OGH 12Os114/03

OGH12Os114/0311.12.2003

Der Oberste Gerichtshof hat am 11. Dezember 2003 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schindler als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Holzweber, Dr. Philipp, Dr. Schwab und Dr. Lässig als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Proksch als Schriftführer, in der Strafsache gegen Annemarie H***** wegen des Vergehens der Unterschlagung nach § 134 Abs 1 und Abs 3 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 39 Hv 528/01w des Landesgerichtes Wiener Neustadt, über die vom Generalprokurator gegen die Unterlassung der öffentlichen Verhandlung und der öffentlichen Verkündung der Entscheidung nach § 2 Abs 1 lit b StEG sowie gegen den Beschluss vom 21. Juli 2003 (ON 209) erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Fabrizy, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Es verletzen das Gesetz

l. die Unterlassung der öffentlichen Verkündung der Entscheidung über den von der Genannten gemäß § 2 Abs 1 lit b StEG geltend gemachten Ersatzanspruch in den Bestimmungen des § 6 Abs 4 StEG iVm Art 6 Abs 1

MRK;

2. der Beschluss vom 21. Juli 2003 (ON 209) in den Bestimmungen des § 2 Abs 1 lit b und Abs 2 StEG.

Dieser Beschluss wird aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Wiener Neustadt zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes verworfen.

Text

Gründe:

Annemarie H***** wurde am 6. April 1998 in Frankreich auf Grund des Haftbefehles des Landesgerichtes Wiener Neustadt vom 9. März 1998, GZ 31 Vr 570/97-14 und 20, festgenommen und dort in Auslieferungshaft genommen (S 229 ff, 239, 249 ff/I). Dem Haftbefehl lag der dringende Verdacht des Verbrechens des in sieben Angriffen begangenen schweren Betruges nach §§ 146, 147 Abs 3 StGB zugrunde.

Am 10. Juli 1998 erließ das Landesgericht Wiener Neustadt gegen die Genannte einen ergänzenden internationalen Haftbefehl wegen 23 weiterer versuchter bzw vollendeter Betrugstaten mit einem Schaden in der Höhe mehrerer Millionen Schilling (GZ 31 Vr 570/97-53, S 27 ff/III). Die Voruntersuchung war am 24. Juni 1998 auf diese Fakten ausgedehnt worden (S 3h/I).

Nach ihrer Überstellung nach Österreich am 18. Februar 1999 (S 375/III) wurde über Annemarie H***** am 20. Februar 1999 die Untersuchungshaft verhängt (S 399 ff/III); am 4. März 1999 wurde sie im Anschluss an eine Haftverhandlung unter Anwendung gelinderer Mittel und nach Erlag einer Sicherheitsleistung enthaftet (S 435/III).

Mit Urteil des Landesgerichtes Wiener Neustadt vom l6. März 2001, GZ 40 Vr 570/97-185, wurde Annemarie H***** hinsichtlich zweier Fakten des Vergehens des Betruges nach § 146 StGB (Gesamtschaden: 14.729,48 S) sowie des Vergehens der Unterschlagung nach § 134 Abs 1 und Abs 3 StGB (Schaden: 6.872,94 DM) schuldig erkannt. Diese Taten waren nicht vom (der Verhaftung zugrunde liegenden ersten) Haftbefehl vom 9. März 1998, aber vom ergänzenden Haftbefehl vom 10. Juli 1998 erfasst. Vom weitaus überwiegenden Teil der Anklagevorwürfe wurde Annemarie H***** rechtskräftig freigesprochen.

In teilweiser Stattgebung der von Annemarie H***** erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde hob der Oberste Gerichtshof mit Urteil vom 2. August 2001, GZ 12 Os 55/01-6 (ON 191), das erwähnte Urteil im Schuldspruch wegen des Vergehens der Unterschlagung auf und verwies die Strafsache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an den Einzelrichter des Landesgerichtes Wiener Neustadt zurück. Mit dessen rechtskräftigem Urteil vom 21. Dezember 2001, GZ 39 E Hv 528/01w-200, wurde Annemarie H***** schließlich des Vergehens der Unterschlagung nach § 134 Abs 1 und Abs 3 StGB schuldig erkannt und unter Berücksichtigung des in Rechtskraft erwachsenen Schuldspruchs wegen § 146 StGB zu einer Geldstrafe von 240 Tagessätzen zu je 100 S, im Fall der Uneinbringlichkeit zu 120 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe verurteilt. Die Vorhaft vom 6. April 1998, 18.00 Uhr, bis 4. März 1999, 10.00 Uhr, wurde auf die Strafe angerechnet.

Am 10. Dezember 2002 stellte Annemarie H***** beim Landesgericht Wiener Neustadt den Antrag, durch Beschluss festzustellen, dass ihr für die durch die erlittene Haft entstandenen vermögensrechtlichen Nachteile gemäß § 2 Abs 1 lit a StEG, in eventu gemäß § 2 Abs 1 lit b StEG ein Ersatzanspruch gegen den Bund zustehe (S 173 ff/V). Zur Entscheidung über diesen Antrag wurde der Akt dem Oberlandesgericht Wien vorgelegt, das den Akt dem Landesgericht Wiener Neustadt vorerst zur Entscheidung über den auf § 2 Abs 1 lit b StEG gestützten, auch amtswegig zu prüfenden Antrag der Annemarie H***** zurückstellte (S 179/V).

Die Ratskammer des Landesgerichtes Wiener Neustadt führte am 26. Februar 2003 in Gegenwart der Antragstellerin und eines Vertreters der Staatsanwaltschaft eine öffentliche Verhandlung über den geltend gemachten Anspruch auf Haftentschädigung durch, die auf unbestimmte Zeit vertagt wurde (S 181 ff/V). Nachdem das Oberlandesgericht Wien am 15. Juli 2003 die Entscheidung des Landesgerichtes Wiener Neustadt urgiert hatte (S 185a/V), wies dieses mit einem durch einen Senat von drei Richtern gefassten Beschluss vom 21. Juli 2003, GZ 39 Hv 528/01w-209, den Antrag der Annemarie H*****, ihr für die in der Zeit vom 6. April 1998, 18.00 Uhr, bis zum 4. März 1999, 10.00 Uhr, erlittene strafgerichtliche Anhaltung einen Ersatz gemäß § 2 Abs 1 lit b StEG zu gewähren, ab (S 187 ff/V). Zur Begründung führte es aus, dass eine Haftentschädigung nur dann gewährt werden könne, wenn ein gänzlicher Freispruch von allen Fakten, deretwegen die Haft verhängt worden war, erfolgt ist. Der der Staatsanwaltschaft durch Übermittlung des Aktes am 22. Juli 2003 und der Annemarie H***** zu eigenen Handen durch Hinterlegung am 24. Juli 2003 zugestellte Beschluss (S 195/V) erwuchs in Rechtskraft.

Rechtliche Beurteilung

Das Vorgehen und die Entscheidung des Landesgerichtes Wiener Neustadt stehen - wie der Generalprokurator in seiner zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt - mit dem Gesetz nicht im Einklang.

Die grundrechtskonforme Auslegung der Verfahrensbestimmung des § 6 StEG verlangt die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung und die öffentliche Verkündung der Entscheidung über die Entschädigung für strafgerichtliche Anhaltung und Verurteilung (15 Os 136, 137/00, 13 Os 54,55/00, jeweils mit Nennung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte).

Die nach § 6 Abs 3 erster Satz StEG geforderte Anhörung der Angehaltenen hat öffentlich stattgefunden (ON 208) und genügte dem Gebot des "public hearing" im Sinn des Art 6 Abs 1 EMRK. Zusätzliche Erhebungen - die nach den Regeln eines fairen Verfahrens eine ergänzende Anhörung der Anspruchswerberin erfordert hätten - haben zwischen Verhandlung und Entscheidung nicht stattgefunden. Inwieweit sich der Beschluss der Ratskammer auf die Ergebnisse der öffentlichen Anhörung gründet, ist - entgegen der Ansicht der Generalprokuratur - eine Frage der Entscheidungsbegründung, die von dem in der Beschwerde postulierten Formalerfordernis einer zusätzlichen öffentlichen Verhandlung nicht berührt wird.

Im Sinn der Judikatur des EGMR ist die Beschwerde jedoch im Recht, soweit sie die unterlassene öffentliche Verkündung der Entscheidung rügt.

Nach § 2 Abs 1 lit b StEG besteht ein Ersatzanspruch gegen den Bund dann, wenn der Geschädigte wegen des Verdachtes einer im Inland zu verfolgenden strafbaren Handlung von einem inländischen Gericht in vorläufige Verwahrung oder in Untersuchungshaft oder auf dessen Ersuchen in Auslieferungshaft genommen und in der Folge in Ansehung dieser Handlung freigesprochen oder sonst außer Verfolgung gesetzt worden ist und - im zweitgenannten Fall (vgl 15 Os 136, 137/00) - der Verdacht, dass der Geschädigte diese Handlung begangen habe, entkräftet oder die Verfolgung aus anderen Gründen ausgeschlossen ist, sofern diese schon zur Zeit der Anhaltung bestanden haben. Ist in den Fällen des § 2 Abs 1 lit b StEG gegen den Geschädigten während der Anhaltung wegen des Verdachtes einer anderen gerichtlich strafbaren Handlung, der eine Anhaltung begründet hätte, ein Verfahren geführt worden, so besteht nach Abs 2 leg cit ein Ersatzanspruch für den nach Einleitung dieses Verfahrens gelegenen Teil der Anhaltung nur dann, wenn die im Abs 1 lit b bestimmten Voraussetzungen auch für eine in diesem Verfahren erfolgte Anhaltung gegeben wären.

Sohin vermag der Schuldspruch des Angeklagten wegen einer Tat, die nicht den Anlass zu seiner Verhaftung gab, den Ersatzanspruch nicht auszuschließen; vielmehr hat der Schuldspruch wegen einer solchen Tat keinen Einfluss auf den Ersatzanspruch für den bis zur Einleitung des Verfahrens wegen dieser Tat gelegenen Teil der Anhaltung. Im vorliegenden Fall ist daher hinsichtlich des anderen Teils der Ersatzanspruch ab dem Zeitpunkt der Einleitung des Verfahrens wegen der vom Schuldspruch umfassten Taten gesondert zu prüfen, wobei insbesondere zu berücksichtigen ist, ob „eine Anhaltung wegen dieser Handlung(en) nur deshalb unterblieben ist, weil" die Geschädigte „sich ohnehin schon in Haft befunden hat" (1197 BlgNR XI.GP S 10). Der Schuldspruch der Annemarie H***** erfasst keine der strafbaren Handlungen, deretwegen sie am 6. April 1998 in Frankreich festgenommen worden war, sondern (nur) einen zahlen- und gewichtsmäßig geringen Teil der Verfehlungen, die vom ergänzenden Haftbefehl vom 10. Juli 1998 umfasst waren. Die für den Fall der Uneinbringlichkeit der hiefür verhängten Geldstrafe ausgesprochene Ersatzfreiheitsstrafe wird von der angerechneten Vorhaft bei weitem übertroffen.

Diese Umstände wurden vom Landesgericht Wiener Neustadt nicht berücksichtigt. Es waren daher die - zum Nachteil der Geschädigten erfolgten - im Spruch ersichtliche Gesetzesverletzungen festzustellen, der gemäß § 6 Abs 2 StEG gefasste Beschluss aufzuheben und dem Erstgericht die Verfahrenserneuerung unter Beachtung der oben genannten Kriterien aufzutragen.

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