OGH 1Ob262/03s

OGH1Ob262/03s16.12.2003

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer, Dr. Zechner und Univ. Doz. Dr. Bydlinski als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Nazife S*****, und Zehra S*****, infolge ordentlichen Revisionsrekurses der Kinder, vertreten durch den Magistrat der Stadt Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 14. August 2003, GZ 43 R 543/03a, 544/03y-111, womit den Rekursen gegen die Beschlüsse des Bezirksgerichts Favoriten vom 19. Mai 2003, GZ 6 P 2924/95i-104, 105 teilweise Folge gegeben wurde, folgenden

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Das Erstgericht verhielt mit Beschluss vom 3. Februar 1995 den einkommenslosen Unterhaltsschuldner nach dem Grundsatz der "Anspannung" zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von je ATS 1.800,-- an die beiden Kinder.

Vom Erstgericht wurden den beiden Minderjährigen für die Zeit vom 1. April 2003 bis 31. März 2006 jeweils Unterhaltsvorschüsse gemäß § 4 Z 2 UVG von monatlich EUR 130,81 gewährt.

Das Rekursgericht änderte die angefochtenen Beschlüsse dahin ab, dass den beiden Kindern im genannten Zeitraum gemäß § 4 Z 2 UVG Unterhaltsvorschüsse von bloß jeweils monatlich EUR 50,-- gewährt wurden; das Mehrbegehren der Kinder auf Vorschussgewährung in voller Höhe des Richtsatzes nach § 6 UVG wurde hingegen abgewiesen. Der ordentliche Revisionsrekurs wurde für zulässig erklärt. Das Gericht zweiter Instanz begründete seine Entscheidung damit, dass Vorschussleistungen aus öffentlichen Mitteln nur an die Stelle der vom Unterhaltsschuldner konkret zu erbringenden, wenn auch betraglich noch nicht feststehenden Leistungen treten sollen und es sich letztlich beim Unterhaltsvorschuss um keine Sozialleistung des Staates handle. Weiters gestatte und zwinge die Einschränkungsbestimmung des § 4 Z 2 letzter Halbsatz UVG zu einer entsprechenden Einschränkung der Richtsatzquote nach § 6 UVG, weil auch ein pauschalierter Vorschuss den Umfang der konkreten Unterhaltspflicht nicht übersteigen solle. Da der Unterhaltsschuldner nach seinen - unter den gegebenen Umständen anzunehmenden - Leistungsmöglichkeiten in der Türkei nur zu einer geringen Unterhaltsleistung im Stande sei, sei ein monatlicher Betrag von EUR 50,-- je Kind gerechtfertigt und angemessen. Eine gänzliche Verweigerung von Unterhaltsvorschüssen komme allerdings nicht in Betracht, weil der Bund den Beweis für die offenbare Leistungsunfähigkeit des Unterhaltsschuldners schuldig geblieben sei.

Der ordentliche Revisionsrekurs sei gemäß § 14 Abs 1 AußStrG zulässig, weil zur Frage, ob den vorschusswerbenden Kindern in jedem Fall ein Anspruch auf volle Richtsatzvorschüsse nach § 6 Abs 2 UVG zukommt, keine einheitliche höchstgerichtliche Judikatur vorliege.

Der ordentliche Revisionsrekurs der Kinder ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Sowohl das Rekursgericht als auch die Revisionsrekurswerberinnen gehen zu Unrecht davon aus, dass ein Anwendungsfall des § 4 Z 2 UVG vorliege. Dabei übersehen sie offenbar, dass die genannte Bestimmung zwei unterschiedliche Fälle regelt. Einerseits soll ein Anspruch auf Unterhaltsvorschuss dann bestehen, wenn "die Festsetzung des Unterhaltsbeitrages überhaupt ... nicht gelingt", also die Schaffung eines Unterhaltstitels zugunsten des Unterhaltsberechtigten gegen den Unterhaltsschuldner nicht möglich ist; dann ist die Vorschussgewährung nur ausgeschlossen, wenn der Unterhaltsschuldner nach seinen Kräften offenbar zu einer, also zu irgend einer wenngleich nur geringfügigen Unterhaltsleistung nicht imstande ist. Diese Voraussetzungen liegen hier zweifellos nicht vor, weil ein (vom Erstgericht geschaffener) Unterhaltstitel aus dem Jahr 1995 besteht.

Die zweite Fallgruppe des § 4 Z 2 UVG erfasst Unterhaltsberechtigte, die zwar über einen mehr als drei Jahre alten Unterhaltstitel verfügen, eine "Erhöhung des Unterhaltsbeitrages", also eine Erhöhung der Unterhaltsverpflichtung des Schuldners durch Erwirkung eines insoweit abgeänderten Unterhaltstitels, jedoch aus "Gründen auf Seite des Unterhaltsschuldners" nicht erlangen können; zu diesen Gründen zählt insbesondere ein unbekannter Aufenthalt des Unterhaltsschuldners, verbunden mit der daraus resultierenden Unmöglichkeit, dessen Einkommens- und Vermögensverhältnisse festzustellen. In diesen Fällen soll grundsätzlich Unterhaltsvorschuss gebühren, außer der Unterhaltsschuldner ist "nach seinen Kräften offenbar zu einer ... höheren Unterhaltsleistung nicht imstande". Der bloße Umstand, dass der Unterhaltsschuldner irgend eine (geringe) Unterhaltsleistung erbringen kann, steht daher in den Fällen des (behaupteten) "Mindertitels" einer Verweigerung von Unterhaltsvorschüssen nicht entgegen, sofern erweislich bzw evident ist, dass die materielle Unterhaltspflicht des Schuldners die bereits titelmäßig ausgesprochene betragsmäßig nicht übersteigt.

Diese Regelung geht einerseits davon aus, dass die seinerzeit der Höhe nach festgesetzte Unterhaltsverpflichtung den damaligen Verhältnissen entsprochen hat; andererseits soll dem - wenn schon nicht typischen, so doch - häufigen Geschehnisverlauf Rechnung getragen werden, dass sich die Einkommensverhältnisse des Unterhaltsschuldners nach einigen Jahren - wenn auch allenfalls nur als Folge der Geldentwertung - nominell verbessert haben und dies nicht nur eine Erhöhung seiner Unterhaltspflicht nach sich zieht, sondern sich auch auf die Höhe der Unterhaltsvorschüsse auswirken soll; mangels Aufklärbarkeit des Ausmaßes der (somit gesetzlich vermuteten) Erhöhung der Unterhaltsbemessungsgrundlage sollen nach verbreiteter Auffassung (vgl dazu nur Neumayr in Schwimann2, § 4 UVG Rz 25 mwN) im Zweifel Unterhaltsvorschüsse in Höhe des Richtsatzes gewährt werden, dies selbst dann, wenn die Richtsatzvorschüsse wahrscheinlich höher sind als (fiktive) Titelvorschüsse für den Fall, dass eine Titelerhöhung gelungen wäre. Diese Rechtsfolge ist nach der insoweit deutlichen gesetzlichen Anordnung allerdings dann nicht gerechtfertigt, wenn sich die (Einkommens-)Verhältnisse - bzw die Erwerbsmöglichkeiten iS einer "Anspannung" - des Unterhaltsschuldners gegenüber den der seinerzeitigen Unterhaltsfestsetzung zugrunde liegenden Umständen offenbar nicht verbessert haben.

Gerade davon ist im vorliegenden Fall auszugehen. Das Rekursgericht hat unter Berücksichtigung der "durch die Aktenlage dokumentierten Umstände" die Feststellung getroffen, der Vater sei zur Leistung eines Unterhalts "in geringer Höhe" in der Lage (wobei es in der Folge von einem Einkommen ausgeht, das Unterhaltszahlungen von monatlich EUR 50 je Kind ermöglichte). Hat das Rekursgericht nun - für den Obersten Gerichtshof unüberprüfbar - ein Einkommen des Vaters "in geringer Höhe" festgestellt, so ist damit erwiesen, dass der Vater zu einer höheren Unterhaltsleistung als der mit S 1.800 (= EUR 130,81) monatlich je Kind titelmäßig festgesetzten Leistung nicht imstande ist. Damit sind aber die Voraussetzungen für die beantragte Vorschussgewährung nach § 4 Z 2 UVG nicht gegeben. Entgegen der Auffassung der Revisionsrekurswerberinnen reicht es nicht aus, dass der Unterhaltsschuldner "zumindest zu einer gewissen Unterhaltsleistung" in der Lage ist. Dies würde nur dann die Vorschussgewährung nach § 4 Z 2 UVG rechtfertigen, wenn die Schaffung eines gerichtlichen Unterhaltstitels aus Gründen auf Seite des Unterhaltsschuldners niemals möglich gewesen wäre, was jedoch hier nicht der Fall ist.

Der gänzliche "Entfall" von Vorschüssen nach Z 2 zweite Alternative in jenen Fällen, in denen die nach Ablauf von drei Jahren eintretende Vermutung eines "Mindertitels" entkräftet werden kann, erweist sich gegenüber der gesetzlichen Regelung bei Fehlen eines Titels (Z 2 erste Alternative) deshalb als sachgerecht, weil in diesen Fällen dem Unterhaltsberechtigten regelmäßig Vorschüsse nach § 4 Z 1 iVm § 5 Abs 1 Satz 1 UVG ("Titelvorschüsse") zu gewähren sind, soweit nicht die Voraussetzungen für eine Versagung nach § 7 Abs 1 Z 1 UVG vorliegen.

Die vom Rekursgericht aufgeworfene Frage, ob bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 4 Z 2 UVG Unterhaltsvorschüsse stets in Höhe der Richtsätze nach § 6 Abs 2 UVG zu gewähren sind, oder unter bestimmten Voraussetzungen auch geringer ausfallen können, stellt sich somit schon deshalb nicht, weil ein Anspruch auf Vorschussgewährung nach § 4 Z 2 UVG bereits dem Grunde nach zu verneinen ist. Die Revisionsrekurswerberinnen können sich daher durch die Entscheidung des Rekursgerichts nicht beschwert erachten. Die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen in Höhe von monatlich EUR 50 je Kind ist in Rechtskraft erwachsen.

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