OGH 12Os23/04

OGH12Os23/0417.6.2004

Der Oberste Gerichtshof hat am 17. Juni 2004 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schindler als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Holzweber, Dr. Philipp, Dr. Schwab und Dr. Lässig als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Felbab als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Wolfgang J***** und Ingeborg J***** wegen des Verbrechens des gewerbsmäßig schweren Betruges nach §§ 146, 147 Abs 3, 148 zweiter Fall StGB, AZ 25 Vr 1774/92 (nunmehr: 25 Ur 318/03p) des Landesgerichtes Salzburg, über die vom Generalprokurator gegen den Beschluss des Untersuchungsrichters vom 1. August 2003 (ON 89) erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin des Generalprokurators, Generalanwältin Dr. Aicher, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Beschluss des Untersuchungsrichters vom 1. August 2003 (ON 89), womit die Voruntersuchung gemäß § 109 Abs 2 StPO eingestellt wurde, verletzt das Gesetz in den Bestimmungen des § 109 Abs 2 StPO und des Art 54 SDÜ (BGBl III Nr 90/1997).

Text

Gründe:

Gegen den (vormals deutschen, nunmehr kanadischen) Staatsangehörigen Wolfgang J***** und gegen die deutsche Staatsangehörige Ingeborg J***** war seit 16. Juli 1992 beim Landesgericht Salzburg zu AZ 25 Vr 1774/92 ein Strafverfahren wegen des Verdachtes des schweren gewerbsmäßigen Betruges nach §§ 146, 147 Abs 3, 148 zweiter Fall StGB anhängig, weil sie in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit anderen (nur in Deutschland gesondert verfolgten) Personen von August 1988 bis Dezember 1988 in Oldenburg/Deutschland und anderen Orten (von der in Österreich ansässigen Firma G***** GmbH beauftragte) Frachtführer, denen eine vorangegangene ordnungsgemäße Zollabfertigung vorgetäuscht worden war, zur Ausfolgung von Fleisch aus dem ehemaligen Jugoslawien und der ehemaligen Tschechoslowakei verleitet haben sollen, wodurch die Firma G***** GmbH, welche Haftungserklärungen gegenüber dem deutschen Zollamt abgegeben hatte, in 21 Fällen zur Zahlung von Zöllen herangezogen wurde und einen Schaden in Höhe von

4,685.735,90 DM (2,395.778 EUR) erlitten hat. Die jeweils schweren Betrügereien sollen sie in der Absicht, sich durch deren wiederkehrende Begehung eine fortlaufende Einnahme zu verschaffen, begangen haben. Das Verfahren wurde in Österreich aufgrund einer Anzeige der Geschädigten eingeleitet (S 31 ff; ON 2/I). Wegen desselben Sachverhaltes war gegen beide Beschuldigte bei der Staatsanwaltschaft beim Amtsgericht Oldenburg zu AZ 182 Js 34342/89 ein Strafverfahren wegen des Verdachtes der Steuerhinterziehung nach § 370 Abs 1 Nr 1 dAbgO, des Betruges nach § 263 Abs 1 dStGB, des Siegelbruchs nach 136 Abs 2 dStGB sowie der Amtsanmaßung nach § 132 dStGB anhängig.

Die Beschuldigten emigrierten nach Kanada; Auslieferungsverfahren blieben erfolglos. Sowohl im österreichischen als auch im deutschen Verfahren ergingen (internationale) Haftbefehle (siehe ON 29, 57, 77 des Aktes 25 Vr 1774/92 des Landesgerichtes Salzburg; S 60 ff/IV des Aktes 182 Js 34342/89a der Staatsanwaltschaft Oldenburg, AZ 44 Gs 3410/92 des Amtsgerichtes Oldenburg), die jedoch widerrufen wurden. Mit "Verfügung" der Staatsanwaltschaft beim Amtsgericht Oldenburg vom 30. Juli 1998 wurde das in Deutschland anhängige Strafverfahren gegen beide Beschuldigte infolge Eintritts der absoluten Strafverfolgungsverjährung gemäß § 170 Abs 2 dStPO eingestellt (S 177 verso/IV der deutschen Ermittlungsakten).

Der Untersuchungsrichter beim Landesgericht Salzburg fasste am l. August 2003 im Hinblick auf die Verfahrenseinstellung in Deutschland den Beschluss auf Einstellung des (inländischen) Strafverfahrens gemäß § 109 Abs 2 StPO mit der Begründung, es sei im deutschen Strafverfahren ein "nicht behebbares Verfahrenshindernis" eingetreten, sodass es unbeachtlich sei, dass die Einstellung des Strafverfahrens nach § 170 Abs 2 (erster Satz) dStPO erfolgte, welche "in der Regel" keinen Strafklageverbrauch bewirke. Im Lichte der Entscheidungen des EuGH vom 11. Februar 2003 in den Verfahren C-187/01 und C-385/01 (Gözütok und Bruegge) sei dies als rechtskräftige Aburteilung im Sinne des Art 54 SDÜ zu werten und stehe der Strafverfolgung in Österreich daher das Verbot des ne bis in idem entgegen (ON 89).

Die von der Staatsanwaltschaft Salzburg dagegen erhobene Beschwerde (ON 90) wurde vom Oberlandesgericht Linz wegen Verspätung zurückgewiesen (ON 96). Der Einstellungsbeschluss ist daher rechtskräftig.

Rechtliche Beurteilung

Der Beschluss des Untersuchungsrichters des Landesgerichtes Salzburg vom l. August 2003, GZ 15 Vr 1774/92-89, steht - wie der Generalprokurator in seiner zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt - mit dem Gesetz nicht in Einklang.

Das am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichnete Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik ist seit dem 26. März 1995 für Deutschland und seit 27. Mai 1997 für Österreich (BGBl III Nr 90/1997) in Kraft gesetzt. Nach Art 54 SDÜ darf derjenige, der durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall der Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaates nicht mehr vollstreckt werden kann. Der von Österreich gemäß Artikel 55 Abs 1 lit a erster Halbsatz SDÜ erklärte Vorbehalt steht der Anwendung von Artikel 54 SDÜ im vorliegenden Fall nicht entgegen. Denn nach dem zweiten Halbsatz der Regelung greift der Vorbehalt dann nicht ein, wenn die Tat - wie hier - teilweise in dem Hoheitsgebiet der Vertragspartei begangen wurde, in dem das Urteil ergangen ist.

Zentraler Anknüpfungspunkt für ein solches europäisches Verbot doppelter Strafverfolgung ist dabei zunächst das Erfordernis einer "rechtskräftigen Aburteilung" im Erstentscheidungsstaat. Einigkeit besteht darüber, dass neben gerichtlichen Verurteilungen auch Freisprüche ein Verfahrenshindernis auszulösen vermögen (vgl Schomburg-Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen3 [1998] Art 54 SDÜ Rz 4 u 11; Schomburg, Internationales "ne bis in idem" nach Art 54 SDÜ, StV 1997, 384; ders, Das Schengener Durchführungsübereinkommen, JB1 1997, 557; Radtke/Busch, Transnationaler Strafklageverbrauch in den sogenannten Schengen-Staaten?, EuGRZ 2000, 425; Auer, Zu den Auswirkungen eines internationalen "ne bis in idem" für Österreich, RZ 2000, 53 f; Ebensperger, Strafrechtliches "ne bis in idem" in Österreich unter besonderer Berücksichtigung internationaler Übereinkommen, ÖJZ 1999, 182 f).

Das Verbot der Doppelbestrafung gilt auch - nach den in einem Vorabentscheidungsverfahren durch den EuGH (Entscheidung vom 11. Februar 2003, Strafverfahren gegen Gözütok und Brügge, Rs C-187/0l und C-385/01 , Newsletter 2003, 36) aufgestellten Grundsätzen - für zum Strafklageverbrauch führende Verfahren der "in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden" Art, in denen die Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats ohne Mitwirkung eines Gerichts ein in diesem Mitgliedstaat eingeleitetes Strafverfahren einstellt, nachdem der Beschuldigte bestimmte Auflagen erfüllt und insbesondere einen bestimmten, von der Staatsanwaltschaft festgesetzten Geldbetrag entrichtet hat. Diese - vom Generalanwalt vorgeschlagenen (EuGRZ 2002, 566 f) - Einschränkungen, nämlich dass die festgelegten Auflagen Sanktionscharakter haben, die Vereinbarung ein ausdrückliches oder stillschweigendes Schuldanerkenntnis und demzufolge ein ausdrückliches oder stillschweigendes Urteil über die Strafbarkeit des Verhaltens enthält sowie dem Opfer und anderen Betroffenen, die gegebenenfalls zivilrechtliche Ansprüche haben, keinen Nachteil zufügt, stellen wesentliche Auslegungskriterien dar (Radtke/Busch, Transnationaler Strafklagenverbrauch in der Europäischen Union, NStZ 2003, 281 ff).

Es sprechen sowohl die Fassung des amtlichen deutschen Textes des Art 54 SDÜ als auch der Wille zumindest der österreichischen (und deutschen; vgl BGH 10. Juni 1999, 4 StR 87/98, NStZ 1999, 579) Vertragspartei für die Auffassung, durch das Übereinkommen solle der Grundsatz "ne bis in idem" nur auf ausländische "Urteile" und diesen gleichstehende staatsanwaltliche verfahrensbeendende Entscheidungen mit Sanktionscharakter erstreckt werden, aber nicht auf die bloße Einstellung eines Verfahrens durch den Staatsanwalt mangels hinreichender Beweise (Bohnert/Lagodny, Art 54 SDÜ im Lichte nationaler Wiederaufnahmegründe, NStZ 2000, 636). Dass der Begriff der "rechtskräftigen Aburteilung" auch den Freispruch erfasst, bedeutet somit selbst unter Berücksichtigung des erwähnten Erkenntnisses des EuGH, in welchem diversionellen Entscheidungen Verurteilungscharakter zugemessen wurde, nicht, dass jede Einstellungs-Entscheidung des Staatsanwaltes einem auf Freispruch erkennenden Urteil gleichzusetzen ist.

Vorliegend kommt der Einstellungserklärung des Staatsanwaltes nach § 170 Abs 2 erster Satz dStPO, gestützt auf welchen Rechtsgrund immer, bereits nach deutschem Recht keine Rechtskraftwirkung zu (vgl Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO46 § 170 Rz 9; ausführlich Radtke, Bestandskraft staatsanwaltlicher Einstellungsverfügungen und die Identität des wiederaufgenommenen Verfahrens, NStZ 1999, 481 ff); daraus folgt, dass einer Strafverfolgung der Beschuldigten in Österreich die Hinderung ihrer weiteren Strafverfolgung in Deutschland mangels einer dort getroffenen materieller Rechtskraft zugängigen endgültigen Sachentscheidung der Grundsatz "ne bis in idem" nicht entgegensteht (Radtke/Busch NStZ 2003, 285 f; Nehm, FS Steininger, 383). Selbst wenn sich die Staatsanwaltschaft - wie vorliegend - auf Verfolgungsverjährung (§§ 78 ff dStGB) beruft, welche nach deutscher Rechtslage ein Prozesshindernis (Stree/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder StGB26 Vorbem §§ 78 ff Rz 3) und nicht - wie in Österreich - Strafaufhebungsgrund (Leukauf/Steininger Komm3 § 57 RN 1) ist, kann für die Frage der Rechtskraft nichts anderes gelten (instruktiv gegen einen begrenzten Strafklageverbrauch de lege lata Radtke, NStZ 1999, 483). Haben die Beschuldigten auch in Deutschland faktisch keine erneute Strafverfolgung zu befürchten, muss dies bei der Bewertung, ob der Verfolgung ein rechtliches Hindernis entgegensteht, außer Betracht bleiben. Aus der nach deutscher Rechtslage prozessualen Natur der Verjährung ergibt sich, dass in der Bundesrepublik Deutschland ein Gerichtsverfahren einzustellen wäre (§ 206a dStPO) oder, sofern dies nicht erfolgte, ein Urteil auf Einstellung zu lauten hätte und nicht auf Freispruch (Stree/Sternberg-Lieben aaO Rz 5).

Daraus erhellt, dass die Annahme des Erstgerichtes, durch die Entscheidung der Staatsanwaltschaft beim Amtsgericht Oldenburg vom 30. Juli 1998 sei bezüglich des den beiden Beschuldigten angelasteten Tatverhaltens materiell "Strafklageverbrauch" eingetreten, weil ein dauerndes Verfolgungshindernis vorliege und es auf die Qualität der Entscheidung (Einstellung durch Staatsanwaltschaft oder durch Gericht) nicht ankomme (Beschluss ON 89, S 3), verfehlt ist. Art 54 SDÜ steht vielmehr einer Verfolgung in Österreich nicht entgegen. Da sich die angefochtene Entscheidung für die Beschuldigten als vorteilhaft erweist, muss es mit der Feststellung der Rechtsverletzung sein Bewenden haben.

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