OGH 1Ob183/04z

OGH1Ob183/04z14.12.2004

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer, Dr. Zechner und Univ. Doz. Dr. Bydlinski als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj Horst H*****, geboren am ***** , und des mj Florian H*****, geboren am *****, beide vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft Graz-Umgebung als Unterhaltssachwalter, infolge Revisionsrekurses des Präsidenten des Oberlandesgerichts Graz gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom 8. Juni 2004, GZ 2 R 119/04s-31 und 2 R 120/04p-31, womit infolge Rekurses des Präsidenten des Oberlandesgerichts Graz die Beschlüsse des Bezirksgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 26. Februar 2004, GZ 16 P 127/03b-19 und -20, bestätigt wurden, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung

Die Minderjährigen sind wie ihre eheliche Mutter Schweizer Staatsangehörige. Die Ehe der Eltern wurde 1998 geschieden und der Vater zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 500,-- SFR je Kind verpflichtet. Die allein obsorgeberechtigte Mutter wohnt mit den Kindern und ihrem nunmehrigen Ehemann in Österreich. Einer versicherungspflichtigen Tätigkeit geht die Mutter nicht nach. Ihr Ehegatte befindet sich im Ruhestand und bezieht eine Berufspension aus England sowie eine Kriegsopferpension in Österreich; er besitzt sowohl die österreichische als auch die englische Staatsbürgerschaft. Die Kinder sind mit ihm krankenversichert und erhalten die Krankenscheine von der Gebietskrankenkasse. Die gesamte Familie lebt von seinen Pensionseinkünften. Der Vater der Kinder hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich und bezieht Notstandsgeld. Er hat um die Gewährung einer Invalidenrente angesucht, worüber bisher noch nicht entschieden wurde.

Die durch den Jugendwohlfahrtsträger vertretenen Kinder begehrten unter Berufung auf §§ 3, 4 Z 1 UVG Titelvorschüsse von monatlich je 310,99 EUR, wozu sie vorbrachten, die Führung einer Exekution gegen den Vater scheine aussichtslos, weil im Inland ein Drittschuldner oder ein Vermögen, das einen die laufenden Unterhaltsbeiträge deckenden Ertrag erwarten lasse, nicht bekannt sei.

Mit den angefochtenen Beschluss gewährte das Erstgericht Unterhaltsvorschüsse nach §§ 3, 4 Z 1 UVG für die Zeit vom 1. August 2003 bis 31. Juli 2006 in der (nach § 7 Abs 1 Z 1 UVG) eingeschränkten Höhe von monatlich je 100,-- EUR. Begründet wurde der Beschluss im Wesentlichen damit, dass eine Exekutionsführung aussichtslos erscheine, weil der Vater der Kinder Sozialhilfe von monatlich 553,50 EUR beziehe, deren Höhe lediglich ein Unterhaltsvorschuss von 100,-- EUR je Kind rechtfertige.

Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs mangels höchstgerichtlicher Rechtsprechung zu den Fällen der "Mitversicherung der Kinder bei einem pensionierten Ehemann der Mutter" zulässig sei. Für die Anspruchsberechtigung sei maßgeblich, ob die Kinder vom persönlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr 1408/71 umfasst seien. Die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen unter Bedachtnahme auf die Begünstigung der Kinder nach der Wanderarbeitnehmerverordnung setze voraus, dass sie Familienangehörige eines im EWR tätigen oder arbeitslosen Arbeitnehmers oder Selbstständigen seien und sich dieser innerhalb des EWR aufhalte. Weder der Vater noch die Mutter seien als Arbeitnehmer der Wanderarbeitnehmerverordnung anzusehen. Entscheidend sei daher, ob die Anspruchswerber nach den österreichischen Rechtsvorschriften als Familienangehörige des Ehegatten der Mutter anzusehen seien. Im Hinblick darauf, dass die beiden Kinder mit ihrer Mutter und deren nunmehrigem Ehegatten im gemeinsamen Haushalt lebten, die Kinder von ihrem Stiefvater erhalten würden und mit ihm krankenversichert seien, läge die Angehörigeneigenschaft im Sinne des § 123 Abs 2 ASVG vor, weshalb auch für Schweizer Staatsangehörige ein Anspruch auf Unterhaltsvorschuss bestehe.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt.

Vorauszuschicken ist, dass auf Grund der vom Erstgericht im Sinne des Auftrags des Obersten Gerichtshofs gepflogenen ergänzenden Erhebungen die Rechtzeitigkeit des Revisionsrekurses feststeht.

Nach § 2 Abs 1 UVG haben minderjährige Kinder mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich Anspruch auf Unterhaltsvorschuss, wenn sie entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind. Die Antragsteller haben somit nach der österreichischen Rechtslage keinen Anspruch auf Unterhaltsvorschuss, weil sie zwar im Inland aufhältig sind, aber weder die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen noch staatenlos sind (§ 2 Abs 1 UVG). Ein Anspruch ist aber auch zu bejahen, soweit die angeführten Anspruchsvoraussetzungen mit europarechtlichen Vorgaben in Widerspruch stehen. In seiner Entscheidung vom 15. März 2001, Rs C-85/99 -Offermanns (Slg 2001, I-2261, 2285; vgl ecolex 2001, 797) qualifizierte der EuGH Leistungen nach dem österreichischen Unterhaltsvorschussgesetz als Familienleistung im Sinn des Art 4 Abs 1 lit h der VO (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (Wanderarbeitnehmerverordnung). Er sprach aus, dass die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnenden Personen, für die diese Verordnung gelte, nach deren Art 3 unter den selben Voraussetzungen wie Inländer Anspruch auf eine solche im Recht des Mitgliedstaats vorgesehene Leistung haben (vgl auch RIS-Justiz RS0115509; RS0115844). Im Hinblick auf den Vorrang des Gemeinschaftsrechts ist § 2 Abs 1 UVG daher so zu lesen, als ob an Stelle des Begriffs "österreichische Staatsbürger" der Begriff "EWR-Bürger" stünde. Dies bedeutet, dass alle EWR-Bürger mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich unter denselben Voraussetzungen wie Inländer Anspruch auf Unterhaltsvorschuss haben, soweit sie unter den persönlichen Anwendungsbereich der Verordnung (EWG) 1408/71 fallen. Die Schweiz ist zwar nicht Mitgliedstaat des EWR, aber im Hinblick auf das am 1. Juni 2002 in Kraft getretene Freizügigkeitsabkommen vom 21. Juni 1999 (BGBl III 2002/133), das der Sache nach ua die Verordnung 1408/71 im Verhältnis zur Schweiz anwendbar macht, (Anhang II Abschnitt A Abs 1) gleich zu behandeln wie die EWR-Mitgliedstaaten (vgl auch Neumayr, ÖA 2002, 54).

Im vorliegenden Fall ist daher ausschlaggebend, ob die Anspruchswerber vom persönlichen Anwendungsbereich der Wanderarbeitnehmerverordnung umfasst sind. In den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung fallen (Art 2 Abs 1) Arbeitnehmer und Selbstständige sowie Studierende, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind oder als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene. Der EuGH hat in der Begründung seiner bereits erwähnten Entscheidung vom 15. März 2001 in Person des Anspruchsberechtigten (also des Kindes) betont, dass die Unterscheidung zwischen eigenen und (aus der Stellung als Familienangehöriger) abgeleiteten Rechten grundsätzlich nicht für Familienleistungen gilt. Folglich sind Kinder, die als Mitglieder der Familie eines Arbeitnehmers oder Selbstständigen in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr 1408/71 fallen, wie er in Art 2 Abs 1 dieser Verordnung festgelegt ist, in Bezug auf Familienleistungen als Personen anzusehen, für die diese Verordnung für die Zwecke ihres Art 3 Abs 1 gilt. Die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen unter Bedachtnahme auf die Begünstigung der Kinder nach der Wanderarbeitnehmerverordnung setzt daher voraus, dass sie Familienangehörige eines im EWR tätigen oder arbeitslosen Arbeitnehmers oder Selbstständigen sind und sich dieser als solcher innerhalb des EWR aufhält (EuGH C-55/99 - Anna Humer; ÖA 2001, 314; RZ 2002/41; RIS-Justiz RS0115509). Zu den Familienangehörigen zählt Art 1 lit f der Verordnung jede Person, die in den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen gewährt werden, als Familienangehöriger bestimmt, anerkannt oder als Haushaltsangehöriger bezeichnet ist; wird nach diesen Rechtsvorschriften eine Person nur dann als Familienangehöriger oder Haushaltsangehöriger angesehen, wenn sie mit dem Arbeitnehmer oder dem Selbstständigen (oder dem Studierenden) in häuslicher Gemeinschaft lebt, so gilt diese Voraussetzung als erfüllt, wenn der Unterhalt der betreffenden Person überwiegend von diesem bestritten wird.

Soweit Art 4 Abs 1 der VO in seinen lit a bis h verschiedene Leistungsarten - darunter auch Familienleistungen - aufzählt und in Art 1 lit f Abs 1 von jenen Rechtsvorschriften die Rede ist, nach denen "die Leistungen" gewährt werden, kann dies vernünftigerweise nur so verstanden werden, dass der Angehörigenbegriff in den einzelnen in Betracht kommenden Rechtsvorschriften unterschiedlich definiert sein kann und es jeweils auf jenen Normenkomplex ankommt, aus dem der erhobene Anspruch abgeleitet wird. Enthalten die einschlägigen (nationalen) Rechtsvorschriften - wie etwa das UVG - keine nähere Eingrenzung des Begriffs der "Familienangehörigen", so muss auf die VO selbst zurückgegriffen werden, die in Art 1 lit f Abs 1 deutlich erkennen lässt, dass sie grundsätzlich "Familienangehörige" bzw "Haushaltsangehörige" von Wanderarbeitnehmern erfasst und lediglich deren genauere Abgrenzung den jeweiligen nationalen Rechtsvorschriften vorbehalten will, nach denen bestimmte Leistungen gewährt werden. Steht - wie hier - fest, dass die Kinder mit ihrem Stiefvater im gemeinsamen Haushalt leben und von diesem auch versorgt werden, kann an deren - somit in den Kernbereich des Begriffs fallenden - Haushaltszugehörigkeit kein Zweifel bestehen. Entgegen den Bedenken im Revisionsrekurs kann die Tatsache, dass der Stiefvater für den Unterhalt der Kinder - im bescheidenen Umfang - aufkommt, einer Vorschussgewährung nicht entgegenstehen, weil nach § 7 Abs 3 UVG sogar die (subsidiäre) Unterhaltspflicht eines Dritten ohne Bedeutung wäre.

Ist nun davon auszugehen, dass die Kinder als "Familienangehörige" ihres Stiefvaters anzusehen sind, bleibt die Frage zu prüfen, ob dieser "Wanderarbeitnehmer" im Sinne des Art 1 lit a der VO ist. Diese Frage kann jedoch nicht abschließend beantwortet werden, weil die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanzen keinen Hinweis darauf enthalten, ob sich der Stiefvater erst nach seiner Pensionierung im Inland niedergelassen hat oder ob er sich als Arbeitnehmer oder Selbstständiger nach Österreich begeben und erst nach einer Erwerbstätigkeit im Inland die Pension angetreten hat. Nach der Rechtsprechung des EuGH unterliegt nämlich ein Arbeitnehmer, der seine im Gebiet eines Mitgliedstaats ausgeübte Tätigkeit beendet und danach nicht im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats gearbeitet hat, weiterhin der Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats seiner letzten Beschäftigung (Rs 302/84 - Ten Holder). Begibt sich eine solche Person erst nach Beendigung ihrer Berufslaufbahn in einen anderen Mitgliedstaat, in dessen Systeme der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbstständige er somit auch nicht eingegliedert wird, ist er von der Begriffsbestimmung des Art 1 lit a der VO nicht erfasst.

Das Erstgericht wird das Verfahren durch die fehlenden Tatsachenfeststellungen zu ergänzen und dann neuerlich zu entscheiden haben.

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