MitarbeiterInnen des Beklagten, die ihr Dienstverhältnis vor dem 2. 7. 2003 aufgenommen haben, für das Jahr 2004 Anspruch auf Gehaltserhöhung im Ausmaß von 1,9 % haben und dass die jährlichen Gehaltsanpassungen (weiterhin) gemäß dem Kollektivvertrag für die Handelsangestellten zu erfolgen haben. Er brachte dazu im Wesentlichen vor, die betreffende Regelung sei Inhalt der Einzelarbeitsverträge geworden und könne durch einen erst später abgeschlossenen Kollektivvertrag nicht geändert oder aufgehoben werden. Auch ein Günstigkeitsvergleich könne nicht zur Geltung der Regelungen des Kollektivvertrags führen, da die Einzeldienstverträge bzw die Betriebsvereinbarung die betroffenen DienstnehmerInnen durch die Gehaltserhöhung nach dem Handelskollektivvertrag in jedem Fall besser stellten. Die Regelung des § 30a BAGS-KV stelle einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Eigentumsrecht der Betroffenen und in die bisherige Lebensplanung dar.

Der Beklagte wandte im Wesentlichen ein, die Kollektivvertragsparteien haben dem Kollektivvertrag in der Frage der Gehaltserhöhung zweiseitig zwingende Wirkung beigelegt und die Geltung von Vertragsklauseln wie der vorliegenden ungeachtet der Frage der Günstigkeit ausgeschlossen. Es handle sich auch um einen maßvollen Eingriff in einzelvertragliche Regelungen, der sachlich gerechtfertigt und nicht sittenwidrig sei. Durch den Kollektivvertrag komme es sogar zu einer finanziellen Besserstellung der bereits beschäftigten Arbeitnehmer; diese haben höhere Urlaubsansprüche, Anspruch auf Fortbildung auf Kosten des Dienstgebers, ihren Erben stehe ein höherer Abfertigungsanspruch zu.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Kollektivvertragsparteien haben festgelegt, dass gleichzeitig mit dem Inkrafttreten des § 30a Abs 1 BAGS-KV alle Entgeltanpassungen außer Kraft treten, die sich bisher vertraglich oder durch Übung an anderen kollektiven Regelungen orientiert haben. Damit haben sie zulässigerweise das Günstigkeitsprinzip ausgeschlossen, weshalb auch vorkollektivvertragliche günstigere Einzelabreden den zwingenden Normen des Kollektivvertrags ab dessen Wirksamkeitsbeginn zu weichen haben. Die Rechtswirksamkeit solcher Änderungen des Arbeitsvertrags - auch zum Nachteil des Arbeitnehmers - sei eine Folge der das österreichische Privatrecht grundsätzlich beherrschenden Vertragsfreiheit, welche auch im Bereich des Arbeitsrechts durch kein allgemeines „Verschlechterungsverbot" beschränkt sei. Sittenwidrigkeit liege nicht vor, weil die Reduzierung der Gehaltserhöhung um 0,2 % für das Jahr 2004 einen maßvollen Eingriff durch die Kollektivvertragspartner darstelle und zudem für die Folgejahre noch keine Aussagen über die jeweiligen Prozentsätze getroffen werden könnten. Da der Kollektivvertrag Sondervereinbarungen ausschließe, sei ein Günstigkeitsvergleich nicht durchzuführen. Die bereits vor Inkrafttreten des Kollektivvertrags bei dem Beklagten Beschäftigten haben somit ab 1. 1. 2004 lediglich Anspruch auf Gehaltserhöhung nach der (nunmehrigen) kollektivvertraglichen Regelung, also in Höhe von 1,7 %.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und erklärte die Revision für zulässig. Aus dem Wortlaut des § 3 Abs 1 ArbVG ergebe sich, dass die Kollektivvertragsparteien das Günstigkeitsprinzip ausschließen könnten. Zur gesetzlichen Vorgängerbestimmung (§ 2 Abs 3 KVG 1947) habe der Oberste Gerichtshof ausgesprochen, dass vorkollektivvertragliche günstigere Einzelabreden im Falle des Ausschlusses des Günstigkeitsprinzips durch die Kollektivvertragsparteien den zwingenden Normen des Kollektivvertrags ab dessen Wirksamkeitsbeginn weichen müssten. Damit bestehe die rechtliche Möglichkeit, jede arbeitsvertragliche Rechtsstellung durch eine Kollektivvertragsregelung für die Zukunft zu entziehen oder einzuschränken. Der in der Lehre unter Berufung auf das Verbot verfassungswidriger Eingriffe in das Eigentumsrecht mehrfach geäußerten Auffassung, durch Kollektivvertrag dürfe in bestehende günstigere Vereinbarungen keinesfalls verschlechternd eingegriffen werden, könne in dieser Allgemeinheit nicht zugestimmt werden. Aus dem Wortlaut des § 3 Abs 1 Satz 2 ArbVG sei für das Berufungsgericht eine mangelnde gesetzliche Ermächtigung der Kollektivvertragspartner zum Eingriff in bestehende vertragliche Rechtspositionen nicht zu ersehen. Daraus gehe zunächst eindeutig hervor, dass das Günstigkeitsprinzip sowohl für bestehende als auch für zukünftige Vereinbarungen gelten solle. Der Wortlaut biete keinerlei Hinweis dafür, dass die Grenzen der Möglichkeit des Ausschlusses des Günstigkeitsprinzips, das sich sowohl auf bestehende als auch auf zukünftige Einzelvereinbarungen bzw Betriebsvereinbarungen beziehe, enger gezogen werden sollten. Den Kollektivvertragspartnern werde durch die einfachgesetzlichen Regelungen im ArbVG eine Rechtssetzungsbefugnis eingeräumt, die zum Eingriff in vertragliche Rechtspositionen und damit in das Grundrecht der Unverletzlichkeit des Eigentums ermächtige. Im Normalfall - also bei Geltung des Günstigkeitsprinzips - wirke sich diese Eingriffsmöglichkeit in vertragliche Rechtspositionen zum Nachteil des Arbeitgebers aus. Bei Ausschluss des Günstigkeitsprinzips durch die Kollektivvertragsparteien könne sich dieser Eingriff auch zum Nachteil des Arbeitnehmers auswirken. Es sei nicht einsichtig, dass nur der Eingriff zu Lasten des Arbeitnehmers von vornherein verfassungswidrig sein solle. Auch wenn das Kollektivvertragsrecht grundsätzlich den Schutz des Arbeitnehmers bezwecke, sei daraus nicht abzuleiten, dass die kollektivvertragliche Rechtsgestaltung eine Besserstellung des Arbeitnehmers um jeden Preis anstreben müsse. Der Abschluss eines Kollektivvertrags bringe Arbeitnehmern finanziell nur Vorteile. Ausnahmsweise könnten aber Gruppeninteressen verlangen, dass Privilegierungen einzelner Arbeitnehmer nicht möglich seien. Eine Rechtsordnung, die der Kollektivautonomie Raum lasse, werde gerade auch die Entscheidung über diese heiklen Fälle den beteiligten Interessensgruppen selbst überlassen dürfen. Eine Auslegung des § 3 Abs 1 Satz 2 ArbVG dahin, dass in bestehende günstigere Einzelvereinbarungen durch Kollektivvertrag keinesfalls verschlechternd eingegriffen werden dürfe, sei somit nicht geboten. Die Kollektivvertragsparteien haben allerdings die Grundrechte der Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu berücksichtigen, wobei insbesondere der Eigentumsschutz sowie der verfassungsrechtliche Gleichheitsgrundsatz zu beachten seien. Daraus sei abzuleiten, dass ein Eingriff der Kollektivvertragsparteien in die Rechte von Arbeitnehmern nur dann zulässig sei, wenn dieser Eingriff sachlich gerechtfertigt und nicht unverhältnismäßig sei. Ein solch gravierender Eingriff in eine vertraglich geschützte Rechtsposition liege nicht vor. Die bisherige Regelung habe Vertrauen auf eine Gehaltserhöhung in einem bestimmten Ausmaß nicht begründen können, da diese vom kollektivvertraglichen Verhandlungsergebnis für Handelsangestellte abhängig gewesen sei. Der Eingriff der Kollektivvertragsparteien liege letztendlich nur darin, dass die Festsetzung der jährlichen Gehaltserhöhung von den Kollektivvertragsparteien des Handelsangestellten-KV auf jene des BAGS-KV übertragen worden sei. Dass die Erhöhung der Gehälter nunmehr um 0,2 % geringer ausfalle als nach dem einzelvertraglich vereinbarten Handelskollektivvertrag, stelle keine schmerzhafte Gehaltseinbuße und damit auch keine unverhältnismäßige Beschneidung der Rechte der Mitarbeiter dar. Demgegenüber sei ein berechtigtes Interesse der Kollektivvertragsparteien, mit Einführung eines neuen Kollektivvertrags die einzelvertraglich vereinbarte Anwendung anderer Kollektivverträge zu beschränken, offensichtlich. Die ordentliche Revision sei zulässig, weil zum Ausschluss des Günstigkeitsprinzips durch die Kollektivvertragsparteien für bestehende einzelvertragliche Vereinbarungen keine jüngere höchstgerichtliche Judikatur vorliege.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision des Klägers ist zulässig, jedoch nicht berechtigt.

Nach § 3 Abs 1 ArbVG können Bestimmungen in Kollektivverträgen, soweit sie die Rechtsverhältnisse zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern regeln, durch Betriebsvereinbarung oder Arbeitsvertrag weder aufgehoben noch beschränkt werden. Sondervereinbarungen sind, sofern sie der Kollektivvertrag nicht ausschließt, nur gültig, soweit sie für den Arbeitnehmer günstiger sind oder Angelegenheiten betreffen, die im Kollektivvertrag nicht geregelt sind.

Zur (wörtlich nahezu gleichlautenden) Vorgängerbestimmung (§ 2 Abs 3 KVG 1947) vertrat der Oberste Gerichtshof die Auffassung, auch vorkollektivvertragliche günstigere Einzelabreden müssten im Fall des Ausschlusses des Günstigkeitsprinzips durch die Kollektivvertragsparteien den zwingenden Normen des Kollektivvertrags ab dessen Wirksamkeitsbeginn weichen (4 Ob 5/58 = Arb 6986). Dies sei die Folge des den Kollektivvertragsparteien eingeräumten Rechts, autonom Rechtsnormen zu schaffen. Diese Rechtsnormen seien in der Regel in Ansehung der günstigeren Einzelabrede dispositives Recht. Sei die günstigere Einzelabrede ausgeschlossen, dann sei ab Wirksamkeitsbeginn des Kollektivvertrags die zwingende Vorschrift des Kollektivvertrags Bestandteil des Dienstvertrags. Es sei damit der grundsätzliche Vorrang des Kollektivvertragsrechts vor dem Individualrecht im Bereich des österreichischen Arbeitsrechts anerkannt. Durch die Möglichkeit des Ausschlusses des Günstigkeitsprinzips sei die rechtliche Möglichkeit gegeben, jede arbeitsvertragliche Rechtsstellung, ob sie auf Einzelabrede, Betriebsvereinbarung, Arbeitsordnung oder Kollektivvertrag beruhe, durch eine Kollektivvertragsregelung für die Zukunft zu entziehen oder einzuschränken. Einzelabreden (Sondervereinbarungen) würden derogiert, wenn und soweit die Kollektivvertragsparteien sie beseitigen wollen (ähnlich 4 Ob 131/59 = Arb 7136).

Dieser Auffassung schloss sich jedenfalls im Ergebnis Tomandl (Arbeitsrecht I5 155) an: Zum Zwecke der Herstellung einer einheitlichen Ordnung der Arbeitsbedingungen gestatte es der Gesetzgeber den Kollektivvertragsparteien, Sondervereinbarungen auszuschließen (§ 3 Abs 1 ArbVG), d.h. ihren Normen absolut zwingenden Charakter zu verleihen. Sie könnten damit das Günstigkeitsprinzip durch das Ordnungsprinzip ersetzen und Fixarbeitsbedingungen festlegen: Damit würden alle abweichenden nachrangigen Vereinbarungen, gleichgültig ob sie vor dem Wirksamwerden des Kollektivvertrags oder erst während seiner Geltungsdauer abgeschlossen werden, rechtsunwirksam.

Cerny (Arbeitsverfassungsrecht³, § 3 Erl 5) führt einerseits aus, die Möglichkeit, abweichende - also auch günstigere - Sondervereinbarungen auszuschließen, gebe den Kollektivvertragsparteien auch das Recht, im Rahmen ihrer eigenen Regelungsbefugnis in Betriebsvereinbarungen und Einzelverträge mit normativer Wirkung einzugreifen, wobei eine Bindung an die Grundrechte, den verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz und an die guten Sitten bestehe. Andererseits meint er unter Hinweis auf die Lehrmeinung von Strasser, man werde im Sinne einer verfassungskonformen Auslegung des Umfangs der Regelungsbefugnis der Kollektivvertragspartner davon auszugehen haben, dass der Ausschluss günstigerer Betriebs- oder Einzelvereinbarungen nicht für die Vergangenheit, sondern nur für die Zukunft erfolgen könne (kein Eingriff in vor dem Kollektivvertrag abgeschlossene günstigere Betriebs- bzw Einzelvereinbarungen).

Strasser (in Strasser/Jabornegg/Resch, Kommentar zum ArbVG, § 3 Rz 12) spricht sich vehement gegen die Möglichkeit eines kollektivvertraglichen Eingriffs in bestehende Einzelverträge aus. Ein Kollektivvertrag könne gestützt auf das Ordnungsprinzip zwar für die Zukunft den Abschluss und damit das rechtswirksame Zustandekommen von bestimmten günstigeren Einzelvereinbarungen (und Betriebsvereinbarungen) verhindern, in bestehende günstigere Vereinbarungen könne er aber keinesfalls verschlechternd eingreifen. Die gegenteilige Annahme liefe darauf hinaus, in der fraglichen Ermächtigung der Kollektivvertragspartner die einfachgesetzliche Einräumung einer Rechtssetzungsbefugnis zum Eingriff in vertragliche Rechtspositionen und damit in das Grundrecht der Unverletzlichkeit des Eigentums zu sehen. Der in der älteren Judikatur vertretenen Auffassung, dass einer mit zweiseitig zwingender Wirkung ausgestatteten kollektivvertraglichen Inhaltsnorm günstigere Einzelabreden oder Betriebsvereinbarungen weichen müssten, könne nicht gefolgt werden.

Der 8. Senat des Obersten Gerichtshofs ließ es in einer jüngeren Entscheidung (8 ObA 61/97x) dahingestellt, ob die Auffassung, dass vorkollektivvertragliche günstigere Einzelabreden im Fall des Ausschlusses des Günstigkeitsprinzips durch die Kollektivvertragsparteien den zwingenden Normen des Kollektivvertrags weichen müssten, aufrecht zu erhalten sei. Er bekräftigte allerdings unter Hinweis auf SZ 65/163, dass die Kollektivvertragsparteien bei der Gestaltung des Kollektivvertrags an die verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechte gebunden seien und der Kollektivvertrag anderenfalls mit Sittenwidrigkeit behaftet sei. Die Kollektivvertragsparteien haben im Rahmen ihrer Befugnis, einen abgeschlossenen Kollektivvertrag zu ändern und die getroffene Regelung zu verschlechtern, die Grundrechte der Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu beachten. Die vom Revisionswerber aufgegriffene weitere Formulierung, ein Eingriff werde nur dann aus dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit sachlich zu rechtfertigen sein, wenn ansonsten der Fortbestand des Betriebs gefährdet wäre, bezieht sich lediglich auf den vom 8. Senat zu beurteilenden Fall der Änderung einer Betriebsvereinbarung, habe jedoch für Regelungen in Kollektivverträgen schon deshalb keine Bedeutung, weil es dort nie um den Fortbestand „des Betriebs" gehen kann.

Auch im vorliegenden Fall muss die grundsätzliche Frage der Zulässigkeit eines Eingriffs in einzelvertraglich begründete Rechtspositionen durch einen späteren Kollektivvertrag nicht abschließend beantwortet werden, da mit den Mitteln der Vertragsauslegung das Auslangen gefunden werden kann.

Unstrittig ist, dass die vom Kläger als unverändert weiterbestehend erachtete Regelung über das Ausmaß der jährlichen Gehaltsanpassungen auf einer sogenannten freien Betriebsvereinbarung beruht. Nach herrschender Auffassung (vgl dazu nur Schwarz/Löschnigg, Arbeitsrecht9 141 ff mwN) besteht diese in einer zwischen Belegschaftsorgan und Betriebsinhaber geschlossenen Vereinbarung, deren Inhalt weder durch das Gesetz noch durch Kollektivvertrag gedeckt ist, nach dem Willen der Parteien aber auf alle Dienstverhältnisse im Betrieb Anwendung finden soll. Hält sich der Betriebsinhaber an eine solche freie Betriebsvereinbarung, findet deren Inhalt - anlässlich des Abschlusses neuer Dienstverträge bzw durch (allenfalls schlüssige) Änderung bestehender - Eingang in die Einzelverträge mit den Dienstnehmern. Auch diese Konsequenz wird in diesem Verfahren von keiner der Parteien in Frage gestellt.

Der Umstand, dass die in einer freien Betriebsvereinbarung enthaltenen Einzelregelungen, wie etwa die hier zu beurteilende Regelung über jährliche Gehaltsanpassungen - nicht einzeln zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ausgehandelt wurden, sondern inhaltlich auf Vereinbarungen der Betriebsparteien beruhen, darf bei deren Auslegung nicht unbeachtet bleiben, auch wenn der Inhalt der Betriebsvereinbarung - mangels anderer rechtlich zulässiger Grundlage - formell in die Einzeldienstverträge einfließt. In derartigen Fällen kann den Parteien des Arbeitsvertrags auch ohne weiteres unterstellt werden, jenes Verständnis der freien Betriebsvereinbarung für und gegen sich gelten lassen zu wollen, das die Betriebsparteien bei Abschluss der freien Betriebsvereinbarung hatten, oder das ihnen zumindest vernünftigerweise bei deren Auslegung zuzusinnen ist.

Der Grund für die Vereinbarung der hier zu beurteilenden Klausel im Rahmen einer freien Betriebsvereinbarung lag nun ersichtlich darin, dass es zum damaligen Zeitpunkt (noch) keinen brancheneinschlägigen Kollektivvertrag gab. Da es als sachgerecht angesehen wurde, die Frage der jährlichen Gehaltsanpassung einheitlich zu regeln, diese aber nicht von „arbeitsrechtsfernen" Kriterien (zB Verbraucherpreisindex) abhängig zu machen, sondern der künftigen Einkommensentwicklung anzupassen, wurde die Maßgeblichkeit der jeweiligen Regelungen im Kollektivvertrag für die Handelsangestellten vereinbart. Damit wurde zugleich zum Ausdruck gebracht, dass den Betriebsparteien daran gelegen war, diese Frage nicht von individuellen Abreden in einzelnen Arbeitsverträgen abhängig zu machen, sondern sie einer kollektiven Rechtsschöpfung zu überlassen, die mangels eigenen Kollektivvertrags notwendigerweise eine „fremde" sein musste. Angesichts dieser Zielrichtung muss der Vereinbarung jedenfalls im Zusammenhang mit der Gehaltsanpassungsklausel insoweit ein bloß provisorischer Charakter zugemessen werden, als nicht anzunehmen ist, dass die Betriebsparteien daran gedacht haben, die (teilweise) Anwendbarkeit eines fremden Kollektivvertrags weiter beibehalten zu wollen, wenn es einmal zum Abschluss eines brancheneigenen Kollektivvertrags kommen sollte. Für ein solches Verständnis spricht nicht nur das gesetzliche System der kollektiven Vertretung bestimmter Dienstgeber bzw Dienstnehmer durch bestimmte Kollektivvertragsparteien (§ 8 ArbVG), sondern auch die andernfalls eintretende Rechtsfolge, dass es mit dem Abschluss des „eigenen" Kollektivvertrags zu zwei Gruppen von Arbeitnehmern im Betrieb käme, nämlich einerseits solchen, deren Gehaltsanpassung sich nach dem neuen Kollektivvertrag richtet, und andererseits jenen, die insoweit (weiter) von den Gehaltsabschlüssen einer fremden Branche (Handelsangestellte) abhängig wären. Geht man aber davon aus, dass die bisherige Regelung durch Verweis auf einen „fremden" Kollektivvertrag für alle Beteiligten ersichtlich ausschließlich darauf beruhte, dass ein brancheneinschlägiger Kollektivvertrag (noch) nicht existierte, kommt man im Wege der Vertragsauslegung zum Ergebnis, dass der Verweis auf den Kollektivvertrag für Handelsangestellte nur solange Gültigkeit haben sollte, als ein Kollektivvertrag für die eigene Branche nicht existiert oder darin die Regelungsbefugnis für Gehaltsanpassungen nicht wahrgenommen wird.

Mit dem Inkrafttreten des BAGS-KV wurde diese Regelungsbefugnis von den zuständigen Kollektivvertragsparteien in Anspruch genommen und darüber hinaus unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass damit auch die bisherige Anwendung anderer kollektiver Regelungen beseitigt werden soll. Ist nun die fragliche Bestimmung in der freien Betriebsvereinbarung vernünftigerweise so auszulegen, dass sie nur solange Bestand haben soll, als die betreffende Frage in einem eigenen Kollektivvertrag geregelt wird, ist die Anwendbarkeit dieser „Verweisungsklausel" mit Ablauf des Jahres 2003 obsolet geworden. An dieses den seinerzeitigen Parteien der freien Betriebsvereinbarung vernünftigerweise zu unterstellende Verständnis sind, wie dargelegt, auch die einzelnen Arbeitnehmer gebunden, in deren Einzelarbeitsverträge der Inhalt der Betriebsvereinbarung - als solcher erkennbar - eingeflossen ist.

Im Ergebnis haben die Vorinstanzen dem Klagebegehren daher zutreffend keine Berechtigung zuerkannt.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 2 ASGG, 50 Abs 1, 41 Abs 1 ZPO.

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