OGH 10ObS150/04p

OGH10ObS150/04p12.10.2004

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Kainz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Johann Ellersdorfer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Harald T*****, Angestellter, *****, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert-Stifter-Straße 65, vertreten durch Dr. Vera Kremslehner und andere Rechtsanwälte in Wien wegen Versehrtenrente, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. Mai 2004, GZ 12 Rs 4/04a-55, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Wels als Arbeits- und Sozialgericht vom 20. November 2003, GZ 32 Cgs 158/01a-51, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie als Endurteil insgesamt zu lauten haben:

"Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, dem Kläger ab 17. November 2000 für die Folgen der Arbeitsunfälle vom 22. Juni 1989 und 16. Dezember 1991 eine Gesamtrente im Ausmaß von 35 vH der Vollrente zu gewähren, wird abgewiesen."

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger erlitt am 22. 6. 1989 und am 16. 12. 1991 Arbeitsunfälle.

Beim ersten Unfall geriet der Kläger mit seiner linken Hand in eine Exzenterpresse und zog sich dabei einen Trümmerbruch des Endgliedes am linken Finger, einen offenen Bruch des Nagelfortsatzes am linken Ringfinger und einen Hautdeffekt des linken Zeigefingers zu. Diese Verletzungen führten zu einer Amputation des Zeige- und Mittelfingers in der Mittelphalanx und zu einer Rückkürzung der Endphalanx des Ringfingers. Aufgrund der Folgen des ersten Unfalls wurde dem Kläger von der beklagten Partei eine Entschädigung im Ausmaß von 20 vH der Vollrente für die Zeit vom 9. 10. 1989 bis 31. 10. 1990 gewährt. Das über den 31. 10. 1990 hinausgehende Rentenbegehren des Klägers wurde im Verfahren 25 Cgs 232/89 des Kreisgerichtes Wels als Arbeits- und Sozialgericht rechtskräftig abgewiesen, da nach den in diesem Verfahren eingehalten medizinischen Gutachten die Minderung der Erwerbsfähigkeit aufgrund der Folgen dieses Unfalles dauernd mit 10 vH zu bewerten war.

Beim zweiten Unfall geriet der Kläger bei der Prüfung der Dichtheit einer Ozonanlage in den Stromkreis eines Hochspannungstransformators. Er erlitt dabei Hautverbrennungen an den Finger der rechten Hand und am linken Unterschenkel. Als Unfallsfolgen bestehen beim Kläger eine Stromnarbe am linken Oberschenkel mit Druckempfindlichkeit und eine schmerzbedingte endlagige Beugeeinschränkung sowie eine Hautgefühlsstörung. Mit Bescheid der beklagten Partei vom 27. 4. 1993 wurde dem Kläger für die Folgen dieses Unfalles eine vorläufige Versehrtenrente im Ausmaß von 20 vH der Vollrente in der Zeit vom 3. 2. 1992 bis 31. 8. 1992 zuerkannt. Die vom Kläger gegen diesen Bescheid erhobene Klage wurde zurückgezogen.

Obwohl eine wesentliche Verschlimmerung der Unfallfolgen nicht festgestellt werden konnte, besteht nach der nunmehrigen Beurteilung der Unfallfolgen eine Minderung der Erwerbsfähigkeit nach dem ersten Unfall von 30 vH und nach dem zweiten Unfall von 5 vH; der Gesamtleidenszustand (aus beiden Unfällen) bewirkt eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 35 vH.

Mit Bescheid vom 6. 12. 2000 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 24. 8. 2000 auf Wiedergewährung einer Versehrtenrente für die Folgen seines Arbeitsunfalles vom 16. 12. 1991 ab.

Mit seiner gegen diesen Bescheid gerichteten Klage stellte der Kläger das - im zweiten Rechtsgang noch strittige - Begehren, die beklagte Partei schuldig zu erkennen, ihm für die Folgen der beiden Arbeitsunfälle eine Gesamtrente im Ausmaß von 35 vH der Vollrente ab 17. 11. 2000 zu gewähren.

Das Erstgericht gab diesem Klagebegehren im zweiten Rechtsgang statt. Es beurteilte den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt unter Hinweis auf die im ersten Rechtsgang im Teilurteil und Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichtes vom 17. 6. 2003 (ON 43) dargelegte Rechtsansicht dahin, dass in Anbetracht der Teilaufhebung des § 210 Abs 1 erster Satz ASVG durch den Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 12. 10. 2000, G 112/98-9 der Bildung einer Gesamtrente aus mehreren Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten das Erfordernis einer zusätzlichen Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 10 vH aufgrund des letzten Versicherungsfalles nicht mehr entgegenstehe. Der Kläger habe daher ab dem 17. 11. 2000, dem Tag der Kundmachung dieses Erkenntnisses, Anspruch auf eine Gesamtrente aufgrund beider Arbeitsunfälle im Ausmaß von 35 vH der Vollrente.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge und trug der beklagten Partei auf, dem Kläger eine vorläufige Zahlung von EUR 250 monatlich zu erbringen. Durch die Aufhebung der Wortfolge "und beträgt die durch diese neuerliche Schädigung allein verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit mindestens 10 vH" in § 210 Abs 1 erster Satz ASVG durch das bereits zitierte Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes sei während des laufenden Verfahrens eine Änderung der Rechtslage eingetreten. Diese Aufhebung sei mit dem Tag der Kundmachung im Bundesgesetzblatt, somit am 17. 11. 2000, in Kraft getreten. Seit diesem Tag stehe der Bildung einer Gesamtrente aus mehreren Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten das Erfordernis einer zusätzlichen Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 10 vH aus dem letzten Versicherungsfall nicht mehr entgegen, sodass der Kläger im Sinne der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes (10 ObS 23/02h, 10 ObS 125/02h) ab diesem Tag Anspruch auf Gewährung einer Gesamtrente nach § 210 Abs 1 ASVG für die Folgen der Arbeitsunfälle vom 22. 6. 1989 und 16. 12. 1991 habe. Der Umstand, dass der Versicherungsträger über die Bildung einer Gesamtrente nicht abgesprochen habe, stehe einer Entscheidung des Gerichtes über die Gesamtrente grundsätzlich nicht entgegen. Bei der Feststellung der Gesamtrente bestehe keine Bindung an die Grundlagen der zuvor durch den Versicherungsträger gewährten Einzelrenten. Die Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit aufgrund beider Unfälle betrage nach den vom Berufungsgericht als unbedenklich vernommenen Feststellungen des Erstgerichtes 35 vH.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Gesamtrentenbildung aufgrund früherer Arbeitsunfälle, die nicht in den Geltungszeitraum des § 210 ASVG idF BGBl I Nr 99/2001 fallen, möglich sei, erhebliche Bedeutung zukomme.

Gegen das Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision der beklagten Partei mit dem Antrag auf Abänderung der angefochtenen Entscheidung im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens. Hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Kläger hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; sie ist auch berechtigt.

Vor dem Eingehen auf die Revisionsausführungen der beklagten Partei ist zunächst allgemein darauf hinzuweisen, dass das Sozialgericht Rechtsänderungen bis zum Zeitpunkt des Schlusses der Verhandlung erster Instanz in seiner Entscheidung zu berücksichtigen hat. Dem Grundsatz der sukzessiven Kompetenz entsprechend hat nämlich das Sozialgericht seine Entscheidung über die mit einer Klage vom Versicherten geltend gemachten sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche völlig neu und unabhängig vom Verwaltungsverfahren zu treffen. Das Gericht hat die Sache nach allen Richtungen selbstständig zu beurteilen, wobei alle Änderungen (auch Gesetzesänderungen) jedenfalls bis zum Schluss der Verhandlung in erster Instanz zu berücksichtigen sind. Dieser Grundsatz gilt unabhängig davon, ob die Gesetzesänderung dem Versicherten zum Vorteil oder zum Nachteil gereicht (vgl SSV-NF 10/113 mwN). Dem Urteil eines Arbeits- und Sozialgerichtes ist somit auch in Sozialrechtssachen jene Sach- und Rechtslage zugrunde zu legen, wie sie sich bei Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz (also nicht bloß zum Zeitpunkt des maßgebenden Stichtages oder der Bescheiderlassung) präsentiert (10 ObS 242/01p; SSV-NF 12/154, 6/137, 3/134, 3/145 mwN ua; Fink, Die sukzessive Zuständigkeit im Verfahren in Sozialrechtssachen 510 mwN).

Es hat bereits das Berufungsgericht zutreffend darauf hingewiesen, dass sich seit der Antragstellung des Klägers bei der beklagten Partei am 24. 8. 2000 die Rechtslage in Bezug auf die für die Bildung einer Gesamtrente als Entschädigung aus mehreren Versicherungsfällen (§ 210 ASVG) erforderlichen Voraussetzungen mehrfach geändert hat. Nach der bereits seit dem Inkrafttreten des ASVG bestehenden Gesetzeslage war gemäß § 210 Abs 1 erster Satz ASVG unter anderem Voraussetzung für eine Entschädigung aus mehreren Versicherungsfällen (Arbeitsunfall oder Berufskrankheit) in Form einer Versehrtenrente (Gesamtrente), dass die durch die jeweils letzte Schädigung allein verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit mindestens 10 vH beträgt. Der Verfassungsgerichtshof hob mit Erkenntnis vom 12. 10. 2000, G 112/98-9, die auf das Vorliegen dieser Voraussetzung Bezug nehmende Wortfolge "und beträgt die durch diese neuerliche Schädigung allein verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit mindestens 10 vH" in § 210 Abs 1 erster Satz ASVG, BGBl Nr 189/1955 idF BGBl Nr 111/1986, als verfassungswidrig auf und sprach aus, dass frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Wirksamkeit treten. Diese Aufhebung trat am Tag der Kundmachung im Bundesgesetzblatt, somit am 17. 11. 2000 in Kraft (§ 140 Abs 5 B-VG). Auf die vor der Aufhebung "verwirklichten Tatbestände" ist das Gesetz - mit Ausnahme des Anlassfalles - weiter anzuwenden (Art 140 Abs 7 B-VG). Der erkennende Senat hat sich in den beiden bereits vom Berufungsgericht zitierten Entscheidungen 10 ObS 23/02h vom 19. 3. 2002 (= SSV-NF 16/16) und 10 ObS 125/02h vom 16. 4. 2002 ausführlich mit der Frage beschäftigt, wann im Zusammenhang mit der Bildung einer Gesamtrente aus mehreren Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten ein "verwirklichter Tatbestand" iSd Art 140 Abs 7 B-VG gegeben sei. Nach Darstellung von in der Judikatur des Obersten Gerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofes zu dieser Frage vertretenen Rechtsansichten wurde auch auf die in der Rechtsprechung zu einer vergleichbaren Problematik, nämlich der Festlegung des zeitlichen Geltungsbereiches eines kundgemachten Gesetzes (§ 5 ABGB), vertretene Ansicht Bezug genommen, wonach für Dauersachverhalte die Rechtsfolgen des neuen Gesetzes ab seinem Inkrafttreten gelten. Der Ansicht der beklagten Partei, dass im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung grundsätzlich immer auf den Eintritt des Versicherungsfalles abzustellen sei, wurde entgegen gehalten, dass diese Auffassung nicht zwingend sei und der Gesetzgeber im Bereich der Berufskrankheiten teilweise ausdrücklich auch eine rückwirkende Anerkennung der Berufskrankheit vorsehe, eine Gewährung von Leistungen jedoch nur für die Zukunft normiere. Es sei in diesem Sinne vom Obersten Gerichtshof auch bereits im Bereich des Krankenversicherungsrechtes entschieden worden, dass sich die Höhe des Krankengeldes, auf welches ein Versicherter Anspruch habe, bei einer Gesetzesänderung bis zu diesem Zeitpunkt nach altem Recht, ab diesem Zeitpunkt aber nach neuem Recht richte, auch wenn der Versicherungsfall während der Geltung des alten Rechtes eingetreten sei. Der erkennende Senat gelangte aufgrund dieser Erwägungen zu dem Ergebnis, dass seit dem Tag der Kundmachung des zitierten Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes im Bundesgesetzblatt (17. 11. 2000) der Bildung einer Gesamtrente aus mehreren Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten das Erfordernis einer zusätzlichen Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 10 vH aus dem letzten Versicherungsfall nicht mehr entgegenstehe, auch wenn der letzte Versicherungsfall bereits während der Geltung des alten Rechtes eingetreten sei. Dieser Auffassung hat sich auch das Berufungsgericht angeschlossen.

Wie bereits dargelegt wurde, ist bei der Entscheidung aber auch die weitere Entwicklung der Rechtslage zu berücksichtigen. So hat der Gesetzgeber mit der 58. ASVG-Novelle (BGBl I Nr 99/2001) eine Neuregelung der Gesamtrentenbildung in der Unfallversicherung unter Berücksichtigung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes vorgenommen. § 210 Abs 1 erster Satz ASVG erhielt folgende Neufassung:

"Wird ein Versehrter neuerlich durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit geschädigt und erreicht die Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit aus Versicherungsfällen nach diesem Bundesgesetz mindestens 20 % ..............., so ist spätestens vom Beginn des dritten Jahres nach dem Eintritt des letzten Versicherungsfalles an eine Gesamtrente festzustellen."

Diese Neuregelung ist gemäß § 593 Abs 1 ASVG mit 1. August 2001 in Kraft getreten.

Zu berücksichtigen ist im vorliegenden Fall im Sinne der Revisionsausführungen der beklagten Partei aber vor allem auch, dass der Gesetzgeber nach Fällung der Entscheidungen 10 ObS 23/02h (= SSV-NF 16/16) und 10 ObS 125/02h eine ausdrückliche Klarstellung dahingehend vorgenommen hat, dass die Neuregelung der Gesamtrentenbildung im Rahmen der 58. ASVG-Novelle nur auf Versicherungsfälle anzuwenden ist, die nach deren Wirksamkeitsbeginn eingetreten sind. Nach der Übergangsbestimmung des § 593 Abs 3a ASVG idF BGBl I Nr 140/2002 (60. ASVG-Novelle) ist § 210 idF des Bundesgesetzes BGBl I Nr 99/2001 nur anzuwenden, wenn der letzte Versicherungsfall nach dem 31. Juli 2001 eingetreten ist. Nach den Erläuternden Bemerkungen zur RV 1183 BlgNR XXI. GP 29 soll durch diese Übergangsbestimmung zur Vermeidung von Ungleichheiten sowie im Sinne der Rechtssicherheit eindeutig klargestellt werden, dass die im Rahmen der 58. ASVG-Novelle normierte Neuregelung der Gesamtrentenbildung nach § 210 ASVG nur anzuwenden ist, wenn der letzte Versicherungsfall nach dem 31. Juli 2001 eingetreten ist. Damit seien auch die Rechtsgrundlagen im Wege der sukzessiven Kompetenz klar abgegrenzt. Diese Übergangsbestimmung ist gemäß § 600 Abs 1 Z 1 ASVG mit 1. September 2002 in Kraft getreten.

Durch diese Übergangsbestimmung wird zum einen klargestellt, dass die im Zuge der 58. ASVG-Novelle mit Wirksamkeit ab 1. 8. 2001 erfolgte Neuregelung der Gesamtrentenbildung auf den vorliegenden Fall keine Anwendung zu finden hat, und zum anderen, dass der Gesetzgeber im Zusammenhang mit der Frage, welche Rechtslage bei der Gesamtrentenbildung Anwendung finden soll, im Übergangsrecht auf den Zeitpunkt des Eintrittes des letzten Versicherungsfalles abstellt. Nur wenn der letzte Versicherungsfall nach dem Inkrafttreten der Neuregelung der Gesamtrentenbildung eingetreten ist, soll die neugeschaffene Rechtslage Anwendung finden. Damit hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass für die Frage, welche Rechtslage im Zuge einer Gesamtrentenbildung nach § 210 ASVG zur Anwendung gelangen soll, der Eintritt des letzten Versicherungsfalles maßgebend sein soll. Diese Wertung des Gesetzgebers ist nach Ansicht des erkennenden Senates auch für die Beurteilung der Frage, wann ein vor der Aufhebung "verwirklichter Tatbestand" iSd Art 140 Abs 7 B-VG vorliegt, wesentlich. Auch in dieser Frage ist daher entgegen der noch in den Entscheidungen 10 ObS 23/02h (= SSV-NF 16/6) und 10 ObS 125/02h vertretenen Rechtsansicht unter Berücksichtigung der durch den Gesetzgeber mittlerweile vorgenommenen Klarstellung auf den Zeitpunkt des Eintritts des letzten Versicherungsfalles abzustellen. Dies bedeutet, dass in den Fällen (mit Ausnahme der sogenannten "Anlassfälle"), in denen der letzte Versicherungsfall vor dem Zeitpunkt der Kundmachung des bereits mehrfach erwähnten Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes im Bundesgesetzblatt (17. 11. 2000) eingetreten ist, weiterhin (ausschließlich) das alte Recht maßgebend sein soll. Die erkennbare Absicht des Gesetzgebers geht also in diesen Fällen dahin, eine neuerliche Aufrollung von bereits vor diesem Zeitpunkt eingetretenen Versicherungsfällen zur Vermeidung von Ungleichheiten sowie im Sinne der Rechtssicherheit zu vermeiden. In den Fällen, in denen der letzte Versicherungsfall im Zeitraum nach der Kundmachung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes (17. 11. 2000) und vor dem Inkrafttreten der im Zuge der 58. ASVG-Novelle mit Wirksamkeit ab 1. 8. 2001 erfolgten Neuregelung der Gesamtrentenbildung eingetreten ist, wird § 210 ASVG in der durch die Kundmachung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes (BGBl I 2000/113) geänderten Fassung, somit ohne die Einschränkung, dass die durch die neuerliche Schädigung allein verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit mindestens 10 vH beträgt, anzuwenden sein. Wenn der letzte Versicherungsfall hingegen nach dem Inkrafttreten der Neuregelung der Gesamtrentenbildung eingetreten ist, hat die neugeschaffene Rechtslage Anwendung zu finden.

Der vom Kläger aufgrund der beiden Arbeitsunfälle vom 22. 6. 1989 und 16. 12. 1991 geltend gemachte Anspruch auf Gesamtrente bezieht sich im Sinne der dargelegten Ausführungen somit auf ausschließlich vor der Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof verwirklichte Tatbestände. Dies bedeutet, dass im vorliegenden Fall, der kein "Anlassfall" iSd Art 140 Abs 7 B-VG ist, § 210 Abs 1 erster Satz ASVG idF BGBl Nr 111/1986, also einschließlich der Wortfolge "und beträgt die durch diese neuerliche Entschädigung allein verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit mindestens 10 vH", weiterhin anzuwenden ist (vgl 10 ObS 320/02k mwN ua). Soweit ein vom Verfassungsgerichtshof aufgehobenes Gesetz weiterhin anzuwenden ist, ist eine neuerliche Überprüfung dieses Gesetzes durch den Verfassungsgerichtshof ausgeschlossen. Der Verfassungsgerichtshof nimmt an, das Rechtsvorschriften, die von ihm - allenfalls auch unter Fristsetzung - aufgehoben wurden, für die Vergangenheit unangreifbar geworden sind (Mayer, B-VG³ Art 140 I.3; VfSlg 8.277, 12.564 ua, 10 ObS 320/02k mwN ua). Der Oberste Gerichtshof kann daher die Frage der Verfassungsmäßigkeit der genannten Bestimmung nicht neuerlich an den Verfassungsgerichtshof herantragen.

Für einen Anspruch des Klägers auf Gesamtrente ist somit weiterhin Voraussetzung, dass für den neuerlichen Arbeitsunfall (hier: vom 16. 12. 1991) eine wenigstens 10 %-ige Minderung der Erwerbsfähigkeit vorliegt. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen beträgt die Minderung der Erwerbsfähigkeit aus dem Arbeitsunfall vom 16. 12. 1991 jedoch lediglich 5 vH, weshalb der vom Kläger begehrte Zuspruch einer Gesamtrente nicht in Betracht kommt.

Es waren daher in Stattgebung der Revision der beklagten Partei die Urteile der Vorinstanzen im Sinne der Abweisung des Klagebegehrens abzuändern.

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